Die 17-jährige Céline Sutter aus Murten FR hilft, ihren 15-jährigen Bruder Marc zu pflegen. Er leidet an einer seltenen Erkrankung des zentralen Nervensystems. Ab und zu muss die Mutter für ein, zwei Stunden weg – so lange kann Marc nicht allein bleiben. Dann übernimmt Céline.

«Mir ist wichtig, dass sie möglichst wenig helfen muss», sagt ihre Mutter Sonja. «Die Pflege von Marc ist meine Aufgabe, nicht ihre.» Ganz ohne die grosse Schwester geht es aber nicht. Für Céline ist das ganz normal.

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«Erwachsene können sich für oder gegen die Pflege von Angehörigen entscheiden. Doch Kinder haben keine Wahlfreiheit.»

Sabine Metzing, Pflegewissenschaftlerin

«Pflegende Kinder kennen das Leben nicht anders. Chronische Krankheit und Pflege gehören für sie zum Alltag», sagt Sabine Metzing. Die deutsche Pflegewissenschaftlerin ist auf das Thema spezialisiert. «Erwachsene können sich für oder gegen die Pflege von Angehörigen entscheiden. Doch Kinder haben keine Wahlfreiheit.» Dennoch sieht sie positive Aspekte: Das grosse Engagement bringe Kindern ein hohes Verantwortungsbewusstsein und das Gefühl, gut auf das Leben vorbereitet zu sein.

Doch es gibt auch eine Kehrseite. Pflegende Kinder leiden häufiger als andere unter Müdigkeit, Kopf- und Rückenschmerzen. Das zeigt eine österreichische Studie von 2015. Und: Schule und Ausbildung kommen oft zu kurz, Hobbys und Freunde bleiben manchmal ganz auf der Strecke.

Nicht so bei Céline. Sie fühlt sich selten eingeschränkt, «meine Mutter gibt mir grosse Freiheiten». Céline ist in Schule und Sportverein sehr engagiert, trainiert mehrmals wöchentlich. Sonja Sutter will, dass Céline ein möglichst normales Leben führen kann.

Wenn die Krankheit einen Elternteil betrifft, ist das kaum mehr möglich. Dann müssen Kinder plötzlich einkaufen gehen, kochen und jüngere Geschwister betreuen. Manche sind laut Fachfrau Sabine Metzing bis zu 20 Stunden pro Woche mit Hausarbeit und Pflege beschäftigt.

«Kinder zum Schweigen angehalten»

«Pflegende Kinder und Jugendliche bleiben unsichtbar. Auch weil die betroffenen Familien nicht über ihre Probleme reden», sagt Expertin Agnes Leu von Careum Forschung, dem Forschungsinstitut der Kalaidos Fachhochschule. «Viele haben Angst vor Eingriffen durch die Behörden, und auch die Kinder werden zum Schweigen angehalten.»

In der Schweiz gibt es noch keine Untersuchungen zum Thema. Agnes Leu möchte das ändern. In einem Forschungsprogramm will sie herausfinden, was pflegende Kinder und Jugendliche in der Schweiz beschäftigt. Und wie man sie unterstützen kann. Dazu brauche es in erster Linie Aufklärung: «Man kann diese verletzliche Gruppe nur richtig unterstützen, wenn alle involvierten Stellen sensibilisiert sind.» Teilergebnisse der Studie werden Ende März veröffentlicht.

Erkenntnisse aus Österreich zeigen: Betroffene Kinder wünschen bessere Aufklärung über die Krankheit, praktische Hilfe und Beratung im Pflegealltag sowie Anlaufstellen für Notfälle. Und vor allem, dass sie Schule und Pflege unter einen Hut bringen können.

Die Schulleistungen leiden

Die Doppelbelastung Schule und Pflege ist problematisch. Aus internationalen Studien weiss man, dass viele pflegende Kinder schlechte Bildungschancen haben. Allerdings: In Grossbritannien, wo seit den neunziger Jahren zum Thema geforscht wird, sind Schulschwierigkeiten dank gezielten Angeboten rückläufig. «Verbesserungen sind also möglich», sagt Agnes Leu. Auch mit Gesprächsgruppen mache man in England gute Erfahrungen.

Was bleibt, ist die ständige Sorge um die kranke Person. Oft wäre den Kindern schon ganz simpel geholfen – etwa indem sie während des Unterrichts das Handy eingeschaltet lassen dürfen. Das setzt einen offenen Umgang mit der Situation in der Familie voraus; häufig gibt es dann sogar mehr Unterstützung als erwartet. Céline Sutter spricht im Freundeskreis offen über die Krankheit ihres Bruders und macht damit gute Erfahrungen. «Und da alle davon wissen, können sie mir auch in fast jeder Situation helfen.»n

Internet und Buchtipp

Wissenswertes zu jungen Pflegenden: www.careum.ch
Sabine Metzing: «Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige»; Verlag Hans Huber, 2007, 188 Seiten, CHF 40.90