Abschied von den Engelskindern
Der Verlust eines Kindes ist unerträglich. Selbst wenn es ungeboren ist. Doch das Leben muss irgendwie weitergehen.
Veröffentlicht am 5. Dezember 2016 - 10:48 Uhr
Es passierte in der Kirche. Mirjam Wagner war in Eile. Da verfing sich der Absatz ihres Schuhs im bodenlangen Talar. Die reformierte Pfarrerin von Muttenz BL stürzte die Treppe hinab. Sie erschrak heftig. Die 44-Jährige war schwanger, im zweiten Monat. Angesichts ihres Alters hatte der Arzt zu neunmonatiger Bettruhe geraten. Beim Ultraschall einige Tage später wurde sie mit der bitteren Wahrheit konfrontiert: «Ihr Kind ist tot.»
Ein Schock. Mirjam Wagner hatte sich dieses Kind so sehr gewünscht. Seit kurzem war sie mit einem 19 Jahre jüngeren Tunesier verheiratet, der nichts lieber als eine Familie wollte. In ihrer ersten Ehe hatte sie den Kinderwunsch stets zurückgestellt, ihr Mann hatte kein Interesse, sie ging ganz im Beruf auf. Sie spürte, dass sie jetzt ihre letzte Chance hatte. Und dann das.
Doch das Schicksal stellte sie auf eine noch viel härtere Probe. Sie verlor in den nächsten drei Jahren weitere fünf Kinder, zweimal war sie mit Zwillingen schwanger. Als sie merkte, dass sie ihren Kinderwunsch aufgeben musste, geriet sie in eine tiefe Krise. «Jede Fehlgeburt hat mich hoffnungsloser gemacht, jede neue Schwangerschaft mich in Panik versetzt: Passiert es nun wieder?» Sie haderte mit Gott, «meinem Chef», und fragte voller Wut, wofür er sie eigentlich bestrafe. Wenn sie eine Frau mit einem Baby sah, kroch Neid in ihr hoch. Was für ein Dilemma für eine Pfarrerin, die immer wieder Kinder taufen muss. «Es war die Hölle», sagt sie.
Ihr Mann schwieg nach jedem Todesfall tagelang. «Er kapselte sich komplett ab.» Das empfand sie als besonders belastend, auch wenn sie wusste, dass er als Muslim bloss den Vorschriften des Korans folgte. «Ich aber musste reden, um das Erlebte zu verdauen.» Und sie brauchte dringend einen Ort, um ihre Trauer zu lokalisieren. Doch alle ihre Kinder waren vor der 22. Schwangerschaftswoche gestorben, daher hatte sie keinen Anspruch auf eine Bestattung und ein Grab.
2005 ergriff sie die Initiative und liess eine bronzene Skulptur auf dem Kinderfriedhof ihrer Kirchgemeinde errichten. Die Gedenkstätte, ihre Form erinnert an einen Frauenbauch, dient seither auch anderen Betroffenen als Ort für ihre Trauer, wo sie endgültig Abschied nehmen können von ihren «Engelskindern» oder «Sternenkindern», wie viele Mütter und Väter ihre toten Babys nennen. Kerzen, bunte Murmeln, aber auch ein Ultraschallbild, das jemand ins Innere der Skulptur gelegt hat, zeugen davon, dass die Trauerstätte rege genutzt wird.
Anna Margareta Neff ist Hebamme und Trauerbegleiterin. Sie leitet die Fachstelle Kindsverlust.ch in Bern, die trauernde Eltern berät. Jahr für Jahr suchen mehr Betroffene Hilfe – dieses Jahr werden es rund 400 sein. Das schweizweit einzigartige Angebot muss über Spenden und Mitgliederbeiträge finanziert werden. Weder Staat noch Spitäler fühlen sich zuständig.
Auch die Statistik ist lückenhaft: In der Schweiz sterben jährlich rund 20'000 Kinder bis zur 12. Schwangerschaftswoche, rund 700 von der 22. Woche bis sieben Tage nach Geburt. Der plötzliche Kindstod, häufigste Todesursache bis zum Alter von 18 Monaten, trifft jährlich rund 40 Babys.
Nach dem Tod eines Kindes geraten viele Eltern in eine existenzielle Krise. «Sie suchen jemanden, der ihnen Orientierung gibt und für Entschleunigung sorgt», so Trauerbegleiterin Neff. In vielen Spitälern überwiege nach der Fehlgeburt hektische Betriebsamkeit. Im falschen Glauben, das helfe dem Paar, werde das verstorbene Kind möglichst rasch zur Bestattung freigegeben. Damit nehme man Eltern die Möglichkeit, Erinnerungen zu sammeln, Abschied zu nehmen. «Dabei haben sie das Bedürfnis, die Existenz ihres Kindes wahrzunehmen. Erst wenn es gelingt, das Kind durch Berührung und Begegnung anzunehmen, wird auch das Abschiednehmen möglich.»
Die 40-jährige Franziska P.* erwartete Zwillinge, zwei Buben. In der 28. Schwangerschaftswoche wurde beim Ultraschalluntersuch klar, dass Noah, der oben rechts in ihrem Bauch lag, gestorben war. Die Ursache für seinen Tod blieb unklar.
Nach dem ersten Schock erwachte die Kämpferin in Franziska P.: «Jetzt erst recht, habe ich mir gesagt. Ich werde alles tun, um nicht auch noch mein zweites Kind zu verlieren.» Das aber hiess, dass sie wochenlang mit einem toten und einem heranwachsenden Fötus in ihrer Gebärmutter leben musste: «Es war ein verrückter Zustand, dass mein Körper neues Leben barg und zugleich das Grab eines verstorbenen Kindes war.»
Das Wechselbad der Gefühle hielt bis zur 38. Schwangerschaftswoche an, als sie mit Kaiserschnitt entbunden wurde. Sie war glücklich, dass ihr Sohn Moritz nicht früher zur Welt gekommen war. Das erhöhte seine Chancen auf einen guten Start ins Leben.
Gleichzeitig war sie voller Angst, auch ihn noch zu verlieren: «Dieses Erlebnis war die härteste Erfahrung, die mein Mann und ich in unserer Beziehung gemacht haben.»
Im Gebärsaal dann der ersehnte erste Schrei des gesunden Kindes: Moritz war da! Welche Freude! Kurz darauf wurden Ärzte und Hebammen sehr still. Nun musste das zweite Kind «geholt» werden. «Das war fast nicht zu ertragen», sagt Franziska P. «Es hat mich nur noch geschüttelt.»
Besondere Sorge bereitete ihr, in welchem Zustand der leblose Noah sein würde. «Ich war erleichtert, als die Ärzte ein kleines Wesen auf die Welt holten, das immer noch aussah wie ein Baby.» Noah wurde in ein Körbchen gebettet, die Familie hatte Zeit, ihn wahrzunehmen – und wieder gehen zu lassen. Ihr Mann pflanzte im Garten ihres Hauses eine Tanne, die die Familie immer an Noah erinnern soll.
Zweieinhalb Jahre später wurde Franziska P. erneut Mutter. Die kleine Laura war gesund und munter.
Hebamme Anna Margareta Neff kennt die Bedeutung solcher «Folgekinder». Sie hört immer wieder von Eltern, dass deren Geburt helfe, sich mit dem Schicksal zu versöhnen. «Wichtig ist, dass die Trauer um das verstorbene Kind nicht verdrängt wird, sondern einen angemessenen Platz behält.» Zugleich löse die Aussicht auf ein weiteres Kind oft auch riesige Ängste aus. Wird es diesmal bei uns bleiben?
«Beim Trauern sollten uns Kinder als Vorbilder dienen.»
Anna Margareta Neff, Hebamme
Das nachfolgende Kind war auch für Corinna Lindenmann wichtig: Melissa war das erste Kind mit ihrem zweiten Mann. Aus erster Ehe hatte sie bereits zwei Söhne. Der Kindstod der gesunden kleinen Melissa traf das Paar wie ein Schlag. «Man verliert den Boden unter den Füssen», sagt Corinna Lindenmann. Heute noch, 16 Jahre später, kämpft sie mit den Tränen.
Sie seien damals von einem Allgemeinpraktiker grossartig betreut worden. Als sie schreiend mit dem blau angelaufenen Baby in seine Praxis stürmte, habe er alle weiteren Termine abgesagt, ihnen Zeit gegeben, das Unfassbare ins Bewusstsein eindringen zu lassen, und ehrlich, aber feinfühlig mit ihnen gesprochen. «Trotzdem war der Schmerz unerträglich.»
Später rieten ihr Ärzte zu einem weiteren Kind. «Nicht um Melissa zu ersetzen, sondern um den Glauben an das Leben wiederzufinden.» Sie verband grosse Hoffnung mit einem weiteren Kind, gerade wenn sie ihren Mann anblickte, sah, wie er den Schmerz stumm ertrug, sich in der Arbeit vergrub, sie Abend für Abend bedrängte, mit ihm auszugehen, weil ihn daheim alles an Melissa erinnerte.
Chiara kam 2002 zur Welt. Vater, Mutter und die zwei grossen Brüder lieben sie über alles, wollen das blonde Nesthäkchen ständig beschützen.
Die verstorbene Melissa hat nach wie vor ihren Platz in der Familie. Ihre Urne steht auf einem Glastisch in der Ecke der Wohnküche, umgeben von Fotos von ihr und seither verstorbenen Angehörigen. «Melissa ist und bleibt mein viertes Kind», sagt die 52-jährige Corinna Lindenmann. «Ich denke jeden Tag an sie und frage mich oft, was sie wohl heute machen würde.»
«Beim Trauern sollten uns Kinder als Vorbilder dienen», sagt Anna Margareta Neff. «Sie trauern mit grosser Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit.» Beim Tod eines Geschwisters solle man sie voll und ganz miteinbeziehen. «Wenn man nicht mit ihnen redet, um sie zu schonen, missverstehen sie die alles beherrschende Trauer der Eltern – und fragen sich verzweifelt, ob sie etwas falsch gemacht haben.»
Die Kinder von Franziska P., der achtjährige Moritz und die fünfjährige Laura, siedeln ihre Fantasien über den verstorbenen Bruder im Himmel an. «Manchmal stehen sie am Fenster», erzählt die Mutter, «blicken nach oben und fragen sich, ob Noah im Himmel wohl auch in die Schule gehen müsse.»
Weil Frauen und Männer oft völlig unterschiedlich trauern, komme es in der Krise zu grossen Konflikten, sagt Neff. Die meisten Frauen suchen den Austausch, etwa in Selbsthilfegruppen. Viele Männer dagegen ziehen sich zurück, weinen kaum, vergraben sich in der Arbeit. Ihre Partnerinnen verletzt das zuweilen sehr. Sie fragen sich: «Wie kann er so ungerührt reagieren, nachdem wir das Wertvollste verloren haben, was uns verbindet?» Viele Partnerschaften zerbrechen an diesem Schicksalsschlag.
Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel von Matthias Zünd, der vor vielen Jahren seinen Sohn verloren hat. Der kleine Joschua erlitt mit elf Wochen den plötzlichen Kindstod. Zünds Frau musste noch am selben Tag mit dem Zwillingsbruder Silvan ins Spital, um abklären zu lassen, ob auch er gefährdet ist.
Die Untersuchungen zogen sich über vier Tage hin. Zeit, in der sich der Vater um die grösseren Brüder kümmern musste, einen Drei- und einen Fünfjährigen. Zeit auch, in der er Anrufe aller entgegennahm, die der Familie ihre Anteilnahme bekunden wollten. Er habe in diesen Tagen hundert Fragen beantwortet und sei gezwungen gewesen, zu reden. «Das war gut», erinnert sich Matthias Zünd. Verletzt aber habe ihn, dass ihn die meisten ausschliesslich gefragt hätten, wie es seiner Frau gehe, wie die Mutter das Unglück ertrage. «An mich als Vater dachte kaum jemand.»
Das Geborgensein in der Familie habe ihm in dieser Zeit Kraft gegeben – und das Reden und Weinen mit seiner Frau. «Von ihr habe ich mich verstanden gefühlt.» Er sei gläubig, habe sich auch von der Idee trösten lassen, dass sogar dieser sinnlos erscheinende Tod irgendeine Bedeutung habe. Mit seinem Tagebuch habe er zusätzliche Trauerarbeit geleistet. Geschrieben und gestaltet hat Matthias Zünd auch Joschuas Todesanzeige, ergreifend, voller Herzenswärme: «11 Wochen Freuen und Lachen, 6 Tage Staunen und Vertrauen, 1824 Stunden Glück empfinden. Zeit haben zum Leben. Genügend Zeit?»