Auch Gynäkologen gehen mal auf ein Feierabendbier mit Berufskollegen. Und manchmal gärt dabei eine bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnis. So war es bei Øjvind Lidegaard: «Seit Jahren kommen Frauen zu mir und sagen, dass sie mit hormonellen Verhütungsmitteln Stimmungsschwankungen erleben. Zwei Freundinnen wurden ausserdem mit der Pille depressiv.» Lidegaards Berufskollegen bestätigten seinen Eindruck. Und ermunterten den Kopenhagener Professor zu einer Studie.
Der Gynäkologe nutzte dazu die weltweit einmalige Gesundheitsdatenbank von Dänemark. Der Staat speichert alle Diagnosen und Rezepte für Medikamente, die seine Bürger erhalten. Mit diesen Daten hat Lidegaard den Gesundheitsverlauf von 1,1 Millionen Frauen über einen Zeitraum von 13 Jahren nachgezeichnet. Das Resultat, im Herbst 2016 publiziert, birgt Zündstoff: Frauen, die die Pille schluckten, litten auffällig häufiger an Depressionen als diejenigen, die hormonfrei verhüteten; 2,2 statt 1,7 Prozent nahmen Antidepressiva ein.
Besonders empfindlich reagierten Teenager. Bei ihnen stieg das Risiko, depressiv zu werden, um 80 Prozent. Wenn man die dänischen Zahlen auf die Schweiz ummünzt, kann man davon ausgehen, dass es hier bei 5700 Frauen einen Zusammenhang zwischen der Pille und Depressionen gibt.
«Frauen sind sich zu wenig bewusst, was Hormone mit ihnen machen können», sagt Lidegaard. «Die Pille ist ein wunderbares Verhütungsmittel, das die Selbstbestimmung von Frauen revolutioniert hat. Aber man muss Frauen, die eine Veranlagung zu Depressionen haben, unbedingt über die möglichen Folgen informieren.»
Lidegaard wird bald eine neue Studie publizieren, in der er den Zusammenhang zwischen hormoneller Verhütung und Suiziden erforscht. Die Resultate kann er noch nicht bekanntgeben. Aber alles deutet darauf hin, dass sich ein ähnliches Muster zeigt.
Solche Berichte sind Wasser auf die Mühlen derer, die hormonelle Verhütung verteufeln. Und die Pillengegnerinnen mehren sich. Seit acht Jahren gehen die Verkaufszahlen in der Schweiz zurück, obwohl die Bevölkerung zunimmt. Frauen kauften 2015 elf Prozent weniger Pillenpackungen als noch 2008, bilanziert Interpharma, der Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz.
«Mit 14 begann ich, die Pille zu nehmen. Mit 26 hörte ich auf. Nicht weil ich Nebenwirkungen bemerkt hätte, sondern weil meine Abneigung gegen die Hormone wuchs. Denn als ich mit 25 meinen neuen Freund kennenlernte, liess meine Libido nach der anfänglichen Attraktion schnell nach. Dieses Muster kannte ich von früher. Ich googelte und las, dass die Pille zu Sexualstörungen führen könne. Also hörte ich auf damit und setzte auf Kondome. In den folgenden Monaten merkte ich, wie meine Lust zurückkam – in einem Ausmass, das ich vorher noch nie gekannt hatte. Manchmal sass ich im Bus und wurde plötzlich unglaublich spitz, ich hätte den nächstbesten Mann anspringen können. Ich merkte auch, dass ich immer dann besonders Lust auf Sex hatte, wenn der Eisprung kam. Dann war ich manchmal kaum zu bremsen. Und beim Sex kam ich schneller zum Orgasmus. Diese neue Lust gebe ich nicht so schnell wieder her, auch wenn die Kondome schon ziemlich nerven.»
Im Gespräch bestätigen Gynäkologen und Experten, dass die Pille ein Imageproblem hat. Immer mehr Frauen beschleiche ein mulmiges Gefühl, wenn sie am Abend nach dem Zähneputzen die kleine weisse Pille aus der Folie pulen. Die Pillenmüdigkeit sei vor allem bei Frauen gegen 30 zu spüren, die seit ihrer Teenagerzeit jeden Tag ein Dragee schlucken. Denn sie wissen nicht einmal, wie sich ihr Körper ohne diese Hormone anfühlt.
«Seit dem Fall Céline erlebe ich in meiner Praxis mehr Skepsis gegenüber der Pille», erzählt Sibil Tschudin, leitende Ärztin der Abteilung für gynäkologische Sozialmedizin an der Frauenklinik des Unispitals Basel. 2008 erlitt die 16-jährige Céline eine schwere Lungenembolie, nachdem sie die Pille Yasmin eingenommen hatte. Die seither spastisch Gelähmte klagte gegen Bayer – der Pharmagigant hätte auf dem Beipackzettel klarer auf die Gefahr von Embolien aufmerksam machen müssen. Sie verlor den Kampf vor Bundesgericht. «Die Medien haben sehr viel über den Fall geschrieben», sagt Tschudin. «Solche Geschichten prägen sich bei Frauen ein.»
Seit dem tragischen Fall Céline informieren Gynäkologinnen und Gynäkologen ausführlicher über die Risiken der Pille. Das Informationsmaterial der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe legt Frauenärzten seit 2013 nahe, die Vorgeschichte der Frauen und ihr Risiko für Thrombosen oder Embolien genauer abzuklären. «Wenn Gynäkologen mehr über die Risiken sprechen, schürt das logischerweise auch Skepsis», sagt Tschudin.
Pillenkritikerinnen sehen aber nicht nur in Thromboembolien eine Gefahr. Im Fokus stehen genauso die Auswirkungen auf die Psyche. Deshalb ist der Luzerner Apotheker Christoph Bachmann gegen hormonelle Verhütung. Wer bei ihm regelmässig die Pillen kauft, erhält eine Informationsbroschüre für einen Verhütungscomputer mit auf den Weg. Im Schaufenster hängt ein Plakat, das für hormonfreie Verhütungsmittel wirbt.
«Die Auswirkungen der Pille finde ich absolut bedenklich», sagt Bachmann. Immer wieder suchten ihn Frauen auf, die keine Hormone mehr nehmen wollten. «Hunderte haben mir schon von Begleiterscheinungen erzählt, die sie fertigmachen.»
Damit meint Bachmann nicht nur heftige Nebenwirkungen wie Depressionen oder Thrombosen, sondern auch subtilere Effekte. Ein anderes Körpergefühl. Persönlichkeitsveränderungen. Besonders oft höre er Sätze wie «Ich bin nicht mehr ich selber», «Ich fühle mich fremdgesteuert», «Ich reagiere anders auf die Umwelt». Oder: «Ich habe keine Lust mehr auf Sex.» Englische Anti-Pillen-Aktivistinnen haben ein Wort dafür geprägt: Pill-Fog – Pillennebel.
«Am schlimmsten fand ich die emotionalen Ausbrüche. Ich habe wegen Banalitäten völlig überreagiert, nachdem ich vor sechs Jahren zum ersten Mal mit dem NuvaRing verhütet hatte. Als etwa mein Mitbewohner das letzte Stück Brot gegessen hatte, schmiss ich ihm Beleidigungen an den Kopf, stürmte in mein Zimmer und schlug die Tür hinter mir zu. Oder ich wurde stinksauer auf eine Freundin, nur weil ich beim Badmintonspielen gegen sie verloren hatte. Auch mit meinem Freund habe ich wegen Kleinigkeiten gestritten. Das ist eigentlich überhaupt nicht meine Art. Danach schämte ich mich jeweils in Grund und Boden. Dann erzählte mir eine Kollegin, dass sie mit hormoneller Verhütung auch solche Erfahrungen gemacht hatte. Ich nahm den Ring raus, und meine Stimmung besserte sich sofort. Mein Freund war richtig erleichtert. Heute verhüte ich mit Kondom.»
10 bis 15 Prozent der Frauen, die hormonell verhüten, klagen über Stimmungsschwankungen oder Libidoverlust, sagen Gynäkologen wie Øjvind Lidegaard. Mit dem Wechsel auf ein anderes Präparat sei es aber einfach, die Nebenwirkungen unter Kontrolle zu bringen. Die Gefahren von Thromboembolien sind gut erforscht. Zu psychischen Nebenwirkungen der Medikamente fehlen jedoch Studien. Erst seit ein paar Jahren interessieren sich Forscher vermehrt dafür, was die Pille am Verhalten und an den Gefühlen der Frau verändert.
Erste Studien lassen vermuten: Frauen, die hormonell verhüten, erröten weniger schnell. Sie sind eher eifersüchtig und können Gerüche besser unterscheiden. Sie riechen selber anders. Sie haben mehr Mitgefühl, zugleich können sie Gefühle anderer wie Ekel, Wut oder Trauer schlechter einschätzen. Die Lust auf Sex verändert sich. In bildgebenden Verfahren konnten Forscher zeigen, dass Frauen, die die Pille nehmen, in bestimmten Hirnregionen weniger Volumen haben. Aber: «Solche Veränderungen gibt es schnell, und sie haben keine negativen Auswirkungen», so Studienleiterin Nicole Petersen.
Mehr Hinweise gibt es, dass die Pille die Wahl des Partners beeinflusst. Frauen, die nicht hormonell verhüten, wählen eher dominante Partner. Aber auch die Männer sind vor Auswirkungen der Pille nicht gefeit. Weil die künstlichen Hormone dem Körper eine Schwangerschaft vorgaukeln, fehlt die fruchtbare Zeit um den Eisprung, in der die Frau auf Männer anziehender wirkt. Forscher der Uni New Mexico haben untersucht, wie viel Trinkgeld Stripperinnen bekamen, die sich bei Lap-Dances an die Männer schmiegten. Stripperinnen, die mit der Pille verhüteten, erhielten 30 Dollar weniger pro Stunde als die anderen. Am wenigsten erhielten Frauen, die ihre Tage hatten.
«Es gibt kaum Daten, wie stark diese Effekte auf die Frau sind und welche Rolle die Hormone genau spielen», sagt Birgit Derntl, Professorin für innovative hirnfunktionelle Verfahren an der Uniklinik Tübingen. Die Studienlage zu den Unterschieden zwischen Frauen mit und ohne hormonelle Verhütung sei sehr dünn.
Trotzdem erachtet es Derntl als wahrscheinlich, dass solche Studien das Gefühl des Pillennebels erklären können. «Die Unschärfe in der Wahrnehmung von anderen und von eigenen Emotionen kann dazu führen, dass man sich anders erlebt.» Es brauche dringend mehr Forschung in diesem Bereich: «Ob und wie sich das Identitätsgefühl einer Frau verschiebt, wenn sie hormonell verhütet, hat leider noch niemand untersucht.»
Dass die Pille Körper und Psyche verändern kann, ist trotz der ungenauen Datenlage unbestritten. Gynäkologen wehren sich aber dagegen, dass Frauen deswegen die Pille absetzen. «Man muss auch sagen, wie viele Schwangerschaften die Pille verhindert. Wie viel Lebensplanung sie jungen Frauen ermöglicht», sagt Gabriele Merki, Vizepräsidentin der Europäischen Gesellschaft für Kontrazeption und Kaderärztin für Verhütung am Unispital Zürich. Die Schweiz sei das Land mit den wenigsten Schwangerschaftsabbrüchen in Europa – weil die Frauen sehr verantwortungsvoll verhüteten. Die Pille habe, auch im Vergleich zu früher, nur «sehr, sehr selten» Nebenwirkungen. «Und falls die Frau psychisch schlecht reagiert, kann sie das in einer Kontrolluntersuchung nach drei Monaten sagen. Dann stellt man auf andere Hormone um.»
Im Vergleich zu den Hormonbomben der sechziger Jahre ist die Dosis mittlerweile tatsächlich minim. Was eine Frau heute in einem Monat schluckt, war damals in einem einzigen Dragee enthalten – über 200 Milligramm Östrogene und Gestagene.
«Als ich mit 15 mit meinem ersten Freund zusammenkam, war uns klar: Eine Schwangerschaft wäre eine Katastrophe. Wir wollten daher so sicher wie möglich verhüten. Damals nahmen fast alle Frauen in meiner Klasse die Pille, es gehörte einfach dazu. Also liess ich mir Yasmin verschreiben. Nebenwirkungen hatte ich nicht. Trotzdem habe ich die Pille vor drei Jahren abgesetzt. Es ekelte mich richtig an, täglich Hormone zu mir zu nehmen. Ich wollte das nicht mehr. Ich bin aber frustriert, weil es wenig gute Alternativen gibt. Ich mag Kondome nicht, die Gummibarriere stört das schöne Gefühl beim Sex. Die Kupferspirale darf ich nicht einsetzen lassen, weil meine Mens zu stark ist. In den letzten Jahren habe ich sehr unsicher verhütet – mein Freund hat darauf geachtet, nicht in mir zu kommen. Klar weiss ich, dass es im Lusttröpfchen auch Spermien haben kann. Ich habe daher auch immer wieder Angst, schwanger zu werden. Aber die Pille will ich trotzdem nicht mehr.»
Entsprechend stark waren denn auch die Nebenwirkungen. Rund ein Viertel der Frauen hat die Pille in den siebziger Jahren laut dem Magazin «Der Spiegel» wegen massiver Nebenwirkungen wieder abgesetzt: wegen Depressionen, Gewichtszunahme, Libidoverlust. Zudem begannen sich Feministinnen gegen die Pille zu wehren, weil sie die sexuelle Revolution umkehre: «Ich will ein Stück Autonomie für mich selbst zurückgewinnen, die uns die Pille genommen hat, weil sie uns in den Augen der Männer jederzeit sexuell verfügbar macht», so eine Frau damals im «Spiegel».
Als die Hormondosis kleiner wurde, wuchs die Beliebtheit der Pille rasant. Besonders bei jungen Frauen. In der letzten grossen Gesundheitserhebung der Schweiz vor fünf Jahren gaben 64 Prozent der 15- bis 24-Jährigen an, dass sie die Pille nehmen.
«Noch nie haben mehr Teenager mit der Pille verhütet als heute», sagt Expertin Gabriele Merki. Und das, obwohl immer weniger 14- bis 15-Jährige Sex haben. «Der Druck ist bei den Heranwachsenden oft sehr hoch, mit den Mensschmerzen und Hautveränderungen», sagt Merki. «Sie sind schwer zu überzeugen, dass es besser ist, wenn man ihnen die Pille nicht verschreibt. Das gilt selbst für Frauen, die gar keine Verhütung brauchen.»
Das wissen natürlich auch die Pharmafirmen und vermarkten die Pille als Lifestyleprodukt für junge Frauen, als tägliches Dragee für schönere Haare und bessere Haut. Ohne dass die Frauen genügend über mögliche Nebenwirkungen informiert sind. Die Pharmafirmen wissen: Frauen entscheiden sich meist im Teenageralter für eine Pille. Die Mehrheit bleibt dann bis zum Kinderwunsch bei ihrem Präparat.
Um die jugendliche Zielgruppe anzusprechen, werben Pharmariesen gezielt im Internet. So landen junge Frauen beim Googeln der Begriffe «Pille», «Verhütung» oder «Antibabypille» oft auf Seiten der Pharma, die nicht immer auf den ersten Blick als solche erkennbar sind. Vordergründig publizieren die Websites Fakten zur sicheren Verhütung und Ratschläge für junge Frauen, die sich zum ersten Mal für Verhütungsmittel interessieren. Aber gleichzeitig betonen die Firmen die Beauty-Aspekte: reine Haut, gute Figur.
Einen Schritt weiter ging Bayer. Der Pharmariese bezahlte ab 2007 jahrelang eine Wiener PR-Agentur, um gefälschte Postings in Onlineforen zu veröffentlichen. In mehreren tausend Einträgen erzählten solche «Fake-Frauen» von ihren Erfahrungen mit Verhütungsmitteln. Zum Beispiel: «Ich habe mir vor einem Jahr die Hormonspirale Mirena einsetzen lassen, und ich muss sagen, dass ich sehr zufrieden damit bin. Hatte am Anfang Angst vor dem Einsetzen, doch das war halb so schlimm.» Oder: «Ich bin eine glückliche ‹Hormonanwenderin›, wie du es nennst.» Die Schreiberlinge wurden sogar offiziell angehalten, Rechtschreibfehler zu machen. Dafür wurde Bayer Austria vom österreichischen Ethikrat scharf kritisiert. Die Firma liess darauf sämtliche Einträge entfernen.
Von solchen Marketingmassnahmen betroffen sind meistens Pillen der dritten und vierten Generation – also Pillen mit neuen Gestagenen wie Drospirenon. Die bekanntesten sind Yasmin und Yasminelle von Bayer. Diese Gestagene mindern Akne, machen volles Haar und wirken entwässernd – die Frauen nehmen also weniger zu oder verlieren sogar Gewicht. Gleichzeitig erhöhen sie allerdings das Thromboserisiko: Rund neun bis zwölf pro 10'000 Frauen erleiden mit ihnen eine Thrombose, im Vergleich zu fünf bis sieben Frauen mit einer Pille der zweiten Generation. Bei Frauen wie Céline, die gegen Bayer klagen, geht es um solche neueren Pillen.
«Ich habe meine erste Pille mit 16 verschrieben bekommen, weil ich unter extremen Regelschmerzen litt. Das hat zwei Jahre lang funktioniert, doch dann haben die Schmerzen wieder zugenommen. Also habe ich auf Rat der Frauenärztin das Präparat gewechselt – mehrere Male. Richtig vertragen habe ich keins: Bei der einen Pille hatte ich üble Stimmungsschwankungen samt depressiven Phasen, die andere hat mir schmerzhafte Wassereinlagerungen in den Beinen beschert. Aus Mangel an Alternativen – für die Spirale war meine Gebärmutter noch zu klein – haben mein Freund und ich ein ganzes Jahr lang mit Kondom verhütet. Das hat sich angefühlt wie russisches Roulette. Kurz testete ich einen Zykluscomputer, der den Hormongehalt im Urin misst. Das war aber zu aufwendig und unangenehm. Heute nehme ich wieder jene Pille, die mir früher die Beine hat anschwellen lassen. Lustigerweise vertrage ich sie jetzt ganz gut.»
«Wir empfehlen, dass man bei einer jungen Frau mit der zweiten Generation anfängt», sagt Stephan Krähenbühl, Präsident der Swissmedic-Expertenkommission für Medikamentenzulassung. «Es ist bedenklich, dass die neueren Pillen manchmal primär für den Lifestyle genutzt werden – und nicht für die Verhütung.» Trotz dem erhöhten Thromboserisiko, trotz den Empfehlungen von Swissmedic schlucken immer noch mehr Frauen in der Schweiz die Pillen mit den neuen Gestagenen. Sieben der zehn meistverschriebenen Präparate sind solche der dritten und vierten Generation.
Die Verschreibungspraxis habe sich aber geändert, ist Krähenbühl überzeugt. Bei Neuverschreibungen setzen Ärzte wieder vermehrt auf Pillen der zweiten Generation. Auch David Ehm, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, gibt Frauen in seiner Praxis zu Beginn nur diese Präparate. «Dass wir immer nur die neuen Pillen verschreiben, ist üble Nachrede», ärgert er sich. «Was sollten wir für ein Interesse daran haben, jemandem eine Pille zu verschreiben, die Blutgerinnsel auslöst?»
Wenn Frauen die Pille absetzen, suchen sie nach anderen Verhütungsmethoden. Sie wählen manchmal auch solche, die jahrelang bekämpft wurden, weil sie unsicher sind. In den USA sprechen Medien bereits von der Pull-out-Generation – der Mann achtet darauf, nicht in der Frau zu kommen. In der Schweiz werden mehr Verhütungsmittel verkauft, die weniger Hormone enthalten, wie etwa die Hormonspirale oder der NuvaRing. Beliebt sind auch Kupferspiralen und Kupferketten, die in der Gebärmutter sitzen und mittels Kupferionen die Beweglichkeit der Spermien einschränken und die Gebärmutterschleimhaut verändern.
Verhütungscomputer haben ebenfalls ihre Nische – allen voran die Schweizer Erfindung Daysy, seit 2014 auf dem Markt. Der Vater von Daysy-Chefin Natalie Rechberg hat in Deutschland vor 30 Jahren den weltweit ersten Verhütungscomputer entworfen, weil seine Frau unter starken Nebenwirkungen der Pille litt. «Meine Mutter war eine der ersten Frauen, die einen solchen Computer benutzten», sagt Rechberg. Auch die 36-Jährige stieg vor 14 Jahren auf einen Computer um, nachdem sie sich in ihren Zwanzigern die Pille hatte verschreiben lassen. «Mein Vater war entsetzt, als er merkte, dass ich die Pille nahm», erinnert sie sich lachend.
Rechberg ist soeben vom Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt. Sie beeilt sich zu sagen, ihr Baby sei geplant gewesen und «nicht auf ein Versagen des Verhütungscomputers zurückzuführen».
Wenn man den Computer richtig nutzt, ist er laut unabhängigen Studien ebenso sicher wie die Pille. Jeweils am Morgen legt die Frau während 30 Sekunden ein Thermometer unter die Zunge. Wenn der Computer Rot anzeigt, muss die Frau zusätzlich verhüten. Und bei Grün? «Da kann sie sich frei vergnügen», sagt Rechberg.
Die Pillenskepsis ist gut für Rechbergs Geschäft. Sie verkauft etwa 10'000 Computer pro Jahr. Ihre Kundinnen sind fast alle über 25 Jahre alt. «Die Pille ist so einfach zu verschreiben und zu nehmen», sagt sie. Bei anderen Verhütungsmethoden wie dem Computer oder Kondomen müsse man bewusster mit seinem Körper umgehen und diszipliniert sein.
- Östrogen: wichtigstes weibliches Sexualhormon, wird hauptsächlich in den Eierstöcken, Follikeln und im Gelbkörper produziert
- Progesteron: wichtigster Vertreter der Gestagene (neben den Östrogenen die zweite wichtige Klasse der weiblichen Sexualhormone)
- FSH: follikelstimulierendes Hormon, das die Reifung vom Follikel bis hin zum Eisprung bewirkt
- LH: luteinisierendes («gelbfärbendes») Hormon, das zusammen mit dem FSH für die Reifung und Produktion der Geschlechtszellen zuständig ist und bei der Frau den Eisprung sowie die Gelbkörperbildung fördert
Interview: «Die Pille ist ein Medikament, nicht ein Sugus»
Mediziner müssen besser über die Risiken der Pille aufklären, sagt Frauenarzt David Ehm. Und er kritisiert die Medien für überspitzte Schlagzeilen.
Fotos: Claudia Brändli/Universitätsspital Zürich, PD
Infografik: Beobachter/AK
Quellen: David Ehm (Präsident SGGG und Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe FMH). «Mensch Körper Krankheit» (Renate Huch, Klaus D. Jürgens [Hgg.], Urban & Fischer, 2015). www.cyclotest.de
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