«Ich sehe täglich, was der Krieg in Bergkarabach anrichtet»
Lili Harutyunyan kehrte mit ihrer Familie aus Zürich in ihre Heimat Armenien zurück. Die Architektin wollte dort Häuser bauen. Jetzt hilft sie, Geflüchtete zu versorgen.
Aufgezeichnet von Ann-Kathrin Kübler:
Mein Land befindet sich im Krieg. Das erfuhr ich am Morgen des 27. September, einem Sonntag. Ich erwachte früh und griff nach dem Handy, als hätte ich eine Vorahnung gehabt. Eine Freundin schrieb, der Wohnort ihrer Eltern sei bombardiert worden. Sie wohnen in Stepanakert, der Hauptstadt von Bergkarabach. Bergkarabach ist als Staat nicht anerkannt. Um das Gebiet besteht ein alter Konflikt, Stalin sprach es 1921 Aserbaidschan zu. Die Bevölkerung ist aber hauptsächlich armenisch und will Unabhängigkeit.
Noch im Bett las ich, dass Aserbaidschan zivile Einrichtungen bombardiert hatte. Ich war geschockt. Von einer Sekunde auf die nächste hatte ich eine Unmenge Fragen im Kopf. Wie geht es weiter? Wer wird dem Land beistehen? Wie kann ich meine Familie schützen? Und: Warum sind wir ausgerechnet jetzt nach Armenien gezogen?
Wir hatten in der Schweiz das perfekte Leben, denke ich rückblickend. Ein Haus, gut bezahlte Jobs, ein soziales Umfeld. Gleichzeitig verfolgte ich die «Samtene Revolution», die vor zwei Jahren Armenien erfasste. Hunderttausende gingen auf die Strasse und bewegten die korrupte Regierung friedlich zum Rücktritt. Die positive Atmosphäre zog mich an. Als der neue Ministerpräsident demokratisch gewählt war, beschlossen mein Schweizer Mann und ich, nach zwölf gemeinsamen Jahren in der Schweiz hierherzuziehen.
«Meine Facebook-Seite ist voll mit Trauermeldungen. Bekannte verlieren Söhne, die 19 sind.»
Lili Harutyunyan, 36, Architektin
Der Zusammenhalt, der während der Revolution zu spüren war, kommt jetzt wieder auf. Weltweit demonstrieren Armenier in der Diaspora für den Frieden. Darunter auch der Armenische Verein Zürich, bei dem ich Mitglied bin. Wenn Schweizer Freunde sagen, dass sie nicht helfen können, antworte ich: «Alle können helfen.» Man kann gegen den Krieg demonstrieren, eine Petition unterschreiben, spenden.
Ich helfe dabei, geflohene Familien in der Hauptstadt Eriwan unterzubringen, versorge sie mit Kleidern und Decken. Ich sehe täglich, was der Krieg mit den Menschen anrichtet. Im Kindergarten, den meine Tochter und mein Sohn besuchen, begleiten Psychologinnen traumatisierte Kinder. Die Kleinen weinen bei Lärm, da sie meinen, Bomben zu hören.
Ich gehe mit meinen Kindern täglich raus in die Natur, um sie vor dem Schrecken des Krieges zu schützen. Immer gelingt das nicht. Kürzlich wollte ich die beiden ins Bett bringen, da schrie mein Mann: «Raketen!» Ich schaute aus dem Fenster und sah Kampfdrohnen am Himmel. Mein erster Gedanke war: «Weg vom Fenster!» Zugleich sagte ich: «Wow, Kinder, schaut, Raketen!» Als wäre es ein Spiel. Ich wollte vermeiden, dass sie sich fürchten. Die Drohnen flogen weiter. Was blieb, ist meine Angst.
Meine Facebook-Seite ist voller Trauermeldungen. Bekannte verlieren ihre Söhne, die erst 19 sind. Ich dachte, dass Corona eine neue Art Krieg sei. Aber diesen Krieg hier hätte ich im 21. Jahrhundert nie erwartet.
Ich bin nur eine Architektin, die in ihrer Heimat schöne Gebäude mit Schweizer Einfluss bauen wollte. Jetzt steht alles in Frage. Auch die Existenz meiner Familie.
Man fragt uns oft, ob wir zurückkommen. Aber das würde sich nicht richtig anfühlen. Ich könnte kein Auge zutun, solange meine Lieben in Armenien sind. Also bleiben wir alle hier. Und klammern uns an die Hoffnung, dass die internationale Anerkennung von Bergkarabach kommt und Frieden bringt.
1 Kommentar
Ich kenne die traurige, armenische Geschichte. Der Wahrheit verpflichtet müsste aber doch auch gesagt werden, dass nach der Rückeroberung von Berg Karabach eine 6-stellige Zahl von Asserbeischanern vertrieben wurden. Eine friedliche Koexisstenz wurde damals verpasst!