Genug wars schon lange. Und jetzt ist es zu viel. «Sakit, sakit, sakit!» Martin Rohacek geht in der schummrigen Küche hin und her, schwitzt, verzieht das Gesicht. Und schüttelt den Kopf.

«Sakit» bedeutet «Schmerz» in der Penan-Sprache.

Draussen brennt die Nachmittagssonne auf die Blechdächer von Long Beluk, einer Siedlung im Dschungel Borneos, sieben oder acht Autostunden von der Küste. Im Kindergarten, einer Bretterbude oberhalb der Kirche, warten drei Dutzend Patienten darauf, dass Doktor Martin wiederkommt. Aber Rohacek kann nicht noch mehr geben, nicht jetzt. Dabei ist er erst in der Hälfte seiner Expedition.

Partnerinhalte
 
 
 
 

Bis hierher ist Notarzt Rohacek bereits vier Wochen lang von Siedlung zu Siedlung gezogen; zu Fuss durch das blutegelverseuchte Dickicht des Regenwalds, in wackligen Booten auf braunen Flüssen oder per Jeep über das furchige Strassennetz der Holzfirmen, stets in feuchter Hitze oder strömendem Regen.

Der 44-Jährige zieht zum dritten Mal mit einer «mobilen Klinik» durch den Dschungel Borneos. Die Wanderpraxis besteht aus einer einzigen Plastikkiste mit 15 Kilo medizinischer Ausrüstung und zwei Säcken Zahnarztutensilien; die Belegschaft aus Rohacek selbst, einer einheimischen Krankenschwester, einem Übersetzer und wechselnden Trägern und Fahrern. Koordiniert wird das Projekt vom Bruno-Manser-Fonds (siehe «Ground Zero der Abholzung»).

Nur das Zahnarztbesteck blieb zurück

Am Anfang war ein Zahnarzt dabei. Aber der musste leider vorzeitig wieder abreisen; ist auf dem Airstrip von Long Seridan mit einem aufmunternden «Machs gut, mein Junge!» in den Flieger gestiegen. Das Zahnarztbesteck hat er dagelassen. Denn zahnmedizinisch, das weiss Rohacek von seinen ersten beiden Touren 2010 und 2012, gibts im Dschungel fast am meisten zu tun. Und weil der Dentist nun weg ist, übernimmt er auch noch diesen Job. Dabei ist die Belastung sonst schon gross. Auf manchen Marschetappen benötigte die Gruppe elf Stunden für 15 Kilometer, weil der vorderste Mann mit der Machete Schritt für Schritt den verwachsenen Pfad freischlagen musste.

Die einheimischen Übersetzer und Träger hatten diese Strapazen bald über; vor allem weil ihnen Rohacek und der Zahnarzt, beide ausdauernde Berggänger, ständig davonrannten, sobald freie Bahn war. «Sie mögen es nicht, wenn man schneller ist als sie», sagt Rohacek.

Quelle: Tomas Wüthrich
Mehr Infos im Spezial

Reisenotizen, Filmdokumente und weitere Fotos der Dschungelexpedition auf Borneo finden Sie in unserem Online-Spezial.

Quelle: Tomas Wüthrich

Unterwegs zum nächsten Einsatz: Schwester Beatscy, Notarzt Rohacek.

Quelle: Tomas Wüthrich

Er ist ein grossgewachsener, drahtiger Mann, seine Schritte sind so lang wie seine Begleiter gross. Für seine Übersetzer ist er der «laki lakau» – «der Mann, der geht». Umgekehrt gibt es in der Expeditionsgruppe auch für die Übersetzer Spitznamen; «der Heilige» und «der Dicke» werden sie genannt –weil der eine oft betet und der andere nicht gern marschiert.

Martin Rohacek hingegen braucht Bewegung. Vor allem in diesen Tagen, wo der Transport per Jeep vonstattengeht, hätte er sie bitter nötig. Denn der Klinikalltag im Dschungel ist hart. Rohacek sitzt jeweils irgendwo auf einer Veranda vor einem Langhaus oder vor einer Kirche, in einer staubigen Garage oder einer sauberen Wohnung, meistens auf dem Boden, seltener an einem klapprigen Tisch. Um ihn herum versammelt sich das Dorf, jeder sein speckiges Bündel von Krankenakte unterm Arm.

Rohacek hört sich geduldig ihre Geschichten an; vom ersten bis zum letzten Patienten, egal, wie viele kommen. Er hört Atemgeräusche ab, ertastet Rücken- und Bauchschmerzen. Für die Angehörigen des Penan-Stamms ist die Konsultation vor der versammelten Gruppe ein Ereignis. Wer schon dran war, bleibt sitzen und schaut den anderen zu. Stundenlang. Manchmal den ganzen Tag.

Immer an Rohaceks Seite ist Beatscy, die einheimische Krankenschwester. Die ersten drei Wochen rief er sie «Baschi». Sie korrigierte ihn nicht, aus Respekt vor ihm. Doktor Martin sei immer so ernst, sagt sie. Aber in den vergangenen Tagen sind die beiden zusammengewachsen. Die 23-Jährige übersetzt effizient, beruhigt nervöse Patienten und filtert aus den Klageliedern über allgemeines Unwohl die für Rohacek brauchbaren Informationen. Sie ist die Einzige der Truppe, die in Sachen Ausdauer mit Doktor Martin mithalten kann.

Wenn er arbeitet, ist Rohacek ein Mann ohne Bedürfnisse. Im unaufhörlichen Reigen der Konsultationen haben Hunger, Durst und Müdigkeit keinerlei Bedeutung. Dass die Visiten vor Publikum stattfinden, macht spannende Diagnosen ansteckend: Gibt er jemandem wegen einer bösen Darminfektion Antibiotika, haben plötzlich alle Blut im Stuhl. Und einer, der wegen was ganz anderem Panadol bekommt, will seine weissen Tabletten lieber auch gegen Antibiotika tauschen – die sind rot.

«Ich mache gute Medizin»

«Sie kommen nicht wegen des Arztes, sie kommen wegen der Pillen», sagt Martin Rohacek. Er zuckt mit den Schultern – an guten Tagen reicht das, um aufkommende Zweifel abzuschütteln.

Aber es gibt auch andere Tage. Dann stellt auch er sich die Frage, weshalb er diese Strapazen zum dritten Mal auf sich nimmt. Natürlich: Da ist das Privileg seiner Ausbildung, an dem er die weniger Glücklichen teilhaben lassen will. Auch lernt er gern andere Kulturen kennen. Und ein Stück weit ist es auch eine Flucht. Aus der Schweiz und dem ganzen Karrieredenken, «wo man viel Politik machen muss, um vorwärtszukommen». Karriere ist Rohacek nicht wichtig. Für ihn zählt nur eins: «Ich mache gute Medizin.»

Das wissen auch seine Patienten zu schätzen. Nur: Wer ein Beutelchen mit Tabletten in der Hand hat, wendet sich wortlos ab. «Dank, das muss man sich hier vorstellen», so Rohacek. Geben und Nehmen ist den Penan selbstverständlich. «Das ist für sie wie im Wald», sagt der Arzt. «Wer etwas braucht, geht hin und nimmt, solange es hat. Und wenns nichts mehr hat, ist es halt so.»

Das gilt auch im Alltag. Eine erlegte Wildsau wird sofort unter allen Parteien im Dorf aufgeteilt. Waren mehrere Jäger erfolgreich, wird nacheinander Stachelschwein, Frosch, Affe, Fisch und Vogel serviert und die halbe Nacht lang gegessen. Fleisch wird in dieser Hitze schnell sauer und nach wenigen Tagen madig. Es hat, wenns hat. Diese Gegenwärtigkeit erschwert Rohaceks Aufgabe als Arzt. Wenn er einen Patienten fragt, seit wann seine Beschwerden da sind, kommt entweder «seit gestern» oder «schon lange». Zudem begegnet er immer wieder Leuten mit den gleichen Leiden wie zwei Jahre zuvor, allerdings in fortgeschrittenem Stadium.

Quelle: Tomas Wüthrich

Nur wenige der Patienten, die Rohacek auf der letzten Reise zu Abklärungen oder zur Behandlung ins Spital geschickt hat, sind hingegangen, obwohl er einzelnen ernsthafte oder gar lebensbedrohliche Herzerkrankungen diagnostiziert hat.

Die Leute müssten eigentlich weggehen

In einem kleinen Dorf ein paar Tage zuvor hat er ein Mädchen und einen Buben untersucht, die an Windpocken erkrankt sind. Die Mutter, Anfang 20, hatte die Krankheit selbst nie; und ausserdem ist sie schwanger. Sie dürfte keinen Kontakt zu den kranken Kindern haben. Rohacek wurde deutlich: «Sie können nicht hierbleiben. Sie müssen weg. Wenn Sie die Krankheit bekommen, kann das Kind in Ihrem Bauch sterben. Und Sie auch.» Er sagte es zweimal, Beatscy übersetzte es genauso oft. «Verstehen Sie?» Die Frau verstand, die Kinder und die anderen Anwesenden auch. Alle rutschten ein wenig von ihr weg, bis sie allein an der Hüttenwand lehnte. «Wahrscheinlich ist sie dortgeblieben», sagt Rohacek.

Die Leute würden einfach nicht gern weggehen. Schon gar nicht in die Klinik. «Selbst wenn man ihnen anbietet, sie mit dem Jeep ins Spital zu fahren. Dann kommen sie einfach nicht zum Treffpunkt.» Manchmal schöben sie vor, sie hätten kein Geld, aber das Geld sei häufig nicht das Problem. «Sie haben Angst.»

Die Penan sind tatsächlich ein sehr scheues Volk. Es gibt die Vermutung, dass sie zu Waldnomaden wurden, weil sie vor Gebietsstreitigkeiten in den Dschungel geflüchtet sind. Allerdings: Eine gewisse Skepsis gegenüber dem örtlichen Gesundheitswesen ist vermutlich gesund. Einem jungen Mann operiert Rohacek einen fünf Zentimeter langen, mit Widerhaken besetzten Fischknochen aus der Hand. Das Personal im Provinzspital in Long Bedian war mit der Aufgabe überfordert gewesen und hatte den Burschen unbehandelt wieder nach Hause geschickt.

Rauchlunge und Wunderheilungen

Obwohl auch er sich nicht explizit bedankte: Dieser Patient dürfte Martin Rohacek sehr dankbar sein. Genauso die vielen Leute mit unterschiedlichsten Leiden, die ihnen das Leben zur Hölle machen: Hautkrankheiten, Ohreninfektionen, bakteriell verursachte Magenentzündungen mit Geschwüren, Verwurmung und Ekzeme. Ihnen allen kann Rohacek helfen. Er bastelt aus PET-Flaschen Inhalatoren für alte Leute, die nach Jahrzehnten des Kochens am offenen Feuer an chronischen Lungenkrankheiten leiden, und öffnet Abszesse, aus denen esslöffelweise Eiter fliesst. Und manchmal macht er sogar den Wunderheiler: Ein Mädchen, das seit ein paar Wochen gelähmt ist, wird vor ihm auf den Boden gelegt. Rohacek kontrolliert die Reflexe der Kleinen – und hüpft dann kindlichst vor ihr auf der Veranda herum. Sie springt ihm fröhlich hinterher. «Manchmal reden sie einander Krankheiten ein.»

Sooft es Rohacek gelingt, körperliche Leiden der Penan zu lindern – ihre Kultur kann niemand retten. Den alten Glauben, das Wissen und die Mythen der Penan haben evangelische Missionare bereits in den dreissiger Jahren mit ihrer Frohen Botschaft ausgehöhlt, ihre Lebensgrundlage haben sich die Abholzungsfirmen geholt. Auf seiner Dschungelvisite sieht Rohacek im Zeitraffer, was geschieht, wenn eine ganze geistige und materielle Welt ins Rutschen gerät.

In den entlegenen Gebieten, die er im ersten Teil der Reise aufsucht, leben einzelne Penan-Gruppen noch vollnomadisch. «Die können noch jagen», sagt er und erzählt von einem Jäger namens Peng, der an einem Tag 60 Kilometer durch den Wald rennt und mit einer ausgenommenen Wildsau auf dem Rücken zurückkehrt, in deren Bauch er die drei ebenfalls erlegten Ferkel gestopft hat.

Quelle: Tomas Wüthrich

Ein paar Rappen pro Tonne für die Einheimischen: Holzschlag im Dschungel von Sarawak.

Quelle: Tomas Wüthrich
«Wenn sie mal ein Motorrad haben, machen sie keinen Schritt mehr»

Nur ein paar Dutzend Kilometer weiter leben Gruppen, die sich früh mit der Abholzung arrangiert haben und seit Jahrzehnten sesshaft sind. Dort steht vor jedem Haus ein Motorrad. Am Sonntagmorgen knattern die Einwohner damit die 80 Meter über den Dorfplatz zur Kirche rüber. «Wenn sie mal ein Motorrad haben, machen sie keinen Schritt mehr.»

Irgendwo dazwischen liegen Siedlungen wie Long Selulung. Noch vor fünf Jahren lebten diese Familien im Wald. Als Rohacek sie 2010 erstmals besuchte, waren sie gerade ein Jahr sesshaft und «völlig orientierungslos». Mittlerweile haben sie sich ein wenig eingelebt. Im Wald zu leben sei besser gewesen, sagt Lillin, ein vierfacher Vater in den Dreissigern. Aber wegen der Abholzung sei es immer schwieriger geworden, Rattan, Früchte und Sago für Brot zu finden.

Es sind aber nicht allein die schwindenden Jagdgründe, die auch die letzten Penan in die Sesshaftigkeit drängen. Sie ist auch die Voraussetzung für den Zugang zum Licht und Dunkel der Zivilisation; zu Bildung und medizinischer Versorgung, zu Konsum und Besitz. Wenn abends in Long Selulung der Generator neben dem Langhaus anspringt, rennen die Kinder jubelnd in die Stuben. Minuten später überstrahlt das blaue Flackern des Fernsehers den Feuerschein aus der Küche. Es läuft ein malaysischer Actionstreifen. Lillin setzt sich dazu und schnitzt Blasrohrpfeile. Fragt man, woher die Leute Geld für Handy, Töff und TV haben, heisst es erst: «Vom Reisverkauf.»

17'000 Franken für ein Kilo rares Holz

Auf Nachhaken hin folgt die Erklärung, das Geld stamme aus dem Verkauf eines seltenen Holzes namens Gaharu, das in Topqualität bis zu 60'000 malaysische Ringgit pro Kilo bringt – rund 17'000 Franken. Über Zwischenhändler landet es bei den Chinesen, die es zur rituellen Tempelberäucherung und Parfumherstellung verwenden.

Ein Freiwilliger einer Kirchgemeinde, der gerade hilft, die vom Wind zerzauste Kirche wieder instand zu stellen, liefert unaufgefordert eine andere Erklärung. Die Leute von Long Selulung hätten von der Holzfirma Geld bekommen; fünf Ringgit – Fr. 1.40 – pro Tonne gewonnenes Holz. Die Bewohner streiten das ab. So oder so: Die Beteiligung wäre ein Witz – fast wie damals mit den Glasperlen bei den Indianern.

Lillin ist guter Dinge, dass seine Gruppe ihre Traditionen wahren kann. Wie viele geht er regelmässig mit dem Blasrohr auf die Jagd. Und im Dschungel bewegt er sich wie ein Geist, leicht, rasch und leise. Seine Generation ist noch als Teil des Waldes aufgewachsen. Doch Lillins Kinder werden tagsüber in der Schule sitzen. Und abends springt der Generator an.

In anderen Dörfern ist dieser Bruch schon deutlich: Neben der letzten Generation mit traditionellem Schmuck und traditioneller Kleidung steht die mit Eyeliner, falschen Markenkleidern und gefärbtem Haar, die sich für Fotos in die gleiche Pose wirft wie Teenies überall auf der Welt. Und so löst sich die alte Lebensweise der Penan auf wie ihr Zahnschmelz in der süssen Säure der Softdrinks.

In der Gegend, wo Rohacek in diesen Tagen unterwegs ist, war der Bruno-Manser-Fonds (BMF) bisher nicht sehr präsent. Auch Rohaceks Besuch wird nicht an die grosse Glocke gehängt. BMF-Geschäftsleiter Lukas Straumann stellt just in diesen Tagen in der Provinzhauptstadt Kuching sein neues Buch vor. Es zeigt auf, wie sich der heutige Gouverneur von Sarawak, Taib Mahmud, und sein Clan am Kahlschlag des Dschungels dumm und dämlich verdient haben. Die Lage könnte deshalb etwas angespannt sein, zum ersten Mal seit Jahren.

In manchen Siedlungen weiss darum kaum jemand, wer Rohacek ist und dass er das alles ohne Bezahlung auf sich nimmt. Er könnte ja einer dieser Ärzte sein, die die Regierung hin und wieder vorbeischickt. Rohaceks Angebot schafft eine Nachfrage, vor allem was die Zähne angeht. In manchen Siedlungen reisst er stundenlang faule Stummel aus den Mäulern von Jung und Alt. «No pay, no pain», ganz anders als beim örtlichen Zahnarzt, sagen seine zufriedenen Kunden. Das spricht sich herum: Die Leute reisen mit Töffs und Autos an und wollen lieber einen Zahn mehr raushaben als einen weniger. Was gezogen ist, macht keine Schwierigkeiten mehr. Selbst junge Frauen lassen sich, ohne zu hadern, beide oberen Schneidezähne ziehen. Und weil die Siedlungen grösser und die Leute mobiler werden, je weiter westlich Rohacek kommt, recken sich ihm immer mehr aufgesperrte Mäuler entgegen.

«So ist es zu viel – für alle»

Trotz Strapazen und dunklen Momenten zweifelt Rohacek nicht am Projekt. Sonst wäre er nicht zum dritten Mal dabei. Er zitiert die Eckdaten: einen grossen Teil der Zielpopulation erreicht, 30 Prozent der Fälle vor Ort behandelt, Fallkosten gering gehalten. Viel Gutes mit wenig Geld getan. Das ist ein Erfolg. Aber man sollte die Tour häufiger machen. Und die Last auf mehr Leute verteilen. «So ist es zu viel – für alle. Auch für mich.»

Das ist vermutlich seine letzte Dschungeltour. Im kommenden Herbst geht er zusammen mit seiner Frau nach Afrika, um dort in einer Klinik zu arbeiten. Die mobile Klinik in Borneo wird er von dort aus als Projektleiter koordinieren – und im Sommer noch mal für drei Wochen in den Dschungel kommen, um einen Nachfolger einzuarbeiten, «sofern er nicht abspringt». Auf jeden Fall wird er in Ärztezeitschriften Inserate schalten, um weitere Bewerber zu finden. Das Anforderungsprofil ist hoch: Im Dschungel muss ein Arzt rein klinisch arbeiten, also ohne jegliche Apparate, nur mit seinen Händen und Augen und dem Stethoskop; er muss mit Gesprächen und Wissen diagnostizieren. Auch muss er ausdauernd sein – körperlich, aber vor allem auch mental –, um Klima, Essen, Insekten und Erschöpfung zu ertragen. Und bereit und fähig, drei Monate auf Einkommen und Beziehung zu verzichten. Vielleicht muss man dafür einfach Rohacek sein.

In Long Beluk ist die Sonne untergegangen. Rohacek hat sich nach der aufkeimenden Verärgerung wieder zusammengerauft, hat die Behandlung fortgesetzt und zusammen mit Beatscy unaufhörlich Zähne gezogen: 41 Stück in sechseinhalb Stunden. Er sieht längst nur noch Zähne, keine Patienten mehr – wie ein Arzt in der Notaufnahme. «Das geht nur so.» Beatscy hat sich die ganze Zeit über um die Menschen an den Zähnen gekümmert, sie gehätschelt, ihre Köpfe festgehalten und wo nötig mit blossen Fingern Mundwinkel gespreizt.

Irgendwann wischt Rohacek mit dem nackten Fuss über den Boden, halb erstaunt, halb belustigt: «Hier liegen überall Zähne.» Er leuchtet Beatscy mit der Stirnlampe ins Gesicht. «Wie viele warten da draussen noch?»

«Dreizehn», sagt Beatscy.

«Und wie viele machen wir noch?»

«Alle?»

Alle, das hiesse vielleicht noch mal 20 Zähne, noch mal drei oder vier Stunden Arbeit. Rohacek schüttelt den Kopf.

«Geht nicht mehr.»

Die beiden einigen sich darauf, die noch Wartenden am nächsten Morgen vor der Weiterreise zu erledigen. Als im Kindergarten das Licht ausgeht, ist es 21 Uhr vorbei. Rohacek geht hinunter in die Küche des Pfarrhauses und sucht einen Teekrug. Er setzt Wasser auf, um darin das Zahnarztbesteck auszukochen. Danach wird er was essen, sich waschen, das Moskitonetz aufbauen und sich schlafen legen. Noch zwei Tage bis zur Hälfte.

«Ground Zero der Abholzung»

Der Bruno-Manser-Fonds (BMF) setzt sich für den Erhalt tropischer Regenwälder und die Rechte der dortigen Bevölkerung ein, vor allem im malaysischen Bundesstaat Sarawak. Fonds-Gründer und Namensgeber Bruno Manser machte das dort lebende Volk der Penan in den neunziger Jahren mit seinen Aktionen zum Schutz des Regenwaldes weltbekannt. In den scheuen und friedfertigen Waldnomaden, die in völligem Einklang mit der Natur lebten, hatte der Basler Umweltaktivist sein Ideal gefunden. Doch da stand die paradiesische Existenz der Penan bereits vor dem Ende. Lokale Firmen hatten längst mit der Abholzung des Regenwalds begonnen.

Seither ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Bruno Manser ist seit Frühling 2000 im Dschungel verschollen und der Regenwald ist grösstenteils zerstört. Sarawak wird heute als «Ground Zero der Abholzung» bezeichnet. Die meisten der rund 10'000 Penan sind mittlerweile sesshaft, nur einzelne Gruppen leben noch vollnomadisch. Der BMF setzt sich mit Projekten weiter für ihre Rechte, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur ein.

Quelle: Tomas Wüthrich
Weitere Infos

Bruno Manser Fonds: www.bmf.ch