Zahlen müssen die andern
Weit über eine Milliarde Franken muss der Staat jedes Jahr wegen Steuerverlusten abschreiben – Tendenz zunehmend. Das geht auf Kosten der folgsamen Zahler.
Veröffentlicht am 2. August 2013 - 15:52 Uhr
Der Fall machte dicke Schlagzeilen: Die Gemeinde Egerkingen SO veröffentlichte im Juni die Namen von sechs Einwohnern, weil diese ihre Steuern nicht bezahlt hatten. «Wir wollten nicht länger zusehen, wie Einzelne den pflichtbewussten Steuerzahlern eine lange Nase machen», erklärt die Gemeindepräsidentin Johanna Bartholdi.
Zuvor hatte bereits die Androhung der Veröffentlichung gewirkt: Mit 62 seiner 68 notorischen Steuerschuldner hatte Egerkingen Lösungen gefunden. Die rechtlichen Konsequenzen der Pranger-Aktion nimmt Bartholdi in Kauf: Sie wurde wegen Verletzung des Amts- und Steuergeheimnisses angezeigt.
Ermittelt wird auch gegen das solothurnische Wolfwil. Denn die Gemeinde drohte 15 Steuerschuldnern mit dem Pranger. Nun prüft die Staatsanwaltschaft, ob das Nötigung sei. Finanziell hat sich auch für das kleine Wolfwil der Wink mit dem Zaunpfahl gelohnt: Die Steuerverluste reduzierten sich um über 200'000 Franken.
Die Egerkinger und die Wolfwiler sind nicht ohne Grund aktiv geworden: Die Steuerausfälle im Kanton hätten in «gravierender Weise» zugenommen, warnte das Solothurner Amt für Gemeinden – und versandte im April an alle Gemeinden einen Leitfaden mit möglichen Massnahmen. Einige Solothurner Ortschaften sind tatsächlich in Bedrängnis geraten und müssen Darlehen aufnehmen, um ihre laufenden Ausgaben zu decken.
Auch der Kanton Thurgau hat seine Bemühungen verstärkt, Ausstände bei der direkten Bundessteuer einzutreiben, und gibt dafür jährlich rund 1,2 Millionen Franken aus. Im Bericht der kantonalen Geschäftsprüfungs- und Finanzkommission ist die Rede von einer «besorgniserregenden Zahlungsmoral».
Gelassener ist die Einschätzung der Steuerverwaltung in Zürich, dem wirtschaftlich potentesten Kanton der Schweiz. Hier werden die abgeschriebenen 30,5 Millionen Franken in Beziehung zu den Gesamteinnahmen bei den Staatssteuern gesetzt: Die Quote liegt bei 0,55 Prozent – mit langfristig sinkender Tendenz. 0,7 Prozent oder 16 Millionen Franken betragen die Verluste in der Stadt Zürich. «Es schwankt in den letzten zehn Jahren zwischen 12 und 16 Millionen», sagt Bruno Fässler, Chef des städtischen Steueramts. «Mit der Diskussion um die Steuermoral ist es halt wie mit der jeweiligen Einschätzung der heutigen Jugend – da klagt auch jede Generation, es werde immer schlimmer.» Fässler spricht von einem «harten Kern» von fünf Prozent der Steuerpflichtigen, die man immer wieder betreiben müsse, und von 10 bis 15 Prozent, die Zahlungsschwierigkeiten hätten.
Doch wie steht es in diesem Land nun wirklich mit der Zahlungsmoral bei den Steuern? Zu den Verlusten bei Bund, Kantonen und Gemeinden gibt es keine genauen Gesamtzahlen. Als Richtwert gilt: Übers ganze Land werden jedes Jahr rund ein Prozent der Steuern als «uneinbringlich» abgeschrieben. Das sind rund 1,3 Milliarden Franken. Die Steuerlast für die folgsamen Zahler könnte um diesen Betrag geringer sein, wenn alle ihrer Steuerpflicht nachkämen.
Der Beobachter hat beim Bund und bei zwölf Kantonen nachgefragt: Wie hoch waren die Steuerverluste im letzten Jahr? Wie hoch über die letzten zehn Jahre? Wie viele Steuererlasse, Mahnungen und Betreibungen wurden ausgestellt?
Die eingegangenen Antworten zeigen: Die Daten werden nicht überall gleich erfasst, und Grundstücksgewinn-, Erbschafts-, Schenkungs- sowie Nach- und Strafsteuern sind mal berücksichtigt, mal nicht. Zudem sind Steuerverluste und Abschreibungen nicht überall identisch. Und einige Kantone konnten oder wollten nicht alle Angaben liefern. Den Zuständigen im Kanton Thurgau war es beispielsweise zu anstrengend, die Abschreibungen der letzten zehn Jahre «aus den einzelnen Jahresabschlüssen herauszuziehen». Aus Basel-Stadt hiess es, einige Angaben seien «nicht sofort abrufbar». Und der Bund weiss nicht, wie hoch seine Verluste bei der direkten Bundessteuer sind, weil das Inkasso bei den Kantonen liegt und nur die abgelieferten Steuern verbucht werden.
Trotzdem lässt sich aus den Antworten der Stichprobe vieles herauslesen über säumige Steuerzahler in der Schweiz (siehe auch Tabelle auf der dritten Seite):
Der Bund hat im letzten Jahr 172,1 Millionen Franken Steuerverluste bei der Mehrwertsteuer und 23,4 Millionen bei den Verrechnungssteuern und Stempelabgaben abgeschrieben respektive erlassen. Über die letzten zehn Jahre betragen die Ausfälle allein bei der Mehrwertsteuer 2,14 Milliarden. Eindrücklich auch die Flut von Zahlungsbefehlen, um ausstehende Mehrwertsteuerbeträge einzutreiben: 51'000 im letzten Jahr, 479'000 übers letzte Jahrzehnt.
Bei den zwölf angefragten Kantonen addieren sich die Verluste für Kantonssteuern 2012 auf gegen 200 Millionen Franken. Ein Zehnjahresvergleich ist nur für zehn Kantone möglich – dabei macht der Fehlbetrag total 1,5 Milliarden Franken aus.
Detaillierte Zahlen präsentiert der Kanton Bern. 2012 wurden 51,3 Millionen Franken bei den Kantonssteuern abgeschrieben, 478,1 Millionen sind es seit 2003. Interessant: Nachdem die Steuern 2005 erhöht wurden, verdoppelten sich die Steuerverluste. Die Verlustscheine werden in Bern für Bund, Kanton und Gemeinden zentral bewirtschaftet – es sind 342'655 über insgesamt 2,06 Milliarden Franken. 110'800 Steuerpflichtige erhielten im letzten Jahr total 206'700 Zahlungserinnerungen, 50'000 Leute bekamen 84800 gebührenpflichtige Mahnungen, und 37'080 Personen wurden zusammengenommen 62'400-mal betrieben.
Basel-Stadt hat 2008 das steuerfreie Limit erhöht, also Geringverdiener entlastet. Seither sind die Ausfälle infolge von Verlustscheinen, Abschreibungen und Steuererlassen um rund 20 Prozent zurückgegangen, machten 2012 aber immer noch 41,3 Millionen Franken aus. 1888 Steuerpflichtigen wurden 2011 ihre Schulden ganz oder teilweise erlassen. Der gleiche Effekt ist im Kanton Aargau zu beobachten.
Komplette Daten zu Bundes-, Kantons- und Gemeindesteuern gibt es aus Luzern. Hier machen die erlassenen und «uneinbringlichen» Steuerbeträge für 2011 insgesamt 20,6 Millionen Franken aus, seit 2002 gesamthaft 242,5 Millionen. Mit durchschnittlich 1,22 Prozent der Steuererträge sind die Ausfälle bei den Gemeindesteuern deutlich höher als bei der direkten Bundessteuer (0,36 Prozent).
Solothurn listet Mahnungen, Betreibungen und Fortsetzungsbegehren von 2002 bis 2012 auf. Gab es 2002 erst 68'000 Inkassohandlungen, waren es 2012 mit 153'000 mehr als doppelt so viel. Das Spitzenjahr war 2008 mit 194'000 Inkassohandlungen.
In Graubünden stieg die Zahl der ersten Mahnungen für Bundes- und Kantonssteuern von 29'000 im Jahr 2000 sukzessive auf 45'000 im letzten Jahr.
Das Wallis erfasst nur die Betreibungsbegehren für die Kantonssteuern: Sie nahmen in den letzten zehn Jahren von 21'000 auf 30'000 zu.
Einen eindeutigen Trend verzeichnet auch der Dachverband Schuldenberatung (SBS): Die kantonalen Fachstellen haben letztes Jahr 5100 neue verschuldete Haushalte begleitet – rund 13 Prozent mehr als 2011. Die Überschuldung beträgt 47'000 Franken pro ratsuchenden Haushalt. Die Steuerschulden machen dabei mit insgesamt über 65 Millionen Franken im Vergleich zu den anderen Schuldenarten den grössten Brocken aus. Grund dafür sei, dass Schuldner lieber Bankkredite zurückzahlten, um die Kreditwürdigkeit nicht zu verlieren, so der Dachverband.
Bei Steuerschulden ist der Druck offenbar geringer. Die Schuldenberater empfehlen den Behörden, die monatlichen Raten für die Steuern bei der Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums zu berücksichtigen – wie das etwa der Kanton St. Gallen tut. Und sie schlagen eine Quellenbesteuerung vor. Dabei ziehen die Arbeitgeber die Steuern direkt vom Lohn ab und liefern sie den Kantonen ab.
Ein Postulat der Berner SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen will dasselbe: Der Bundesrat soll über die Erfahrungen mit der Quellensteuer berichten, die in der Schweiz von ausländischen Steuerpflichtigen ohne Niederlassungsbewilligung sowie Grenzgängern bezahlt werden muss (ausgenommen die Pauschalbesteuerten). Laut Kiener Nellen könnten damit «nicht bloss Steuerverluste in Millionenhöhe, sondern auch aufwendige Mahn-, Betreibungs- und Inkassoverfahren vermieden werden».
Die Angaben der Kantone in der Beobachter-Stichprobe zeigen, dass auch Quellensteuern abgeschrieben werden – allerdings vergleichsweise geringe Beträge: Im Aargau schwanken die Verluste in den letzten zehn Jahren zwischen 97'000 und 278'000 Franken, in Solothurn pro Steuerperiode zwischen 84'000 und 160'000 und in Zürich zwischen 980'000 und 4,8 Millionen Franken. Nur in Zürich sind die Abschreibungen bei der Quellensteuer in den letzten drei Jahren deutlich gestiegen.
Die Forderung nach Quellensteuern für alle Lohnbezüger ist im Parlament nicht neu. Bisher winkte der Bundesrat jeweils ab, weil er mehr Nach- als Vorteile sieht: Das Modell führe zu einer Verkomplizierung. Eher neckisch klingt angesichts der Milliardenabschreibungen im heutigen System das staatspolitische Argument der Landesregierung: «Nicht zuletzt würde bei einer Steuerentrichtung via Lohnabzug das Bewusstsein für die effektive Höhe der Steuerbelastung schwinden.»
Um säumige Steuerzahler zur Räson zu bringen, kommen Parlamentarier auf allerhand Ideen. So will der Solothurner CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt die rechtlichen Grundlagen für einen Steuerpranger klären. Sein im Juni eingereichtes Postulat fordert die Quadratur des Kreises, sollen doch Wege gefunden werden, «die Zielkonflikte zwischen Persönlichkeitsschutz und Steuerprellerei» aufzulösen.
Einen anderen Ansatz verfolgte bereits vor vier Jahren eine Motion des BDP-Nationalrats Martin Landolt. Der Glarner forderte, ausstehende Steuerschulden mit Führerausweisentzug zu sanktionieren. Damit könne der Staat Leistungen, die nicht existentiell notwendig seien, gegenüber denjenigen einschränken, die sich um ihre Verpflichtungen foutierten.
Bundesrat und Parlament lehnten die Motion allerdings ab: Steuerrecht und Verkehrssicherheit sollten nicht vermengt werden. Ähnlich hatte auch das Bundesgericht im Jahr 2001 entschieden, als die Stadt Olten einer Steuerschuldnerin die Abmeldungsbestätigung verweigerte. Diese Bestätigung brauchte die Ausreisewillige für die Freizügigkeitsleistung ihrer Pensionskasse. Das höchste Gericht erachtete die Verweigerung aber als «zweckfremdes Mittel zur Tilgung von Steuerschulden». Diese seien auf ordentlichem Weg einzutreiben. Im Ausland ist das jedoch nur möglich, wenn mit dem betroffenen Land ein entsprechender Staatsvertrag gilt.
Was also tun, wenn Mahnungen und Betreibungen nur Verlustscheine bringen und andere Methoden nicht statthaft sind? Bruno S. Frey, Professor für Verhaltensökonomie, zieht internationale Untersuchungen heran: Demnach heben Abschreckung und angedrohte Strafen die Steuermoral nicht. Viel entscheidender sei es, mitbestimmen zu können, wofür man die Steuergelder verwende, schreibt Frey in der Zeitung «Finanz und Wirtschaft». «Wenn der Staat Bürgerinnen und Bürger ernst nimmt und ihnen eine demokratische Mitsprache erlaubt, sind sie eher bereit, sich finanziell an den Staatsausgaben zu beteiligen.» Und: «Eine wohlwollende Behandlung durch den Steuerbeamten stärkt die Steuermoral.»
Steuerschulden
Wer seine Steuern nicht bezahlen kann, hat zwei Möglichkeiten: Er sucht um Steuererlass nach oder verlangt einen Zahlungsaufschub (Stundung).
- Für einen Steuererlass müssen Betroffene geltend machen können, dass sie in eine dauerhafte finanzielle Notlage geraten sind. Doch hier sind die Behörden in der Regel restriktiv.
- Bei einer Stundung bieten die Behörden meistens Hand zu Ratenzahlungen. Wer nicht auf die Steuerrechnung reagiert, bekommt je nach Kanton eine Zahlungserinnerung oder gleich eine erste Mahnung. Die Verzugszinsen laufen sofort, die Mahngebühren sind unterschiedlich hoch.
Bleibt auch die zweite Mahnung erfolglos, leiten die Steuerbehörden die Betreibung ein. Als Nächstes droht die Pfändung von Lohn oder Wertgegenständen. Ist auch so nichts zu holen, wird ein Verlustschein ausgestellt. Dieser ist 20 Jahre gültig. Wer also wieder zu Vermögen kommt, muss seine Steuerschulden noch nach Jahren begleichen.