Das Pflegepersonal brennt aus
Pflegefachkräfte leiden schon lange unter zu hohem Druck – und nichts passiert. Nun bündeln die Verbände ihre Kräfte zum Protest.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2020 - 09:13 Uhr
«Bei Schichtbeginn hat das Zittern angefangen und nicht mehr aufgehört», erzählt eine Pflegefachfrau aus dem Raum Zürich. Sie war auf einer Akutstation zwei Wochen lang allein verantwortlich für 24 Patienten. Sie hat die Reissleine gezogen und die Stelle gewechselt.
Eine Pflegende aus der Region Thun erzählt: «Mir ist auf dem Parkplatz vor dem Heim speiübel geworden. Mehrmals. Aber ich habe es unterdrückt und bin arbeiten gegangen. Zusammengebrochen bin ich erst, als ich meine Kündigung eingereicht habe. Ein klassisches Burn-out.»
Der Beobachter hat nach Pflegefachkräften gesucht, die unter der psychischen Belastung ihres Arbeitsalltags leiden. Die Rückmeldungen kamen schnell und zahlreich. Vom Genfer- bis zum Bodensee, von Pflegeheimen bis hin zu psychiatrischen Einrichtungen. Alle klingen gleich. Zu viele Patienten, zu wenig Zeit. Und der Druck macht krank:
- «Ich mache nur noch Handgriffe, das ist keine Pflege. Am Abend falle ich ausgelaugt ins Bett.»
- «Es gibt Dinge in unserem Alltag, die lassen einen nicht mehr los. Ich bin ins Loch gefallen und war zwei Monate lang krankgeschrieben. Eine Depression.»
- «Ich fiel wegen Angstzuständen aus. Angst vor Fehlern und Angst vor einer Pflege, die gefährlich ist.»
- «Ich habe keine Zeit, meine Patienten richtig zu waschen. In der Nacht schlafe ich nicht und überlege, ob ich aus dem Beruf aussteigen soll.»
20 bis 40 Prozent der Pflegefachkräfte zeigen Symptome von Burn-out, Depression oder Angsterkrankungen, sagt Tobias Spiller. Er ist Assistenzarzt und Postdoktorand an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik des Universitätsspitals Zürich. Im April hat er eine Studie zum psychischen Gesundheitszustand des Pflegepersonals während der Pandemie gemacht. Es werde von Politik und Institutionen teilweise unterschätzt, wie viele Leute im Gesundheitsberuf psychische Erkrankungen haben.
«Fast niemand im Pflegeberuf hält mehr als ein 80-Prozent-Pensum aus.»
Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen (SBK)
220'000 Frauen und Männer arbeiten in der Schweiz in der Pflege. Cindy Bracchi ist eine davon. Die 44-Jährige zeigt in diesem Artikel ihr Gesicht, weil sie ihren Beruf, der sie krank gemacht hat, liebt. «Mein erstes Burn-out hatte ich vor fünf Jahren. Anspannung und Druck haben sich über Jahre aufgestaut.» Die Schweiz müsse endlich genauer hinschauen, wenn es um Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals gehe.
Bracchi war 17, als sie als Praktikantin in den Beruf einstieg. Mit 33 Jahren schloss sie die Ausbildung zur diplomierten Pflegefachfrau ab. Der Druck nahm zu, die Zeit mit den Patienten ab. Bald erlitt sie erste Burn-out-Symptome. Sie kündigte.
«Ich schleppte mich vom Bett auf die Arbeit und wieder ins Bett. Ich schlief schlecht, hatte Herzrasen und zitterte sogar zu Hause.» Sie trennte sich von ihrem Mann, stand mit zwei Teenagern allein da und begann in einem Pflegeheim nachts zu arbeiten. Ein Jahr später folgte das Burn-out. Angekündigt hatte es sich schon lange.
Drei Monate blieb Cindy Bracchi zu Hause, arbeitete erst 50 Prozent, dann schnell wieder 80 Prozent. Vier Jahre lang schleppte sie sich mit einem halb kurierten Burn-out durch. Wieder hatte sie Herzrasen, zitterte und schlief nicht. Dann verunfallte sie mit dem Auto, übermüdet auf dem Heimweg von der Nachtschicht. Das war vor einem Jahr. Sie liess sich in eine Burn-out-Klinik einweisen und kündigte ihre Stelle auf Ende März.
«Für mich war das fast zu spät. Die jahrelange psychische Belastung hat auch einen problematischen Umgang mit Alkohol bewirkt. Noch im März bin ich zusammengebrochen und musste reanimiert werden.»
Yvonne Ribi, Geschäftsführerin des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen (SBK), sagt: «Fast niemand im Pflegeberuf hält mehr als ein 80-Prozent-Pensum aus.» Die Belastung sei zu gross. Zwar würden Pflegende schon in der Ausbildung lernen, wie man mit Menschen in Grenzsituationen umgeht, wie gute Psychohygiene funktioniert. Doch der Umgang mit komplexen Situationen brauche Zeit. «Und genau Zeit ist in der Pflege absolute Mangelware. Viele Pflegende haben das Gefühl, weder ihren Patienten noch dem Job gerecht zu werden.»
Vom Pflegeberuf als einer typischen Hochrisikosituation für ein Burn-out spricht auch der Arzt Tobias Spiller. Gefährlich werde es, wenn sich jemand übermässig verausgabe. Viele würden sich mit grossem Engagement für ihre Patienten einsetzen, oft über das Ende der Schicht hinaus. Pflegende arbeiten mit flexiblen Arbeitszeiten, viel Zeitdruck und komplexen Patientengeschichten, ohne dass ihnen ein grosser Handlungsspielraum gewährt wird. Sie müssen sich an genaue Vorgaben halten und können nur bedingt selber entscheiden.
Die Bürokratisierung verringere zusätzlich die Betreuungszeit für die Patientinnen und Patienten. Die Unterstützung und Wertschätzung durch den Arbeitgeber könnte helfen. Die Coronakrise habe jedoch gezeigt, wie unterschiedlich sie von Arbeitgeber zu Arbeitgeber ausfalle.
«Mit etwas Applaus ist es nicht getan. Und eine finanzielle Anerkennung wäre nötig, aber kaum nachhaltig», sagt auch Yvonne Ribi. Wichtiger seien Mitspracherecht und mehr Einfluss, zudem müssten Pflegevertreter in den obersten Leitungsgremien vertreten sein.
Dann brauche es klar mehr Zeit für die Pflege und mehr Personal. Ribi fordert zudem verlässliche Arbeitspläne, weil die Kultur des Einspringens wenig Raum für Erholung lasse, und Nacht- und Wochenendschichten müssten anständig entschädigt werden. «Pflege ist keine Selbstaufgabe. Pflege ist ein Beruf. Um ihn aber richtig ausführen zu können, braucht es die richtigen Arbeitsbedingungen. Unser Gesundheitssystem hängt davon ab», so Ribi.
«Die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen der Pflege wurde von der Politik und den Institutionen zu lange hin- und hergeschoben», sagt Migmar Dhakyel, Zentralsekretärin Gesundheit der Gewerkschaft Syna. Dieser Wirrwarr mache es schwierig, Forderungen zu platzieren. «Die Situation des Pflegepersonals ist hochexplosiv. Und der Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften wird immer gefährlicher.» Gemäss einer neuen Studie liessen sich mit mehr diplomierten Pflegefachpersonen jährlich 1,5 Milliarden Franken sparen und 200 Tote verhindern.
Seit drei Jahren liegt eine Volksinitiative für eine starke Pflege auf dem Tisch. Sie fordert eine Ausbildungsoffensive, mehr Personal, mehr Eigenverantwortung und bessere Arbeitsbedingungen. Der Nationalrat hat aus zwei der Forderungen einen Gegenvorschlag formuliert. Er will Kantone verpflichten, mehr finanzielle Mittel in die Ausbildung fliessen zu lassen. Bestimmte Pflegeleistungen sollen weniger bürokratisch verrechnet werden. Der Ständerat behandelt das Geschäft voraussichtlich im Winter.
Die Verbände sind damit nicht zufrieden. «Mit unserer Pflegeinitiative haben wir ein ganzes Päckli an Verbesserungen gefordert», sagt Yvonne Ribi. «Es nützt wenig, mehr Leute in der Ausbildung anzustellen, wenn der Nachwuchs wieder aus dem Beruf aussteigt, weil die Arbeitsbedingungen nicht gut sind, die emotionale Belastung zu gross wird.»
Für Ende Oktober ruft das kürzlich geformte Bündnis Gesundheit, bestehend aus SBK, VPOD und Syna, zu einer nationalen Protestwoche auf. Und am 31. Oktober werde auf dem Bundesplatz gemeinsam für die Gesundheitsberufe eingestanden.
Cindy Bracchi geht es heute wieder gut. «Ich bin verdammt stolz auf meinen Beruf. Er ist eine der beliebtesten Ausbildungen der Schweiz», sagt sie. «Dass es trotzdem an Pflegenden mangelt, sagt viel. Sie steigen aus, bevor sie zusammenbrechen. Ich kann es ihnen nicht verübeln.» Seit August arbeitet sie 50 Prozent bei einem neuen Arbeitgeber und kämpft weiter für ihren Beruf.
9 Kommentare
Dies war schon vor 12 Jahren so. Unser Vater war in ZH im Irchelpark (dazumal ein „normales“ städtisches Pflegeheim.) Da vermutlich zu wenig Personal da war, gab man den Patienten mitten in der Nacht Schlafmittel (weil sie ev. zu aufwändig waren), und sie dann morgens nicht mehr auf kamen!
Nicht einmal die zwei deutschen, leitenden Frauen merkten, dass unser Vater, der gut zu Fuss war, aufgrund eines Schlaganfalls am Boden lag! Meine Schwester besuchte ihn am Tag darauf, und organisierte den Transport ins Krankenhaus!
Kosten pro Monat, nur Kost und Logis: Fr. 6‘000.- , niedrigste Pflegestufe!
Es läuft definitiv sehr viel falsch. Für die Angestellten, wie auch für die Patienten.
Deshalb ging unsere Mutter mit Exit, weil sie einen solchen Horror nicht noch einmal durchmachen möchte.
Unglaublich, dass nicht alle Heime den Bewohnern die Freiheit zum selbstbestimmten „Gehen“ lassen!
Das war schon vor der Pandemie ein Problem und jetzt kommen noch einmal zusätzliche Belastungen auf alle Mitarbeiter zu. Jeder will die beste Versorgung im Krankheitsfall, aber das Geld in die Hand nehmen, um Arbeitsbedingungen zu schaffen, die man auch ein Arbeitsleben durchhalten kann, will dann doch keiner. Verkehrte Welt!
Ich arbeite selber als Pfleger, auch mit Corona, oh das ist ein Personalmangel durch und durch. Schon vor der Krise ist der Personalmangel ganz klar ersichtlich. Bei uns heisst es 7-9 Patienten auf eine Pflegekraft. Wie soll das gehen? Nebst den Arztvisiten Dokumentationen Verbänden Chemotherapien etc. soll noch eine qualitativ hoch stehende Pflege möglich sein und der Patient im Mittelpunkt stehen? So ist es nicht möglich. Seit die Schweiz das DRG System angenommen hat ist es noch viel schlimmer geworden Australien hatte dieses System auch und hat es schnell wieder abgeschafft.
Arbeitete als PFF HF - Burnout - Depressionen...
Es stimmt doch etwas mit dem Beruf nicht, wenn man nicht 100% als PFF arbeiten kann!
Die Pflege ist halt nichts woran sich irgendjemand bereichern kann... also lieber einen Fussballclub unterstützen, als die Pflege... ist ja systemrelevanter... !