Die Entwicklung der vergangenen 150 Jahre bringt selbst Realisten zum Träumen. In den Industrieländern hat sich die Lebenserwartung verdoppelt. Seit dem Mittelalter in der Schweiz gar vervierfacht. Für Männer liegt sie aktuell bei 80,5, für Frauen bei 84,7 Jahren. Die Zahl der 100-Jährigen steigt exponentiell. Zwischen 1970 und 2013 schnellte sie von 61 auf 1500 hoch. Und Altersforscher sind überzeugt, dass die Hälfte der heute Neugeborenen 100 Jahre alt werden wird.

Doch das ist einigen noch nicht genug. Futurologen träumen bereits vom ewigen Leben. Und der Durchbruch stehe gerade bevor. Der selbsternannte Gerontologe Aubrey de Grey etwa behauptet in seinem Buch «Ending Aging», dass die ersten Menschen, die 1000 Jahre alt werden, bereits geboren sind. Man müsse nur noch den Dreh finden, um die körpereigenen Killerzellen so zu aktivieren, dass sie die verhassten Wucherzellen eliminieren. Es sei ein bisschen wie bei der Pflege des Autos. Hin und wieder müsse man es in die Garage bringen, damit es in Schuss bleibt. In ein paar Jahren sei man bestimmt so weit.

Sein Kollege, der amerikanische Zukunftsforscher Ray Kurzweil, geht noch weiter. Er träumt vom ewigen Leben kombiniert mit einem aufgetunten Gehirn. Wenn im Jahr 2045 die künstliche Intelligenz die menschliche überholt habe, sei es nur noch ein kleiner Schritt zum ewigen Leben. Dann werde man in seinen «Human Body 3.0» umsteigen und sich soft- und hardwaremässig so weit aufrüsten, dass man per Update und dank Ersatzteillager auf ewig taufrisch bleibe. Ist das alles Quatsch?

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Um das Alter ranken sich viele Vorurteile. Alte Menschen sind nicht leistungsfähig, Hochbetagte altern langsamer als der Rest der Menschheit, mit 100 ist niemand mehr selbständig. Die Frage ist nur: Stimmen diese Vorurteile?

10 Vorurteile gegenüber dem Alter

Vorurteil 1: «Mit 120 ist definitiv Schluss»

Falsch: Nach gängiger Lehrmeinung kann man nicht viel älter werden als die Französin Jeanne Calment. Sie gilt als älteste Frau der Welt und verstarb im August 1997 im Alter von 122 Jahren und 164 Tagen in Arles. Dass nicht viel mehr drinliegt, hängt mit dem sogenannten Hayflick-Limit zusammen. Danach kann sich eine menschliche Körperzelle nur rund 52 Mal teilen und stirbt dann den programmierten Zelltod. So weit ist es nach 120, 130 Jahren. Der Grund dafür findet sich an den Enden der 46 Chromosomen, den Telomeren. Bis zum 30. Lebensjahr sind sie am längsten, bei über 65-Jährigen werden sie immer kürzer. Irgendwann sind sie dann so kurz, dass die Zelle sich nicht mehr teilen kann. Die Hayflick-Theorie besagt aber nicht, dass Menschen notwendigerweise mit maximal 120, 130 Jahren sterben müssen. Man verfüge heute über Techniken, mit denen sich die Zellteilung blockieren oder aktivieren lasse, sagt der in Zürich tätige Zellbiologie-Professor Lawrence Rajendran. «Rein technisch ist es machbar, dass Menschen viel älter werden.» Wahrscheinlicher sei dennoch, dass die Lebenserwartung in der Schweiz nur noch langsam steigen werde. Bei gut 90 Jahren sei dann wohl irgendwann Schluss. Aktuell liegt die Lebenserwartung in der Schweiz für Männer bei 80,5, für Frauen bei 84,7 Jahren.

Vorurteil 2: «Junges Blut tut nur Vampiren gut»

Falsch: Ein Team der amerikanischen Elite-Universität Stanford hat diesen Frühling nachgewiesen, dass die sogenannte heterochronische Parabiose nicht nur Vampire jung macht. ;-) Spritzt man alten Mäusen das Blut junger Artgenossen, wird der Hippocampus angeregt, eine zentrale Schaltstelle des Gedächtnisses. Die aufgespritzten Seniorenmäuse sahen nach der Blutkur nicht nur jünger aus, sondern lernten wieder schneller. Sie fanden eine unter Wasser gelegte Plattform und vermieden Stromstösse in einem Käfig wieder so gut wie die Jungen. Studienleiter Tony Wyss-Coray wies bei der Präsentation der Ergebnisse darauf hin, dass das Experiment bestimmt eine gute Vorlage für Horrorfilme abgebe, aber nicht auf den Menschen übertragbar sei. Denn Bluttransfusionen führen zu Immunreaktionen, und die erhöhen das Sterberisiko. Zudem ist nicht klar, ob der Vampir-Effekt bei alten Mäusen lange anhält.

Vorurteil 3: «Grosse Menschen werden älter als kleine»

Falsch: Untersuchungen über Hundertjährige bringen es an den Tag: Auffällig viele sind kleingewachsen. Der Grund dafür liegt im Rubner-Gesetz. Danach zielt das Wachstum eines Organismus auf eine optimale Körpergrösse. Optimal ist, wenn das Verhältnis von Körpermasse zu stoffwechselaktiven Oberflächen ausgewogen ist. Mit zunehmender Grösse aber steigt der Energieumsatz und das beschleunigt letztlich den Alterungsprozess. Einzige Ausnahme: Wenn die geringe Körpergrösse die Folge einer schlechten Ernährung ist, kehrt sich diese Regel in ihr Gegenteil. Dann haben grössere Menschen eine höhere Lebenserwartung. Dass kleine Menschen grössere Chancen haben, sehr alt zu werden, ist ein biologisches Paradox. Denn üblicherweise sind es die grossen Organismen, die länger leben: Elefanten länger als Fliegen, Haie länger als Seepferdchen. Und bei Krokodilen, die ihr Leben lang wachsen, sinkt das Sterberisiko sogar mit dem Alter und der Grösse. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass ein erwachsenes Krokodil gefressen wird, ist klein.

Vorurteil 4: «Wer sehr alt wird, altert einfach langsamer»

Falsch: Viele Hundertjährige haben für ihr Alter auffällig wenig Falten und gleichen von ihrem Aussehen Achtzigjährigen. Auch psychisch unterscheiden sie sich kaum von zehn, zwanzig Jahre jüngeren Menschen, sagt der Zürcher Gerontopsychologe Mike Martin. Die Vorstellung, dass Hochbetagte einfach langsamer altern als andere Menschen, ist aber falsch. Das zeigt sich zum Beispiel beim Blutdruck. Bis zum Alter von rund 70 Jahren ist ein hoher Blutdruck ein Risikofaktor, einen Herzinfarkt zu erleiden. Bei Hundertjährigen ist er jedoch überlebenswichtig. Wenn er sich nicht erhöhen würde, könnten die lebenswichtigen Organe gar nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt werden. Deshalb haben auch alle Hundertjährigen einen hohen Blutdruck. «Die Ursache fürs Sterben wird später die Ursache fürs Leben», so Martin.

Vorurteil 5: «Junge sind zufrieden, Alte griesgrämig»

Falsch: Empirische Studien zeigen, dass der berüchtigte Satz des amerikanischen Schriftstellers Philip Roth «Das Alter ist kein Kampf; das Alter ist ein Massaker» nicht das Befinden einer Mehrheit der alten Menschen widerspiegelt. Im Gegenteil: Jüngere Menschen sind in der Regel gar nicht so glücklich mit ihrem Leben. Die Zufriedenheitsquote steigt mit dem Alter an und erreicht bei der Gruppe der 70-Jährigen ihren Höhepunkt. Die Gründe dafür liegen in einer fast perfekten Konstellation, sagen Soziologen. Jungrentner leben in der Regel in materiell gesicherten Verhältnissen, sind nach wie vor bei guter Gesundheit, haben noch relativ viel Lebenszeit vor sich und tolle Möglichkeiten, ihr Leben frei zu gestalten.

Vorurteil 6: «Mit 100 ist niemand mehr gesund»

Falsch: Es gibt immer eine Ausnahme von der Regel. Aber selbstverständlich ist praktisch jeder hundertjährige Mensch mit körperlichen Einschränkungen konfrontiert: neun von zehn haben Hör- oder Seheinbussen, zwei von drei sind schon einmal schwer gestürzt, fast jeder zweite hat Arthritis. Im Durchschnitt leiden Hundertjährige unter 4,1 Erkrankungen. Doch mehr als die Hälfte fühlt sich in seinem Alltag nicht oder nur gering eingeschränkt. Und nur jeder Fünfte hat starke gesundheitliche Einschränkungen. Das hat die letztes Jahr veröffentlichte zweite Heidelberger Hundertjährigenstudie ergeben, die das umfassendste Bild weltweit über diese Altersgruppe gibt. Auffällig viele führen auch mit hundert ein selbständiges Leben. Das ist ein Hinweis darauf, dass ein aktiver Alltag das beste Gesundheitstraining ist – und auch viel besser wirkt, wie zum Beispiel Gedächtnistrainings, sagt der Zürcher Gerontopsychologe Mike Martin. Dass die Zahl Hochbetagter rasant wächst, bedeutet auch nicht unbedingt, dass die Pflegekosten überproportional steigen werden. Dieses Resultat der Heidelberger Studie hat der Soziologe François Höpflinger auch für die Schweiz nachgewiesen. Wie sich die Pflegekosten weiter entwickeln, hänge wesentlich davon ab, wie viel man in die Gesundheit und Selbständigkeit alter Menschen investiere.

Vorurteil 7: «Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte sorgen»

Falsch: Der beliebteste Politikersatz, mit dem sie Rentenkürzungen und ein höheres Rentenalter als unausweichlich darstellen, ist schlicht und einfach falsch. Richtig ist: Gleich viele Erwerbstätige sorgen für immer weniger Junge und immer mehr Alte. Ein Blick in die Zahlen des Bundesamts für Statistik zeigt: Der Anteil der 15- bis 65-Jährigen ist erstaunlich konstant. Seit 1880 ist er sogar noch leicht gestiegen. Von daher mutet es befremdlich an, wenn gebetsmühlenartig erklärt wird, dass der Generationenvertrag über Gebühr strapaziert werde. Im Alltag ist davon jedenfalls wenig zu spüren. Im Gegenteil, sagt der St. Galler Soziologe Peter Gross: «Noch nie haben so viele Generationen so friedlich zusammengelebt wie heute.» Weil die Generationen eine längere Lebenserwartung haben, verbringen sie auch eine längere Zeit miteinander. Und das, so seine Erklärung, fördere das gegenseitige Verständnis.

Vorurteil 8: «Die Gerontokratie ist der Anfang vom Ende»

Falsch: Ein Fünftel der Stimmberechtigten in der Schweiz ist älter als 65. Im Parlament sind sie mit einem Anteil von rund 10 Prozent fast so krass untervertreten wie die unter 30-Jährigen. Trotzdem kommt es immer wieder zur Klage, die alten Sesselkleber sollen doch endlich ihren Platz räumen – letzten Herbst zum Beispiel von SP-Fraktionschef Andy Tschümperlin. Den St. Galler Soziologen Peter Gross nervt das Gerede von den Gefahren einer drohenden Gerontokratie, einer Herrschaft der Alten. Er sieht in der Langlebigkeitsgesellschaft gar einen epochalen Sinn: in der Abkehr von Kraftprotzerei und Wachstumswahn. Je grösser der Anteil der Alten, desto kontemplativer, friedlicher und nachhaltiger werde die Gesellschaft. «Die Ablösung von Hyperaktivität, Atemlosigkeit und Schnelligkeit durch immer grössere Bezirke der Gelassenheit, Ruhe und Mässigung – das ist doch ein schönes Bild!», sagt Gross im Gespräch. Jede Zeit habe ihre archetypische Figur. Früher habe man die Lösung der Probleme vom Krieger, vom Proletarier und zuletzt von den Frauen erhofft. Im 21. Jahrhundert werden die Alten diese Rolle übernehmen, so seine Hoffnung.

Vorurteil 9: «Ewig zu leben ist einfach nur schön»

Falsch: Die Entscheidung, ob ewig zu leben schön ist oder nicht, liegt natürlich im Auge des Betrachters. Der britische Futurologe Aubrey de Grey schreibt in seinem Longseller «Ending Aging», dass es schon für jetzt geborene Menschen möglich sein wird, 1000 Jahre alt zu werden. Sich mit Hilfe von Spritzen und Ersatzteil-Organen fast ewig zu verjüngen, werde schon in ein paar Jahren möglich sein. So werde der Menschheitstraum vom ewigen Leben bald wahr. De Grey ärgert sich über die Behauptung seiner Kritiker, diese Vision ende für die Betroffenen in tausend Jahren Langeweile. Allerdings fand der erst 50-jährige Brite bisher keine schlagenden Argumente dafür, dass es spannend sein soll, zum tausendsten Mal den Traumstrand in der Südsee aufzusuchen, den fünfhundertsten Modefrühling mitzumachen, bei der 187. Fussball-WM mitzufiebern oder zum 34. Mal zum Altar zu schreiten, um sich ewige Liebe zu schwören.

Vorurteil 10: «Nichts lebt ewig»

Stimmt: Als ältestes Lebewesen gilt ein bestimmter Schwamm, der im Meer vor der Antarktis lebt. Gefunden wurde er von Forschern des deutschen Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung. Das Alter des zwei Meter grossen, vasenförmigen Riesenschwamms berechneten sie anhand seines Sauerstoffverbrauchs. Die Lebensprozesse scheinen stabil, von selbst werde der Schwamm wohl nicht sterben. Gefahr drohe ihm nur von Unterwasser-Turbulenzen, deren gewaltige physikalischen Kräfte seinem Leben ein Ende setzen können. Noch näher am Traum vom ewigen Leben scheinen aber Einzeller wie das Pantoffeltierchen. Weil sie sich immer wieder teilen, haben sie die theoretische Chance, Milliarden Jahre zu leben. Biologen sagen deshalb, dass die nur unter dem Mikroskop sichtbaren Pantoffeltierchen potenziell unsterblich sind. Auch ihnen können nur sogenannte extrinsische Mortalitätsfaktoren gefährlich werden. Konkret: Wenn etwa das Wasser austrocknet, in dem sie leben, sterben sie. Von daher ist auch das ewige Leben manchmal sehr endlich.