Am zweitletzten Abend des Jahres 2016 fliegt Erich Freudiger* seine sorgsam aufgebaute Lebensgeschichte um die Ohren. Die Katastrophe beginnt mit einem Schlüssel, der sich im Schloss seiner Wohnung dreht, einer Tür, die sich öffnet, und einem einzigen Satz: «Schatz, du hast Besuch!»

Freudiger hat in den letzten Monaten alles unternommen, um ein solches Zusammentreffen zu verhindern. Er hat Geschäftstermine als Grund für Abwesenheiten angegeben, sich wegen Stress im Büro tagelang bei niemandem gemeldet, kurzfristig anberaumte Ausflüge mit Kumpels vorgeschoben.

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Und jetzt das. Vor ihm in seiner Wohnung in Merlischachen stehen Caro* und Barbara*, und beide meinten bis vor kurzem, die einzige Frau im Leben des Erich Freudiger zu sein. Caro bis vor ein paar Tagen, Barbara bis vor ein paar Stunden. Getroffen haben sie sich zufällig auf dem Parkplatz, als Barbara auf der Suche nach Freudigers Wohnung auf Caro traf. Barbara ist gekommen, um mit Freudiger zu reden, denn kurz zuvor hat sie per SMS eine Warnung von Joy* erhalten. Auch Joy hat bis vor ein paar Tagen gemeint, sie sei die einzige Frau in Freudigers Leben.

Caro. Barbara. Joy.
Lovescout. Parship. Badoo.

Erich Freudiger, Mitte 50, sportlich und charmant, hat die Frauen auf Dating-Plattformen im Internet kennengelernt. «Bärengraben» ist da sein Pseudonym, oder «Matterhorn», und er sucht die grosse Liebe. Und diese grosse Liebe findet er, gleich mehrfach. Im April bei Caro in Merlischachen SZ. Im August bei Barbara in Zollikofen BE. Im Oktober bei Joy in Zürich. Und nebenher noch bei Elke* in Bern. Und bei Irina* in Bonn. Zu gewissen Zeiten im Jahr 2016 meinen mindestens vier Frauen gleichzeitig, für Erich Freudiger die Liebe seines Lebens zu sein.

Oder soll man sagen: die Liebe eines der beiden Leben von Erich Freudiger?

Er mag «Pretty Woman» und teure Autos

Das eine Leben ist ein Traum. Ein Traum von Reichtum, Einfluss und hochrangigen Freunden. In diesem Leben trägt Erich Freudiger seine Frauen auf Händen. «Er hat mich wie eine Prinzessin behandelt», sagt Caro. «Mich auch», sagt Joy. «Stimmt», sagt Barbara, «und er ist der beste Zuhörer der Welt. Er gibt dir das Gefühl, jederzeit für dich da zu sein und dir zuzuhören.»

Freudiger mag romantische Filme. Vor allem «Pretty Woman» hat es ihm angetan, die Romanze, in der sich ein smarter Geschäftsmann (Richard Gere) in eine Prostituierte (Julia Roberts) verliebt und sie mit Geld und Charme von der Strasse in sein Bett holt.

In seinem Traumleben hat auch Erich Freudiger Geld. Er führt seine Freundinnen in gute Restaurants aus, und beim Bezahlen zückt er die Kreditkarte. Nie liesse er eine Frau zahlen. Er fährt standesgemäss teure Autos, mal einen BMW, mal einen Maserati. Die Wohnungen, die er mietet, liegen in einer Preisklasse, in der die Bewohner kein Mietzinsdepot hinterlegen müssen, weil niemand an ihrer Kreditwürdigkeit zweifelt.

Erich Freudiger* und seine Autos

Erich Freudiger* fährt standesgemäss teure Autos. Sie sind geleast, die Raten dafür nicht bezahlt.

Quelle: Andreas Gefe

Vor allem aber ist Freudiger in seinem einen Leben ein erfolgreicher Geschäftsmann, von Haus aus Elektroingenieur, mit einem Abschluss der ETH Zürich, einem Doktortitel. Er war einst Chief Technology Officer bei der Swatch Group. Dann stieg er bei der Credit Suisse bis in den Rang eines Managing Director auf. Und als er von der Grossbank wegging, nahm er alle seine hochkarätigen und schwerreichen Kunden mit. Fortan verwaltete er deren Vermögen in seinem Family-Office. Sagt Freudiger seinen Freundinnen und Geschäftspartnern.

In seinen Erzählungen ist er mit den Erfolgreichen des Landes auf Du und Du. Immer wieder mal platziert er ein Investment für einen Firmenboss, und manchmal will ihn einer aus Dankbarkeit gleich zum Chef seiner Firma machen.

Der mysteriöse Albert

Und dann ist in dieser Welt noch Albert*. Einen Nachnamen hat der Mann in Erich Freudigers Schilderungen nicht, denn Albert ist so unglaublich reich, dass höchste Diskretion angesagt ist. Albert segelt auf seiner Jacht durch die Karibik, während Freudiger hierzulande schaut, dass die Geschäfte laufen. Einmal muss er dem Multimillionär einen 300-Millionen-Deal retten, in den sich Albert hineinmanövriert hat. Ein anderes Mal muss er Alberts Jacht neu ausstatten, denn Albert hat einen miserablen Geschmack. Und dann muss Freudiger auch noch dafür kämpfen, dass Albert nicht in der «Bilanz»-Liste der 300 reichsten Schweizer erscheint, denn Albert will das nicht.

Das alles erzählt Freudiger seinen Freundinnen und Geschäftspartnern. Und alle glauben es und wundern sich deshalb nicht, dass ihr Freund und Partner immer wieder geschäftlich verreisen muss. Wegen Albert. Oder weil er für einen Kunden seines «Family-Office» in Holland gerade einen 1,9-Milliarden-Deal aushandelt.

Es ist eine grosse, reiche Welt, in der sich Erich Freudiger bewegt, und er weiss, wie man das macht. «Wenn er einen Raum betritt, dann füllt er ihn augenblicklich aus», sagt ein ehemaliger Geschäftspartner über ihn. Ein anderer nennt ihn «eine Persönlichkeit mit Charisma».

«Sein Auftreten täuschte uns alle. Niemand hat kritisch nachgefragt, wir haben ihm alle geglaubt.»

ehemaliger Partner von Erich Freudiger*

Es gibt aber noch ein anderes Leben von Erich Freudiger: die Realität. Da sind die schicken Autos geleast und die Raten dafür nicht bezahlt. Die Vermieter der teuren Wohnungen mögen nach ein paar Monaten nicht mehr auf ihr Geld warten. In diesem Leben stapeln sich bei Freudiger Rechnungen und Betreibungen. Kredite, die er für die angeblich grossen Deals beschafft, gehen für seinen aufwendigen Lebensstil drauf, und die angeblichen Geschäftsreisen sind dazu da, das komplizierte Liebesleben zu organisieren.

In diesem Leben, dem realen, heisst Freudiger anders, und auch alle anderen Personen tragen einen anderen Namen. Der Mann mit dem gewinnenden Auftreten hat in den vergangenen Jahren unzählige Herzen gebrochen, Geschäftspartner übers Ohr gehauen und Gläubiger versetzt. Vielen von ihnen ist es peinlich, dass sie seine Geschichten geglaubt und ihn nicht durchschaut haben. Sie wollen deshalb nicht mit ihrem richtigen Namen auftreten. Und Freudiger hat Kinder. Sie sollen geschützt werden.

Verletzt, gedemütigt, wütend

«Schatz, du hast Besuch.» Es ist dieser eine Satz und der Anblick der beiden Frauen im Türrahmen, der am zweitletzten Abend des Jahres 2016 die reale Welt wie ein Unwetter über Freudigers sorgsam aufgebautes Scheinleben hereinbrechen lässt.

Denn Caro und Barbara bleiben nicht allein. Am Telefon schalten sie Joy hinzu, um auf der Stelle über die Scheinwelt, die Scheingefühle von Erich Freudiger zu richten. Der sucht nach Auswegen. Caro ist plötzlich nur noch eine Bekannte, Barbara war sowieso nie seine Freundin, und Joy kennt er nicht. Die anderen Frauen? Dumme Hühner. Irgendwann wirft er Caro und Barbara aus der Wohnung.

Die Frauen sind verletzt, gedemütigt, wütend. Sie beschliessen, sich zu rächen. Eine der Frauen besitzt ein altes Handy von Erich Freudiger, und dort finden sie, was sie brauchen: Adressen von früheren Freundinnen und Hunderte SMS an sie: «Min liebschte Schatz» – die Anrede kommt den Frauen bekannt vor. Sie finden aber auch Angaben über Geschäftspartner und Geschäfte. Im Verlauf der nächsten Wochen stellen sie aus Bruchstücken, Einzelschicksalen und Betreibungsregisterauszügen ein Dossier zusammen: «Die Lebenslügen des Erich Freudiger».

«Er hat mich wie eine Prinzessin behandelt», sagt Caro. «Mich auch», sagt Joy. «Stimmt», sagt Barbara.

Wahr ist: Erich Freudiger war einst für die Credit Suisse tätig. Von 2001 bis 2008 arbeitete er sich beständig nach oben. Aber eben: nicht im Private Banking, wo sich die schwerreichen Kunden tummeln, sondern im HR, der Personalabteilung. Damals kam er auch noch ohne «Dr.» vor dem Namen aus. Den Titel legte er sich erst nach dem Tod seines Bruders zu, der an der ETH promoviert hatte.

Wahr ist auch: Erich Freudiger versucht immer wieder, sich in die Welt der Superreichen hineinzumanövrieren. Wenn es ihm gelingt, dann täuscht er auch sie. Und seine Geschäftspartner sowieso.

Gleich zweimal gründet er ein Family-Office mit Partnern, die für das nötige Kleingeld Kredite aufnehmen. Einmal 200'000 Franken bei einem Bekannten, einmal eine halbe Million bei einer Bank. «Sein ehemaliger Kaderjob bei der Credit Suisse und sein Auftreten täuschten uns alle», sagt einer der ehemaligen Partner. «Niemand hat kritisch nachgefragt, wir haben ihm alle geglaubt.»

Er zieht weiter – wie immer

Das Vertrauen kommt sie teuer zu stehen. Das Netzwerk der Superreichen, das Erich Freudiger angeblich hat, das Kapital seiner Versprechungen, es entpuppt sich als Luftblase. Immer wenn die Partner diese vermögenden Kunden kennenlernen wollen, kommt etwas dazwischen. Mal muss der Kunde kurzfristig verreisen, mal ist er krank, mal kommt eine Sitzung dazwischen. Es passt einfach nie. Heute sind Freudigers ehemalige Partner überzeugt: Die Kunden gab es nur in Freudigers Fantasie.

In seinem realen Leben ist Erich Freudiger mittlerweile weitergezogen, weg von Merlischachen, hinauf ins Bündnerland. Auf Anrufe, Mails und Briefe des Beobachters reagiert er nicht.

Freudiger zieht jedes Mal weiter, wenn die Betreibungen sich zu stapeln beginnen. Dann packt er seine Sachen und fängt an einem neuen Ort, in einem anderen Kanton wieder von vorn an, baut sich die nächste Traumwelt auf. Mit einer neuen Firma und einem sauberen Betreibungsregisterauszug. Mit den gleichen alten Geschichten von grossen Projekten, reichen Kunden und wichtigen Geschäftsreisen, mit denen er neue Geschäftspartner beeindruckt.

Und, so ist zu vermuten, mit mindestens einer neuen Frau an seiner Seite, der er versichert, sie sei die Liebe seines Lebens.

* Name geändert