Der Retter aus der Schweiz
Im Flüchtlingslager Idomeni vegetierte wochenlang ein schwerst verletzter Syrer vor sich hin. Bis Matthias Keller ihn aus der Hölle holte.
Veröffentlicht am 10. Mai 2016 - 15:42 Uhr
Offene Wunden am ganzen Körper, aufgeweichte Haut, totes Gewebe. Der querschnittgelähmte Abdul Hady liegt in einem kleinen Zelt im griechischen Flüchtlingslager Idomeni, wenige hundert Meter vor der abgeriegelten mazedonischen Grenze entfernt. Wochenlang liegt der 22-jährige Syrer auf Wolldecken. Alle paar Tage kommt ein Arzt, wechselt die Verbände und hilft, so gut es geht. Ein deutscher Arzt fotografiert das Kriegsopfer, er ist verzweifelt und entsetzt über seine eigene Ohnmacht.
Eine Woche später verarztet auch Matthias Keller den Schwerverletzten. Der Dorfarzt aus Degersheim SG ist für einen einwöchigen Kurzeinsatz im Flüchtlingslager. Er schafft, wovon Helfer vor Ort nicht mehr zu träumen wagten. Abdul Hady wird nach Thessaloniki transportiert und dort mit einem Spezialvisum aus humanitären Gründen von der Rettungsflugwacht in die Schweiz geflogen.
Als Keller Abdul Hady das Visum überreicht, ist ein TV-Team der ARD dabei. Ins Mikrofon sagt Hady: «Das ist der glücklichste Tag in meinem Leben.» Dann versagt seine Stimme.
Keller war Mitte März in Idomeni im Einsatz. Damals hätte er eigentlich mit Frau und Kindern in Mallorca den Frühling geniessen sollen. Der Flug war für Samstag gebucht. Doch in der Nacht zuvor lag er wach im Bett, hatte Bilder von Idomeni vor Augen und wusste: «Ich kann jetzt nicht einfach mir nichts, dir nichts nach Mallorca fliegen.»
Am Morgen sagt er seiner Frau, er reise nach Idomeni. Er fliegt nach Griechenland, mietet ein Auto und fährt ins Flüchtlingslager. Weil bei einer britischen Hilfsorganisation ein Arzt fehlt, wird er kurzerhand in deren mobilen Arztpraxis eingesetzt, einer Ambulanz – «Sprechstunde aus dem Kofferraum».
«In der Schweiz hätte ich jedes dieser Kinder ins Spital eingewiesen.»
Matthias Keller
Was er dann mitmacht, verändert sein Leben. Keller ist mit einem Fünferteam im Einsatz. Sobald die medizinische Equipe anhält, versammeln sich in wenigen Minuten 50 bis 100 Leute. Innerhalb weniger Stunden betreut das mobile Sprechzimmer gegen 300 Hilfesuchende.
Es ist noch kalt in Idomeni. Es regnet ständig, die Zelte versinken im Sumpf. «An diesem ersten Tag untersuchte ich etwa 50 Kinder unter sechs Jahren. Alle hatten eine schwere Lungenentzündung. In der Schweiz hätte ich jedes dieser Kinder ins Spital eingewiesen. Hier verabreichte ich Antibiotika und schickte die Kinder zurück ins Zelt. Ich hatte keine andere Wahl.»
Ende März ist er wieder im beschaulichen St. Galler Hinterland. Ihm gehen die schreienden Kinder mit blutunterlaufenen Augen nicht mehr aus dem Sinn. Er muss nach Idomeni zurück. «Ich wollte nicht zusehen, wie diese Menschen von Europa vergessen werden.» Im April ist er wieder in Idomeni. Seine Kinder nimmt er gleich mit, seine Frau fährt mit dem Auto voller Material nach Griechenland.
Wenige Tage vor dieser Reise hat Keller zum ersten Mal die Bilder von Abdul Hady auf Facebook gesehen. «Ich war überzeugt, dass er längst in einem Spital behandelt wird, wenn ich in Idomeni eintreffe.» Keller täuscht sich. Abdul liegt noch immer im Zelt.
Der 22-Jährige war bei Damaskus von einem Bombensplitter getroffen worden. Seither ist er querschnittgelähmt. Sein Bruder brachte ihn in die Türkei, wo er operiert wurde. Man gab ihm einen alten Rollstuhl und schickte ihn weg. Sein Bruder pflegte ihn und brachte ihn auf abenteuerliche Weise nach Griechenland.
Wenn es mit dem Rollstuhl nicht vorwärtsging, schleppte er Abdul Hady auf den Schultern weiter. Sein Ziel war, medizinische Hilfe zu finden.
Eines Abends sass Abdul Hady am Feuer, da rutschte ein Topf kochend heisses Wasser vom Rost – direkt über seine Beine. Die schweren Verbrennungen blieben lange unbehandelt.
«Als ich das erste Mal bei ihm war, wechselten wir zuerst den Katheter. Es war etwa 30 Grad warm, im Zelt wohl um die 40. Ich kniete im engen Zelt, konnte mich kaum bewegen. Der Schweiss lief mir herunter, trotzdem musste ich steril arbeiten. Dann kam der Moment, der mir noch heute peinlich ist: Meine Knie schmerzten, ich musste schon nach fünf Minuten die Position wechseln. Abdul hingegen lag seit Wochen hilflos am gleichen Ort.»
Abdul Hady muss schnellstens raus aus dem Lager. Er setzt alle Hebel in Bewegung. Keller reicht die nötigen Gesuche ein, wenige Tage später kommt aus Bern das Okay, Hady soll aus humanitären Gründen in die Schweiz verlegt werden. Das Visum hätte der Schwerverletzte in Athen abholen müssen.
Keller telefoniert, mailt, verhandelt. Schliesslich fährt er mit den Papieren des Syrers nach Thessaloniki, schafft es trotz ausgebuchten Flügen rechtzeitig nach Athen in die Schweizer Botschaft – und am nächsten Tag zurück nach Idomeni.
Am 22. April folgt die grosse Erleichterung. Hady darf das Lager verlassen. Doch eine Ambulanz ist nicht verfügbar. Keller polstert für Abdul Hady den Rücksitz seines Kleinbusses mit Kissen aus und fährt ihn zum Flughafen.
Heute liegt Abdul Hady im Paraplegikerzentrum Nottwil auf der Intensivstation. Weil er Träger eines multiresistenten Keims ist, wird er vorläufig abgeschirmt.
Matthias Keller ist zurück in seiner Praxis in Degersheim. Zum Interview verspätet er sich. Er war in Herisau, wo vor seinen Augen eine Frau auf dem Trottoir zusammenbrach. Er leistete Erste Hilfe, fuhr sie zum Arzt. Am Nachmittag warten Patienten auf ihn.
Doch die Menschen von Idomeni lassen ihn nicht mehr los. «Das Einzige, was sich in Idomeni in den letzten zwei Monaten verbessert hat, ist die Arbeit der Freiwilligen, die Verteilung von Essen und Kleidern, die medizinische Hilfe», sagt er.
Alles andere sieht er nüchtern: «Die Behörden wollen die unwürdigen Bedingungen im Camp gar nicht verbessern. Von offizieller Seite her sehe ich null Bemühungen.»
Keller hat noch einiges vor. Eben hat er eine Stiftung gegründet, um seine Hilfe für die Kriegsgeschädigten gezielt weiterzuführen. Und er will die Angehörigen von Abdul Hady in die Schweiz holen. Er wäre auch bereit, sie bei sich aufzunehmen. Letzte Woche konnte er zwei Familien mit behinderten Kindern in die Schweiz bringen.
Im Sprechzimmer steht neben dem Schragen ein Modellherz aus Kunststoff, an der Wand tickt eine Wanduhr. Matthias Keller hatte keine Zeit, sie auf Sommerzeit umzustellen. Als die Zeit wechselte, war er gerade zum ersten Mal aus Idomeni zurückgekommen.
- Stiftung Dr. Matthias Keller: www.dr-matt.ch
Solidarität: Die vielen Helden, die sich kümmern
Viele Schweizerinnen und Schweizer beteiligen sich aktiv an ehrenamtlichen Hilfsprojekten: Was man alles tun kann, um das Leid der Flüchtlinge zu lindern.
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