Gescheiter scheitern
In Basel lernen Firmengründer, warum eine Pleite nicht das Ende für den Unternehmer bedeutet.
Veröffentlicht am 30. Januar 2018 - 11:55 Uhr,
aktualisiert am 30. Januar 2018 - 11:07 Uhr
Ein Winterabend in Basel. Auf dem nassen Asphalt spiegelt sich die Leuchtreklame einer Bar. Menschen in dicken Mänteln stehen davor und tauschen Visitenkarten aus. Sie sind gekommen, um sich Geschichten übers Scheitern anzuhören, vorgetragen von Unternehmern, die auf die Nase gefallen sind.
«FuckUp Night» heisst der Anlass in der alten Industriehalle hinter dem Bahnhof. Doch das klingt deprimierender, als es wird. «To fuck up» bedeutet: eine Sache so richtig vermasseln. Das haben alle getan, die auf der Rednerliste stehen. Dass das nicht zwingend schlecht sein muss, wusste Schriftsteller Samuel Beckett, lange bevor Tennisspieler Stan Wawrinka das berühmte Zitat auf seinen Unterarm tätowieren liess: «Try again, fail again, fail better» – versuchs noch mal, scheitere besser.
Dieses Mantra ist auch das Motto der Veranstaltung. Nach einer Runde Smalltalk – es gibt Chips und Weisswein – fällt das Mikrofon aus; Ironie des Schicksals. Und dann geht es los.
Den Anfang macht Rebecca Roberts, eine junge Frau aus dem Süden der USA, die seit einigen Jahren in Basel wohnt. Sie sagt ganz unverblümt: «Meine Niederlage war mein ganzes Leben.» Roberts war Innenarchitektin, Uber-Fahrerin, Expertin für Design. Jedes Mal, wenn sie am Zoll nach ihrem Beruf gefragt wurde, erzählte sie eine andere Geschichte.
Die Storys klangen zwar alle gut – doch für Roberts fühlten sie sich je länger, je falscher an. Sie hatte so viele Hüte getragen, dass sie eines Tages nicht mehr wusste, welcher ihr am besten stand. «Meine Karriere war zu meinem Leben geworden», sagt sie. «Ich hatte vergessen, wer ich bin.»
Roberts war erfolgreich, aber in ihrem Alltag herrschte Chaos. Schuld waren die Geschichten, ihr selbstgebastelter Käfig. Als sie ihre Hüte an den Nagel hängte, erlangte sie die Kontrolle über ihr Leben zurück. Heute arbeitet sie als «Anti-Storytelling-Coach». Ihre Firma heisst: Explore Truth – «erkunde deine Wahrheit». Die zwei Dutzend Zuhörer applaudieren begeistert.
Die erste «FuckUp Night» fand vor fünf Jahren in Mexiko statt, heute gibts auf der ganzen Welt Ableger. Vorbild für das Franchise war eine Veranstaltung, die schon seit 2009 existiert. Die «FailCon» wurde erstmals in San Francisco durchgeführt, dem Tor zum Silicon Valley. Im Epizentrum der Start-up-Kultur gilt Scheitern seit je als cool: Nur wer umfällt und wieder aufsteht, trägt den wahren Unternehmergeist in sich. Der amerikanische Gründermythos feiert in Kalifornien Urständ: Jeder kann es schaffen, wenn er wie die Pioniere bereit ist, seine Grenzen immer weiter zu pushen.
Aber es gibt auch Kritiker. Etwa den Schweizer Jonas Lüscher mit seinem Roman «Kraft», dessen Handlungsort die Umgebung von San Francisco ist. Den Glauben, dass im Silicon Valley selbst Scheitern zu einem Plus werden könne, wenn man es als Chance begreife, entlarvt er darin als das, was er ist: mehrheitlich Geschwätz.
Fakten zum Thema liefern diverse Studien. Sie kommen zum Schluss, dass von zehn Start-ups maximal eins so richtig durchstartet. Die anderen überstehen die ersten drei Jahre nicht. Drei Gründe werden dafür genannt: Niemand interessiert sich für das Produkt, Zoff im Team, kein Geld. Jede dritte Gründung wird zudem von jemandem getätigt, der bereits einmal eine Firma an die Wand gefahren hat. Try again, fail better. Vielleicht klopft ja beim nächsten Mal Google an und legt ein Übernahmeangebot auf den geleasten Bürotisch.
In der Schweiz steigt die Risikobereitschaft, wie aktuelle Zahlen belegen. Laut dem Institut für Jungunternehmen (IFJ) gab es 2017 so viele Firmengründungen wie noch nie. 43'453 neue Unternehmen wurden ins Handelsregister eingetragen, das sind fünf Prozent mehr als 2016. Gleichzeitig stieg die Zahl der Firmenkonkurse um 3,5 Prozent, zeigt ein Bericht des Gläubigerverbands Creditreform. Die knapp 4800 Pleiten seien der zweithöchste je gemessene Wert.
«Ich war zwar erfolgreich, aber in meinem Alltag herrschte Chaos.»
Rebecca Roberts hat zu viele Jobs gemeistert und sich dabei verzettelt.
Klassische Start-ups machen bei den Neugründungen allerdings nur einen kleinen Teil aus. Rund 300 sind es laut Simon May vom IFJ jedes Jahr, viele davon hätten einen engen Bezug zu den ETHs, den Unis oder den Fachhochschulen. Ihre Erfolgsaussichten sind in der Regel rosiger. 92 Prozent der ETH-Spin-offs überleben die ersten fünf Jahre.
In der Szene wird für Start-ups häufig folgende Definition benutzt: «technologie- und innovationsbasierte Gründungen mit disruptiven, skalierbaren Geschäftsmodellen, gepaart mit internationalen Wachstumsambitionen». Das klingt natürlich viel zu kompliziert. Deshalb halten sich Entrepreneure, die sich bei Geldgebern – Business-Angels genannt – Kapital beschaffen wollen, bei der Präsentation an den Start-up-Slogan schlechthin: «Wir wollen die Welt zu einem besseren Ort machen!»
Genau das wollte auch der nächste Redner an der «FuckUp Night» in Basel: «to make the world a better place». Zumindest für Anleger. Dumm nur, dass die Welt damals auf eine ihrer grössten Krisen zusteuerte. Aber das wusste Ralf Schlaepfer nicht, als er vor 20 Jahren eine Plattform gründete, mit der Krethi und Plethi in Firmen investieren konnten, die einen Börsengang planten. Solche Initial Public Offerings waren während des Dotcom-Booms Ende der neunziger Jahre an der Tagesordnung. Und viele Investoren wurden dabei sehr reich.
Doch als die Blase platzte, gab es keine Börsengänge mehr – und die Plattform wurde überflüssig. «Was wäre heute anders, wenn es geklappt hätte?», will einer im Publikum wissen. «Ich hätte vermutlich immer noch einen schnittigen Sportwagen», sagt Schlaepfer. Heute berät er erfolgreich Firmen in Sachen Digitalisierung – und hat bislang 13 Unternehmen gegründet oder mitgegründet.
Hiesige Start-up-Gründer fliegen gern an die US-Westküste, um sich dort mit dem Optimismus-Virus zu infizieren, das in jedem Coworking-Space in Palo Alto oder Mountain View grassiert. Dennoch ist Scheitern in der Schweiz nach wie vor ein Tabuthema. Über Rückschläge spricht man nicht. «Scheitern wird grundsätzlich wenig gelehrt», sagt Simon May vom IFJ. Als Gründer solle man sich konkrete Meilensteine setzen. Und ein Projekt – gerade in einem frühen Stadium – auch mal aufgeben.
In den USA gehe man mit Pauken und Trompeten unter. In der Schweiz dagegen «wird klammheimlich oder gar nicht gescheitert», sagt Stefan Flück, Gründer des Berner Start-ups Appentura. «Dabei bedeutet eine Pleite noch lange nicht das Ende für einen Unternehmer, sondern vielmehr den Anfang von etwas Neuem.»
In der Schweiz würden viele Gründer viel zu lange einen toten Gaul reiten, sagt Flück. Sprich: Man lässt das serbelnde Start-up weiterleben, obschon operativ kaum mehr was passiert. Im Internet sind diese lebenden Toten zwar noch mit einer Site präsent, Updates oder News gibts jedoch kaum mehr, und die Gründer haben sich längst neuen Projekten zugewandt oder eine «normale» Stelle angenommen, bei der Ende Monat sogar Lohn herausschaut. In den USA ist ein Start-up-Failure eine Auszeichnung, in der Schweiz ein Stigma.
Eine Ausnahme ist Peter Schüpbach aus Langenthal. Die Medien haben ihm das Label «Serial Entrepreneur» verpasst, er soll das Gründen einfach nicht seinlassen können. Über seine grösste unternehmerische Pleite spricht er offen. «Man lernt nie so viel wie beim Scheitern», sagt der 56-Jährige.
«Was heute anders wäre? Ich hätte wohl immer noch einen Sportwagen.»
Ralf Schlaepfer gründete eine Finanzplattform – dann platzte die Dotcom-Blase.
Der Aufstieg und Fall seiner in den achtziger Jahren gegründeten Firma Miracle gehört wohl zu den spektakulärsten Scheiter-Storys der Schweiz. Die Software, die Schüpbach zusammen mit seinem Bruder und ein paar Kollegen entwickelte, revolutionierte die Abläufe im Büro. Sie stellte eine Lösung für sämtliche betriebswirtschaftlichen Prozesse bereit, von der Lagerbewirtschaftung bis zur Lohnbuchhaltung.
Schüpbach und seinen Mitstreitern war klar, dass sie für den längerfristigen Erfolg das Ausland erobern mussten. Europa, die USA. Dafür brauchten sie Geld, das die Anleger noch so gern bereitstellten. Nach dem Börsengang stieg der Wert der Oberaargauer Firma in schwindelerregende Höhen. «Der Markt hat uns quasi über Nacht milliardenschwer gemacht», sagt Schüpbach. Und: «Vielleicht waren wir etwas naiv.» Auf jeden Fall reagierten die Investoren ungeduldig und erbarmungslos auf Fehler in der Software, von denen plötzlich die Rede war. Fehler, die man leicht hätte korrigieren können, wenn die Verantwortlichen genügend Zeit gehabt hätten.
Hatten sie aber nicht. Nachdem Miracle die hochgesteckten Ziele verpasst hatte, drehten die Banken den Geldhahn zu, 14 Jahre nach der Gründung wurde das Unternehmen liquidiert.
Scheitern, sagt Peter Schüpbach, sei überhaupt keine lustige Erfahrung. «Man muss vor den Richter und bekommt von der Gesellschaft den Stempel des Pleitiers aufgedrückt.» Doch davon gehe die Welt nicht unter. Wichtig sei eine saubere und korrekte Abwicklung der Firmenauflösung. Sonst sei es praktisch unmöglich, wieder Fuss zu fassen. Man kennt sich in der überschaubaren Schweizer Gründerszene.
Schüpbach ist es gelungen. Nach dem Untergang von Miracle war er an der frühen Facebook-Konkurrenz StudiVZ in Deutschland beteiligt, baute die Online-Modeboutique FashionFriends auf, verkaufte sie wieder und investierte in verschiedene Internetfirmen in der Schweiz und im Ausland.
«In meiner Heimat ist Scheidung eine Sünde. Doch für mich wars eine Befreiung.»
Barbara Roux-Levrat musste sich eingestehen, dass ihre Ehe gescheitert war.
Heute betreibt er, wieder in seiner Heimat Langenthal, ein E-Commerce-Start-up mit Fokus auf Nischenmärkte. Daneben steht Schüpbach anderen Start-ups zur Seite – als Mentor mit Rat, als Business-Angel mit Geld. Er könnte sich zur Ruhe setzen, seine Tage auf dem Golfplatz verbringen. Doch das will er nicht. «Neues fasziniert mich mehr, als Bestehendes zu managen.»
Die letzte Rednerin des Abends ist Barbara Roux-Levrat. Sie erzählt von ihrer gescheiterten Ehe. Für die Frau mit südamerikanischen Wurzeln bedeutete eine Scheidung lange Zeit die grösstmögliche Sünde. «Man fährt direkt in die Hölle.» Deshalb hat ihr Leidensweg fast 20 Jahre gedauert. Sie liess sich von ihrem Gatten kleiner machen, als sie war, stellte ihre Wünsche und Pläne stets hintan. «Das Gummiseil spannte sich jeden Tag, bis es weh tat, dann entspannte es sich wieder.» Eines Tages aber riss es, und sie sagte sich: «Du verdienst etwas Besseres.»
Der Schlussstrich unter die Beziehung habe sich erst wie eine riesige Niederlage angefühlt: «So viel Scham, so viel Enttäuschung.» Bald aber habe sich herausgestellt, dass der Entscheid ein Segen war, die Geburtsstunde ihrer Lebensmission. Heute hilft sie als Coach mit ihrer Firma Emotional Strength anderen Frauen, stark zu sein. In Fahrt gekommen, zitiert Barbara Roux-Levrat nun auch noch Paulo Coelho: «Das Universum wirkt darauf hin, dass du alles erreichen kannst.» Was als «FuckUp Night» angekündigt war, fühlt sich jetzt fast an wie eine Predigt – oder ein Treffen der anonymen Scheiterer. «Yes!», sagt Roux-Levrat und lacht herzhaft: «Wie ein Phönix werden wir uns aus der Asche erheben!»
Draussen regnet es noch immer. So gelingt es kaum, den Amerikaner in sich zu wecken. Helfen würde etwas kalifornische Wärme, doch die Temperaturen stürzen wie Aktienkurse im März 2000. Die angehenden Entrepreneure spannen ihre Regenschirme auf und machen sich auf den Heimweg.
Wie man aus der Welt einen besseren Ort macht, haben sie heute nicht gelernt. Dafür eine Weisheit: Ein Start-up ist wie das Leben. Es gelingt vielleicht, wenn man einmal öfter aufsteht, als man hinfällt.
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