Geniessen: Weil man sich ja sonst nichts gönnt…
«Wer nicht geniessen kann, wird ungeniessbar», sagt ein Bonmot. Doch mit simplem Konsum allein ist es nicht getan: Erfolgreiches Geniessen ist eine Gratwanderung zwischen Sinneslust und Askese.
Veröffentlicht am 29. August 2000 - 00:00 Uhr
Es muss nicht immer Kaviar sein, ein Cervelat tuts auch. Oder anders gesagt: Genuss ist relativ. Wann nämlich der innere Seismograph «höchste Verzückung» signalisiert, hängt weder von Reichtum noch von Lifestyle-Diktaten ab, sondern von den Lebensumständen, der Kultur und dem individuellen Erleben. Savoir-vivre ist Geschmackssache. Daran können auch die vereinten Gourmetpäpste der zivilisierten Welt nichts ändern, die einmal jährlich in St. Moritz eine «Bocuse dor»-Orgie feiern. Die kulinarische Extravaganz des diesjährigen Festivals ist nun mal Hand auf den Magen nicht jedermanns Sache: Eisbeinpraliné auf Champagnerkraut, Leberwurst-Bohnen-Ravioli mit Ingwerschaum und Krake, Steinbutt mit Blutwurst auf Champagnerkutteln und zum Schluss caramelisierte Zimt-Ziegen-Tarte mit Bananen-Safran-Salat, garniert mit einem Kügelchen Tomaten-Vanille-Eis.
«Kaviar-Mac» auf 2488 Meter
Höchster Genuss meint die High Society sei ein «Kaviar-Mac», wie ihn der St. Moritzer Gourmettempel «Corviglia» auf 2488 Meter über Meer serviert. Der Edelhamburger kostet die kleine Lächerlichkeit von 232 Franken. «Mein höchster Genuss», sagt Reto Meili, der als Vertreter eines Schweizer Technologiekonzerns in den besten Hotels der Welt logiert, «ist ein kalter Cervelat mit Thomy-Senf und einem Schollen Sankt-Galler Brot und zwar gleich nach der Landung im Flughafen Kloten.» Ein heimatliches Stück Seelenwärmer auch das kann Genuss sein.
Genuss ist relativ. Ekel auch. Unser europäischer Magen macht anderthalb Drehungen, wenn wir erfahren, dass in 40 Ländern die Ratte als Delikatesse verspeist wird, dass in Südamerika und in Teilen Asiens gegrillte Larven des Dickkopffalters, geröstete Wasserkäfer sowie Spinnen und Würmer verschiedenster Gattung mit höchstem Genuss verzehrt werden. Für die Kinder des afrikanischen Papuavolks ist eine Hand voll streng riechender Baumwanzen, was den westlichen Kindern ein Schokoriegel. Und wer in Japan diniert, sollte wissen, dass es sich bei «Zazamushi» um die von japanischen Feinschmeckern begehrte Larve der Köcherfliege handelt: auch eingemacht im Supermarkt erhältlich, gleich neben den Büchsen mit konservierten Heuschrecken und Jungbienen
Hat da jemand «igitt!» gerufen? Ein kleiner Ausrutscher des westlichen Dünkels. Denn worin, bitte schön, besteht eigentlich der Unterschied zwischen gegrillten Tintenfischarmen und einer Raupe? Wir schätzen ja auch Schleimiges in Kräuterbutter, sprich Weinberg- und Wellhornschnecken, und wir zelebrieren den Genuss des Gebärmutterinhalts vom Stör, sprich Kaviar. Wir verlustieren uns an diversem Krabbelgetier aus dem Meer wie etwa an Hummern und Krebsen und können nicht begreifen, dass andere Kulturen eben das essen, was dort zu Lande kreucht und fleucht ganz abgesehen davon, dass Raupen etwa dreimal mehr wertvolles Protein und Eiweiss enthalten als ein Rindsfilet.
Westlicher Genuss hat keine Logik
Wir sitzen, ohne mit der Wimper zu zucken, Auge in Auge mit der Forelle blau, bevor wir sie genüsslich sezieren und verschlingen. Unser westliches Essverhalten und kulinarisches Ethos entbehrt sowieso jeglicher Logik: Wir essen Wachteln, aber keine Wellensittiche, garen Kaninchen, aber keine Katzen. Und was würden die Einwohner von Botswana wohl dazu sagen, dass wir die schwabbelige Auster mit einem Schuss Zitronensaft gefügig machen, sie bei lebendigem Leib verspeisen und dabei souverän ignorieren, dass das Tier im Mund noch zuckt?
Auf Fast Food getrimmt
«Wir haben vergessen, was Hunger ist, und uns auf dramatische Weise von der Natur entfremdet», bedauerte unlängst Vincent Klink, deutscher Chefkoch und Herausgeber des «Kulinarischen Almanachs», in einem Interview. «Unsere Kinder finden Dosenananas lecker, die frische Frucht aber fasrig und glitschig. Das Kotelett liegt normiert und in Folie eingeschweisst im Supermarkt, und nichts soll uns daran erinnern, dass daran Blut klebt.» Die Delikatesse «Ente im Blutbad» verschwinde langsam von den Speisekarten wie auch Hasen- und Rehpfeffer, so Klink, «und als nächstes geht es wohl der Blutwurst an den Kragen». Was etwa auf dem elsässischen Tisch noch Tradition sei, werde in der Schweiz als Schlachtabfall weggeworfen oder aber in Würste gestopft: Schweinskopf, Saumagen, Kalbsfüsschen. Klink: «Unsere Köpfe und Gaumen sind auf sterilen Durchschnittsbrei und auf Fast Food getrimmt.»
Was Wunder, dass sich Genussmenschen in ganz Europa gegen solch kulinarischen Frevel erhoben haben? «Slow Food» nennt sich die Gegenbewegung zum Schnellimbiss. Die 1986 in Rom gegründete Vereinigung mit der Schnecke als Wappentier proklamiert nicht nur das langsame Geniessen, sondern setzt sich auch für die Verwendung von naturnahen, hochwertigen und saisonalen Lebensmitteln ein. Die Bewegung hat in 35 Ländern Fuss gefasst und zählt heute über 60000 Mitglieder. Allein in der Schweiz leben rund 1700 bekennende «Langsamesser».
Schweizer sind Genussmuffel
Was die orale Genussfähigkeit angeht, mögen die Schweizerinnen und Schweizer ja noch als Bonvivants mithalten. Aber wie steht es mit der Befriedigung der andern vier Sinne? Will man einer englischen Studie glauben, taugen die tugendhaften Schweizer nicht zur Sinnlichkeit im weitesten Sinn. Und wenn wir geniessen, dann meist mit schlechtem Gewissen. Selten jemand, der offen dem Hedonismus frönt, jener philosophischen Lehre, die das Streben nach Genuss zum Ziel des menschlichen Daseins erklärt. Das moralische Gebot von Gleichheit und Gerechtigkeit steht grundsätzlich im Widerstreit mit dem Bedürfnis nach Genuss oder gar Luxus. Und so haftet dem reinen Geniessen etwas Frivoles und Egoistisches an. Darf es mir gut gehen, wenn es der Welt so schlecht geht? Eine Spass verderbende Frage, wenn man weiss, dass für den Preis einer Flasche prickelnden Champagners zwei afrikanische Waisenkinder zwei Monate lang ernährt werden könnten. Und plötzlich bedarf das eigene temporäre Glück der Legitimation. Die einen versuchen den üblen Geschmack des schlechten Gewissens mit humanitären Spenden loszuwerden, andere stürzen sich in die 60-Stunden-Arbeitswoche, um den Genuss als überlebensnotwendige Erholung zu rechtfertigen bis sie eines Tages merken müssen, dass ihre stressversehrten Seelen gar nicht mehr genussfähig sind.
Vor jeder Sucht steht der Genuss
Aber der Genuss birgt noch ganz andere Fallstricke, denn jeder Genuss verlangt nach Steigerung. Ob Alkohol oder Tabak, ob Sex oder andere Vergnügen: Die berauschende Empfindung jedes sinnlichen Tuns macht Lust auf mehr. Somit kann übermässiger Genuss zu Sucht führen. Wie aber vermeidet man, dass Genuss zum gefährlichen Exzess wird? Die Grenzen sind fliessend und Antworten nur scheinbar einfach: im vernünftigen Masshalten. Der wahre Hedonist lässt sich nicht vom Genuss beherrschen, sondern steht weise über ihm. Oder wie der französische Philosoph Voltaire (1694 bis 1778) sagte: «Fortwährendes Geniessen ist kein Genuss.»