«Wenn es Lady Gaga schafft, dann ich auch»
Milky Diamond gehört zu den schillerndsten Persönlichkeiten im Zürcher Nachtleben. Was die Dragqueen antreibt – und wogegen sie kämpft.
Aufgezeichnet von Lea Oetiker
Ich war 15, als ich erfuhr, dass Popikone Lady Gaga mit braunen Haaren geboren wurde und eigentlich Stefani heisst. Stefani Joanne Angelina Germanotta. Eine Stefani mit braunen Haaren – total boring.
Die gibt es wie Sand am Meer. Und mein 15-jähriges Ich dachte: Wenn sie es schafft, einzigartig und berühmt zu werden, dann kann ich das auch. Ich begann zu zeichnen.
Ich zeichnete, wie ich aussehen wollte, welche Haarfarbe ich tragen möchte und wie meine Kleider sein sollten. Mein Ziel war immer die Bühne. Nur kann ich im Gegensatz zu Lady Gaga leider nicht singen. Doch ich bin verdammt gut in Drag.
«Nach den Shows putze ich die Räumlichkeiten selbst. Manchmal bis fünf Uhr morgens.»
Milky Diamond, 29, Dragqueen
Für die, die noch nie von Dragqueens gehört haben: Wir sind Männer, die eine Frau darstellen.
Drag ist nicht so glamourös, wie viele denken. Man steht zwar auf der Bühne, hat viel Farbe, Menschen, Musik und Glitzer um sich herum. Doch nach den Shows putze ich die Räumlichkeiten selbst, manchmal bis fünf Uhr morgens.
Es dauert, bis das Make-up wieder von den Wänden gekratzt ist. Wortwörtlich. Die Shows sind so aufbrausend, dass Make-up vom Gesicht fliegt und an den Wänden kleben bleibt.
Auch administrative Arbeiten gehören zum Job. Oft sitze ich mit verschwitzten Haaren hinter dem iPad und schreibe meine Texte für die kommenden Shows, beantworte Mails und telefoniere stundenlang.
Die Angst vor dem Scheitern
Dragqueen wurde ich erst, als ich für mein Kunststudium nach Zürich zog. Ich war 20 und «the new kid on the plug». Die Szene gehörte mir. Ich begann im Club eines Freundes.
Der Schritt auf die Bühne hat Mut gebraucht. Heute kann ich mir als Dragqueen das Leben finanzieren. Mein Traum ist wahr geworden. Angst vor dem Scheitern habe ich immer noch. Ich will mein junges Ich nicht enttäuschen.
Ich bin in einem kleinen Dorf im Kanton Luzern aufgewachsen. Über meine Schulzeit rede ich nicht gern. Ist es nicht viel wichtiger, darüber zu sprechen, was ich trotz der Hürden in meinem Leben erreicht habe?
Aber aufs Land zieht es mich immer noch. Ich besuche da gern meine Grosseltern oder esse einen Teller Rösti im Restaurant der Familie. Ausserdem gibt es nichts, was mich mehr beruhigt als das Läuten der Kirchenglocken.
Meine Familie hat mich als Dragqueen akzeptiert. Eine Akzeptanz, die ich mir auch von der Gesellschaft wünschen würde.
Akzeptanz und Liebe gegen Hass
Da ist so viel Hass und Wut gegenüber Menschen, die anders sind. Queeren Menschen. Vor kurzem stürmte eine rechtsextreme Gruppe das Tanzhaus Zürich. Dabei wurde eine Veranstaltung gestört, in der Dragqueens Kindergeschichten vorlesen.
Habe ich Angst davor, dass sie bei mir reinstürmen? Nein. Ich müsste wahrscheinlich lachen. Die Situation wäre einfach so absurd. Bei mir geht es um Akzeptanz und Liebe.
Bei ihnen um Verurteilung und Hass. Aber es ist wichtig, über diese Leute zu sprechen. Die Gruppe hinter dem Angriff behauptet, dass Dragqueens pädophil sind. Dagegen müssen wir uns wehren können.
Früher hatte ich eine dickere Haut. Oder ich habe mir auch einfach vieles schöngeredet, um diesen Hass zu überstehen. Ein Coping-Mechanismus. Wie die Gesellschaft auf mich reagiert, beschäftigt mich heute viel mehr. Ich nehme auch immer ein Taxi, wenn ich in «full drag» zur Arbeit fahre. Aus Selbstschutz.
Nichtsdestotrotz: Ich bin heute jene Person, die ich mir früher an meiner Seite gewünscht habe. Ich organisiere Workshops für angehende Dragqueens oder für Menschen, die es gern ausprobieren möchten.
Es gibt nichts Schöneres, als zu sehen, wie Teilnehmerinnen aufblühen und ihre Ängste überwinden. Aber leider wird das nicht wahrgenommen. Ein Mann mit Perücke, der Gutes tut? Das zählt nicht.
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