Problemfall Sozialhilfe
Die Sozialhilfe ist für mehr als 230'000 Menschen in der Schweiz das letzte Auffangnetz. Doch Systemfehler und Imageprobleme machen ihr zu schaffen.
Als «Herr Zaki» im Januar vor dem Bezirksgericht Zürich stand, war es wieder einmal so weit: Die Sozialhilfe lieferte Schlagzeilen – wie üblich negative. «Zaki», wie der eingebürgerte Pakistani von den Medien launig genannt wird, hatte über Jahre mit seltener Dreistigkeit das System ausgetrickst und mehr als eine halbe Million Franken Sozialgelder erschlichen. Es folgte die obligate Begleitmusik der Leserbriefe, gehässig, hämisch, oft fremdenfeindlich – Sozialschmarotzer seien das, und zwar allesamt.
Diese Pauschalisierung ist ein Schlag ins Gesicht für fast eine Viertelmillion Menschen in der Schweiz: So viele sind es, die ohne die Sozialhilfe ins Bodenlose fallen würden. Mit Betrügern wie «Zaki» haben die allermeisten von ihnen nichts zu tun.
Viele verschlägt es schneller in diese Gruppe, als sie sich je vorgestellt hätten. Wie Doro Zühl. Die 44-Jährige mit den wachen Augen ist Mutter von drei Kindern, ausgebildete Pflegefachfrau, medizinische Masseurin, kosmetische Fusspflegerin. Sie war in den letzten 24 Jahren ununterbrochen in diesen Berufen tätig, in Anstellungen zwischen 50 und 100 Prozent, vorübergehend auch selbständig. Ein gut funktionierendes Mitglied der Gesellschaft.
Dann der Bruch. Nachdem sie sich aus einer unglücklichen Ehe befreit hat, wird sie im April 2010 zum ersten Mal arbeitslos. Sie meldet sich beim RAV und bemüht sich während sechs Monaten um eine neue Stelle. Weil ihr Expartner seinen Unterhaltspflichten nicht nachkommt, ist sie auf Alimentenbevorschussung angewiesen. Existenzängste und die schwierige Familiensituation bringen sie schliesslich an ihre Grenzen. «Ich war zunehmend erschöpft und überfordert», sagt Zühl. Sie erleidet ein Burn-out und wird krankgeschrieben. Nach 40 Tagen stellt die Arbeitslosenversicherung die Krankentaggeldzahlungen ein. Es folgt der Gang aufs Sozialamt.
Zühl bezieht von Februar bis Mai 2011 jeweils 3300 Franken im Monat für sich und ihre Kinder. «Dank der raschen Unterstützung durch den Sozialdienst wurde ich schnell so weit gesund, dass ich wieder arbeitsfähig war», sagt sie. Im August findet Zühl eine 60-Prozent-Stelle bei einer Spitex und ist dort seit Anfang 2012 fest angestellt. Obwohl sie sich derzeit mit neuen gesundheitlichen Beschwerden auseinandersetzen muss, schafft es Doro Zühl, ihre Familie finanziell über Wasser zu halten.
Vom sicheren Ufer ist sie aber noch weit entfernt: Weil ihr als Mitglied einer Erbengemeinschaft ein Fünftel ihres Elternhauses in Deutschland gehört (im Wert von rund 30'000 Euro), betrachtet sie die Zürcher Sozialbehörde als rückerstattungspflichtig – das heisst, sie sollte die bezogenen 13'000 Franken umgehend zurückzahlen. Zühl beklagt sich nicht: «Ich finde es gerecht und fair, dass man die erhaltene Unterstützung zurückzahlen muss, wenn man das Geld hat – das Problem ist, dass durch meine finanziellen Schwierigkeiten die Beziehung zu meinen Geschwistern zeitweise belastet war.» Diese können Zühl wegen eigener finanzieller Verpflichtungen nicht auszahlen. Die engagierte Frau hat deshalb mit dem Sozialdienst ausgehandelt, dass sie die bezogenen Leistungen ab Januar 2013 in monatlichen Raten von 200 Franken von ihrem Lohn abstottern wird – angesichts ihres äusserst knappen Budgets eine zusätzliche Belastung.
Diese Praxis steht im Widerspruch zu den Richtlinien des Fachverbands SKOS, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (siehe «Die Sozialhilfe-Richtlinien» am Ende des Artikels). Sie besagen, dass aus späterem Erwerbseinkommen keine Rückerstattung geltend gemacht werden sollte. Denn oft stehen Leute, die von der Sozialhilfe weggekommen sind, finanziell auf wackligen Beinen und geraten leicht wieder ins Stolpern. Mit dem Austritt aus der Sozialhilfe fallen nämlich auch Unterstützungsleistungen weg. So kann es sein, dass trotz neuer finanzieller Unabhängigkeit plötzlich noch weniger Geld zur freien Verfügung bleibt als in der Phase, in der Sozialhilfe bezogen wurde.
Experten sprechen in diesem Zusammenhang von «Schwelleneffekten» und «negativen Erwerbsanreizen» (siehe «Die Systemfehler» nach diesem Absatz). Doro Zühl kennt das: «Wirtschaftlich ging es mir mit der Sozialhilfe nicht schlechter als mit dem Arbeitslosengeld – im Gegenteil: Das Sozialamt übernahm zum Beispiel den Selbstbehalt meiner Arztrechnungen. Es gab Momente, in denen ich mich fragte, wozu ich überhaupt wieder Arbeit suchen sollte.» Anderseits: «Mein Job gibt mir so viel: Herausforderung, Kolleginnen und die Bestätigung, dass ich in der Lage bin, meine Familie zu ernähren», sagt Zühl.
Frei verfügbares Einkommen pro Jahr am Modell eines alleinstehenden Mannes mit Alimentenpflicht
Frei verfügbares Einkommen pro Jahr am Modell von zwei Erwachsenen mit zwei Kindern
Im Instrumentarium der sozialen Sicherheit nimmt die Sozialhilfe eine Sonderstellung ein: Sie ist das verschmähte Stiefkind. Faktisch kommt ihr zwar durchaus die Bedeutung eines Sozialwerks wie der Invalidenversicherung (IV) oder der Arbeitslosenversicherung (ALV) zu, doch im politischen und rechtlichen Gefüge ist sie nur schwammig positioniert. Sie wird nicht durch ein verbindliches nationales Gesetz geregelt, es gibt lediglich die empfehlenden SKOS-Richtlinien. «Die Sozialhilfe ist kein gleichwertiger Partner der nationalen Sicherungssysteme», sagt SKOS-Geschäftsführerin Dorothee Guggisberg. Fatal, denn eine bessere Verzahnung mit anderen Bereichen, namentlich mit IV und ALV, «ist nötiger denn je». Nur so liessen sich Systemfehler wie Schwelleneffekte und negative Erwerbsanreize beheben.
Nun kommt der Sozialhilfe die Politik zu Hilfe – wenn auch zögerlich. Im März hat die Nationalratskommission für soziale Sicherheit und Gesundheit eine Motion verabschiedet, die ein Bundesrahmengesetz für die Sozialhilfe fordert. Damit ist ein altes Anliegen der SKOS bereit zur Behandlung im Parlament, das bislang chancenlos war. Den Meinungsumschwung führt Thomas Weibel, grünliberaler Zürcher Nationalrat und Erstunterzeichner des Vorstosses, auf die gewachsene Komplexität der Sozialhilfe zurück: «Aufgrund der Schnittstellen zu anderen Sozialversicherungen ist die Bürokratie grösser geworden, da braucht es ein gewisses Mass an Koordination und Einheitlichkeit.»
Wie genau ein künftiges Bundesrahmengesetz aussehen soll, ist freilich offen. Die Frage ist: Geht es bloss um klarere Verfahrensvorschriften? Oder auch um neudefinierte materielle Standards zur Existenzsicherung?
Nicht gerüttelt werden soll an der Zuständigkeit der Kantone und Gemeinden. Diese ist vorteilhaft, um in der praktischen Arbeit auf die lokalen Begebenheiten eingehen zu können. Und sie ist relevant in Bezug auf die Finanzierung: Solange die Sozialhilfe über kantonale und kommunale Budgets läuft, muss sie auf Bundesebene kein Defizit rechtfertigen; das macht sie politisch weniger angreifbar. Doch zugleich kommen die unter Spardruck stehenden nationalen Sicherungssysteme in Versuchung, sich auf Kosten der Sozialhilfe zu entlasten.
Unbestritten ist: Ein Rahmengesetz würde die Sozialhilfe auf ein stabileres Fundament stellen. Eine solche Stärkung ist nötig. Denn angesichts der unsicheren Konjunkturlage und der immer restriktiveren Praxis der vorgelagerten Sozialwerke steht die Sozialhilfe vor grossen Herausforderungen. An der Front schlägt das bereits durch: «Die Auswirkungen der letzten IV-Revisionen spüren wir deutlich. Wir haben mehr Fälle von Leuten, die weniger oder gar keine Rente mehr erhalten und deshalb bei uns landen», sagt Marco Werlen, Berater auf dem Sozialamt der Stadt Bern. «Es ist eine Umlagerung von der IV zum Sozialamt im Gang.» Eine Stichprobe der Zeitung «Sonntag» bei 14 Sozialdiensten hat kürzlich ergeben, dass an zehn dieser Orte die Sozialfälle zum Teil deutlich zunehmen – ein alarmierendes Signal.
In der offiziellen Statistik, die bis ins Jahr 2010 zur Verfügung steht, lässt sich ein solcher Trend noch nicht festmachen. Die Zahl der Sozialhilfebezüger verharrte in den letzten fünf, sechs Jahren relativ stabil bei rund 230'000 Personen oder drei Prozent der Gesamtbevölkerung (siehe nachfolgende Grafiken). Für sie wurden zuletzt Unterstützungszahlungen von knapp 1,95 Milliarden Franken pro Jahr erbracht – wirtschaftliche Sozialhilfe im engeren Sinn, ohne Ergänzungsleistungen. Das sind zwar fast 50 Prozent mehr als 2003, doch ist der Betrag erheblich tiefer als etwa die Ausgaben der IV von 9,2 Milliarden im Jahr 2010.
Auf mittelfristige Prognosen über die Fallzahlen lassen sich die Experten nur vorsichtig ein. «Ganz sicher keine Abnahme» erwartet Dorothee Guggisberg von der SKOS. Sie stellt fest, dass es für die Klienten der Sozialhilfe immer schwieriger wird, «sich in andere Sozialversicherungen abzulösen oder gar die Rückkehr in den ersten Arbeitsmarkt zu schaffen». Das bedeutet für die künftige Sozialhilfe: tendenziell mehr Fälle sowie schwierigere und länger anhaltende. Bis heute liegt die mittlere Bezugsdauer bei neun Monaten. Nur knapp ein Fünftel der Fälle (19 Prozent) sind Langzeitbezüge von drei und mehr Jahren.
Wie lang auch immer: Hinter jedem dieser Dossiers steht eine menschliche Beziehung – zwischen dem Bezüger und dem für ihn zuständigen Sozialbeamten. Und oft ist diese ungewollte Liaison vergiftet, geprägt von gegenseitigem Misstrauen.
Auch bei Felix Ottiger hat sich in den drei Jahren, in denen er Sozialhilfe bezieht, viel Groll angesammelt. «Schikaniert, heruntergemacht, unter Generalverdacht gestellt» fühlt sich der 51-Jährige aus Gipf-Oberfrick AG. Das sind starke Worte für einen, der alles andere als ein Polteri ist. Ruhig und mit knappen Gesten erzählt Ottiger seine Geschichte, die mehr ein Ab als ein Auf ist, geprägt von Arbeitslosigkeit, Krankheit und einem Schuldenberg nach der Scheidung. Kurzhaarschnitt, randlose Brille, blaues Hemd – eine gepflegte Erscheinung, genauso wie Sabine Gisiger, Ottigers 40-jährige Lebenspartnerin. Sich nicht gehenzulassen und trotz der materiellen Armut ein möglichst geordnetes Leben zu führen, das ist ihnen wichtig.
Das Paar verbindet ein gemeinsames Los. Beide verloren 2006 die Stelle, weil ihre gesundheitlichen Probleme immer grösser wurden: Epilepsie und ein kaputter Rücken bei Ottiger, Fibromyalgie – eine chronische Erkrankung der Muskeln und Sehnen – bei Gisiger. Bei beiden genügte das Krankheitsbild nicht für eine IV-Rente, aber es verhinderte, dass sie einen neuen Job fanden: eine fast schon klassische Spirale nach unten, die beide zum Sozialamt führte. Heute müssen sie zurechtkommen mit jeweils etwa 700 bis 800 Franken, die ihnen netto ausbezahlt werden; dass sie günstig in Gisigers Elternhaus wohnen können, ist ein Glücksfall. Die gelernte Coiffeuse hat ein kleines Pensum in einem Brockenhaus gefunden. Felix Ottiger, von Haus aus Mechaniker, versucht, sich ein Standbein als Energieheiler aufzubauen. Doch die Erträge daraus sind minim – und werden bis auf den letzten Franken von der Sozialhilfeleistung abgezogen.
Diese Formalien sind es aber nicht, die Ottiger im Umgang mit dem Sozialamt im Dorf, wo jeder jeden kennt, zu schaffen machen. Es ist vielmehr das Unterschwellige, dieser unausgesprochene Vorwurf, er bemühe sich zu wenig, um selber wieder auf die Beine zu kommen. «Doch ich bin nicht faul, wie mir unterstellt wird, sondern krank. Und so etwas sucht man sich ja nicht aus.» Welche Hypothek das auf dem Arbeitsmarkt ist, stellten ausgerechnet die Behörden von Gipf-Oberfrick unter Beweis: Als die Gemeinde im Herbst 2010 die Stelle eines Hüttenwarts ausschrieb, gab es genau eine ernsthafte Bewerbung – jene von Ottiger. Doch man wolle «die Möglichkeit einer Auswahl», schrieb ihm der Gemeinderat. Drei Monate später hatte sich der gewünschte zweite Bewerber gemeldet – und bekam den Job prompt. «Viel deutlicher kann man mir nicht das Gefühl geben, Abschaum zu sein», sagt Ottiger bitter.
Woran liegt es, dass sich Sozialhilfebezüger und -behörden häufig nicht grün sind? Walter Noser, Experte für Sozialfragen beim Beobachter-Beratungszentrum, ortet die Ursache zum einen bei den Rahmenbedingungen. Vieles sei unscharf geregelt und lasse einen entsprechend grossen Interpretationspielraum zu: «Das verunsichert, und zwar beide Seiten.» Hinzu kommt, dass die Sozialhilfe in ganz persönliche Lebensbereiche eingreife. In keinem anderen Bereich müsse man als Bezüger einer Leistung so viel von sich preisgeben, das verstärke das Gefühl des Ausgeliefertseins. Ganz menschliche Reaktionsweisen also: «Sozialhilfe ist das unterste Netz. Wer im Netz hängt, beginnt zu strampeln – und wer strampelt, schlägt oft wild um sich.»
Noser, früher selber Sozialarbeiter, gehört in der Deutschschweiz wohl zu jenen, die am besten wissen, wie es um die Gefühlswelt von Sozialhilfebezügern steht. Denn neben der Hotline des Beobachters gibt es kaum andere unabhängige Anlaufstellen für ihre Fragen und Nöte.
«Anders als bei Behindertenorganisationen, die aus IV-Beiträgen unterstützt werden, gibt es für die Beratung von Armutsbetroffenen keine staatlichen Gelder», sagt der Zürcher Rechtsanwalt Pierre Heusser. «Gerade da wäre ein Bundesrahmengesetz mit einem Finanzierungsartikel ein Riesengewinn.» Heusser ist Mitglied und Vertrauensanwalt der IG Sozialhilfe, eines privaten Vereins, der sich aus Spenden finanziert – eine der wenigen Organisationen, die sich um Anliegen von Armutsbetroffenen kümmern. «Erschwerend kommt hinzu, dass Betroffene oft nicht einmal für sich selber einstehen, weil sie Repressionen der Behörden befürchten», so Heusser. Mit Kritik schaffe man sich beim Sozialamt keine Freunde, müsse dann aber wieder dorthin, um Geld zu holen: «Manche Leute wehren sich deshalb nicht, obwohl sie ganz klar im Recht sind. Das dürfte in einem freien Rechtsstaat nicht passieren.»
Dass die Sozialhilfebezüger keine funktionierende Lobby haben, hängt für Heusser damit zusammen, dass sie im Alltag nicht sichtbar seien: «In der Schweiz können Sie arm sein, ohne dass Ihr Nachbar etwas merkt.» Zudem haben die Missbrauchsfälle der letzten Jahre Sozialhilfebezüger zu gesellschaftlichen Sündenböcken gemacht – «Zaki» und Konsorten schaden also vor allem jenen, die wirklich Sozialhilfe brauchen. Sich als solcher zu erkennen zu geben sei mit gesellschaftlicher Ächtung und entsprechenden Ängsten verbunden: «Es ist ein Coming-out – überspitzt gesagt: Sozialhilfebeziehende sind die Schwulen und Lesben von heute.» Der letzte Schritt zum Eingeständnis fällt Betroffenen schwer, wie eine aktuelle Untersuchung der Berner Fachhochschule zeigt: Im Schnitt vergehen mehr als drei Monate, bis sich Bedürftige ihre finanzielle Not eingestehen und sich zum Gang aufs Sozialamt durchringen. Lieber halten sie sich noch eine Zeitlang mit ihrem privaten Netzwerk über Wasser.
Wie gross das Stigma ist, vom Sozialamt abhängig zu sein, zeigt das Beispiel von Andreas Stauffer (Name geändert). Er will nicht mit seinem richtigen Namen in diesem Artikel erscheinen, weil er Angst hat, dass das seinem «neuen Leben» schaden könnte, seiner frisch zusammengerauften und wiedererstarkten Ehe. Und, am wichtigsten, weil er Panik hat, dass seine neuen Geschäftspartner das Vertrauen in ihn verlieren könnten: «Als Sozialhilfebezüger ist man abgestempelt, das ist leider immer noch so, ein Tabu, vor allem im Business.»
Stauffer führte ein Leben wie aus dem Bilderbuch. Nach dem Studium machte der heute 48-jährige Elektroingenieur Karriere in einem Grosskonzern, gründete eine Familie, kaufte ein schönes Haus auf dem Land und brachte jährlich 150'000 Franken heim. Zehn Jahre ging alles gut, dann reizte ihn etwas Neues, und er machte sich als Personalberater selbständig.
Doch nach fünf Jahren musste er Konkurs anmelden: «Ich war wirtschaftlich und körperlich am Ende.» Stauffers Ehe zerbrach an den finanziellen und gesundheitlichen Problemen, immer wieder musste er stationär in die Klinik eingeliefert werden, war monatelang arbeitsunfähig. Als das Vermögen aufgebraucht war, war der Weg zum Sozialamt unausweichlich. «Nur ganz enge Freunde und Verwandte wussten Bescheid», sagt Stauffer. Seine Schwiegereltern akzeptierten den sozialen Abstieg nicht und brachen den Kontakt zu ihm und den drei Kindern ab. «Als Sozialhilfebezüger wird man fallengelassen, gilt als Verlierer. Das ist hart.» Nur sein Vater habe stets an ihn geglaubt, «er sah immer den Menschen, seinen Sohn in mir, nicht den Verlierer». Das habe ihm enorm geholfen.
Stauffer bezeichnet sich als «Stehaufmännchen», lässt sich nicht so schnell unterkriegen. Seine stechend blauen Augen blitzen, wenn er über seine Zeit als Sozialhilfebezüger berichtet. Ein Akademiker auf dem Sozialamt, das sei eine Sensation gewesen in dem kleinen Dorf auf dem Land, wo er lebte. Und dass sich dann auch noch einer wehrt gegen Beschlüsse der Behörde, so etwas hatte es noch nie gegeben. «Einmal sagte der Gemeindepräsident vieldeutig zu mir, man sehe mich zu oft im Café.» Diese Überheblichkeit, der Dorffilz, die Willkür – Stauffer regt sich immer noch auf. Seine Frau habe als Tagesmutter ein Kind betreut und so rund 800 Franken im Monat dazuverdient. «Das Sozialamt hatte nichts Besseres zu tun, als der Mutter des Kindes zu berichten, dass wir Sozialhilfe beziehen – die Frau platzierte das Kind um, und wir verloren ein sicheres Einkommen.» Und das trotz Datenschutz. «Ein Skandal», findet Stauffer.
Nur aus eigener Kraft und mit Hilfe der Psychologen habe er den Weg heraus aus der Sozialhilfe gefunden. «Auf dem Amt half mir niemand.» Heute leitet Stauffer als Geschäftsführer eine Personalfirma, seine Sozialhilfekarriere kennt dort niemand. «Es kann jeden treffen, man ist schneller bei der Sozialhilfe, als man meint», sagt er. Und trotzdem will er nicht öffentlich zu seiner Geschichte stehen. Die Angst überwiegt, wieder mit Vorurteilen und Vorverurteilungen leben zu müssen – auch von amtlicher Seite.
Auch Jacqueline Bäumler hat es geschafft, wieder aus der Sozialhilfe herauszufinden. «Meine Sozialberaterin hat gestaunt, dass ich nach einem Jahr schon wieder auf eigenen Füssen stehe», erzählt die 34-Jährige aus Oberburg BE. Normalerweise seien Alleinerziehende deutlich länger auf Sozialhilfe angewiesen. Bäumler hat aber auch viel selber beigetragen, sich etwa intensiv um eine Stelle bemüht. «Ohne aktive Mitwirkung kommt niemand aus der Negativspirale raus», sagt sie. Mitwirkung: So verlangt es auch das Gesetz.
Die gelernte Pflegefachfrau und Stillberaterin Bäumler arbeitete nach der Geburt der beiden Töchter mit einem halben Pensum als Krankenschwester. Sie glitt in eine Erschöpfungsdepression ab, musste mehrere Wochen in die Klinik. Auch dank den Ärzten merkte sie, dass sie ihr Leben ändern musste. Eine Konsequenz davon: die Trennung vom Lebenspartner und Vater der Kinder. «Ich habe das lange hinausgezögert, weil ich wusste, dass ich dann erst mal aufs Sozialamt muss.» Sie habe sich geschämt, vom Staat abhängig sein zu müssen, hatte Existenzängste, fühlte sich sehr allein.
Der Sozialdienst beschied ihr als Erstes, sie müsse für sich und die Kinder eine billigere Wohnung suchen: «Das war schwierig, aber wir sind jetzt glücklich am neuen Ort.» Ihre Beraterin auf dem RAV, wo Bäumler gleichzeitig angemeldet war, sei auf sie eingegangen und habe sie gut unterstützt. Im Januar bekam sie die Zusage, ihre Traumstelle als Praxisassistentin bei einer Kinderärztin zu erhalten; momentan ein 40-Prozent-Pensum, das Ziel sind 50 Prozent. Vom Verdienst kann die Familie knapp leben. «Ich habe immer an mich geglaubt und Hilfe angenommen», sagt sie. «Das muss man zulassen, allein schafft das niemand.»
Heute ist Jacqueline Bäumler stolz, sich wieder aufgerappelt zu haben. Mit dem Existenzminimum zu leben sei hart: «Dauernd musste ich den Kindern sagen: ‹Das geht nicht.› So etwas tut weh.» Aber die Erfahrung war auch ein Lehrblätz, findet sie: «Eigentlich sollten alle Menschen einmal durchmachen, was es bedeutet, am Abgrund zu stehen.»
Unser Sozialsystem
Das System der sozialen Sicherheit in der Schweiz ist subsidiär (unterstützend) aufgebaut. Es besteht aus mehreren Stufen, die voneinander abhängig sind. Zuunterst steht die Sozialhilfe im engeren Sinn, also die unmittelbaren Unterstützungsleistungen zur Existenzsicherung.
1. Grundversorgung
Zum Beispiel Bildungssystem, Rechtssystem, Gesundheitssystem
2. Sozialversicherungen
- Alters- und Hinterlassenenversicherung AHV
- Invalidenversicherung IV
- Arbeitslosenversicherung ALV
- berufliche Vorsorge BV
- Unfallversicherung
- Krankenversicherung
- Mutterschaftsentschädigung MSE
- Familienzulagen
- andere
3. Bedarfsleistungen
- Ergänzungen der AHV/IV
- kantonale Beihilfen zu den Ergänzungsleistungen der AHV/IV
- Alimentenbevorschussung
- Elternschaftsbeihilfe
- Arbeitslosenhilfe
- Wohnkostenbeihilfe
- andere
Anteil der Sozialhilfeempfänger nach Nationalität
Anteil der Sozialhilfeempfänger nach Fallstruktur
Anteil der Sozialhilfeempfänger nach Lebensalter
Anteil der Sozialhilfeempfänger
nach Erwerbssituation (ab 15 Jahren
Anteil der Sozialhilfeempfänger nach Bildungsstand (ab 18 Jahren)
Nettoausgaben für die Sozialhilfe im weiteren Sinn, 2008.
Nachtrag: Am 24. Mai hat das Bundesamt für Statistik neue Zahlen über die Ausgaben für bedarfsabhängige Sozialleistungen publiziert. Demnach beliefen sich im Jahr 2010 die Kosten für die Sozialhilfe im engeren Sinn (ohne Ergänzungsleistungen etc.) auf 1,95 Millionen Franken. Gegenüber dem Wert von 2008 (1,79 Mrd.) entspricht dies einer Zunahme von rund 9 Prozent.
Anteil der Sozialhilfeempfänger an der Bevölkerung, nach Kantonen, Jahr 2010
Quelle: BFS/Sozialhilfestatistik 2010; Infografik: Beobachter/MB/DR
Die Sozialhilfe-Richtlinien
Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ist ein Fachverband, der sich für die Ausgestaltung und Entwicklung der Sozialhilfe engagiert. In der SKOS sind Gemeinden, Kantone, Bund sowie private Organisationen des Sozialbereichs vertreten. Die von ihnen erarbeiteten SKOS-Richtlinien definieren, wie die Sozialhilfe im Einzelfall berechnet wird. Das soll helfen, Rechtsgleichheit und -sicherheit über Gemeinde- und Kantonsgrenzen hinaus zu fördern. Die SKOS-Richtlinien sind aber nur Empfehlungen. Zwar orientieren sich die kantonalen Sozialhilfegesetze an den Vorgaben, vielerorts sind sie aber (noch) nicht verbindlich.
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