Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm schaffte es ganz nach oben. Eine Bilderbuchkarriere, die für Arbeiterkinder noch immer alles andere als selbstverständlich ist. Hätte sie sich in ihrem Leben stets dort eingereiht, wo sie gemäss anderen hingehörte, wäre aus ihr keine im In- und Ausland bekannte Forscherin geworden. Keine renommierte Expertin für Fragen rund um Begabungsförderung und Chancengleichheit.

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Die Distanz zwischen Eltern und Aufsteigerkindern ist ein Thema, das Stamm bis heute auch als Wissenschaftlerin beschäftigt. Eine Langzeitstudie über Kinder, die früh mit Lesen und Rechnen anfangen, es aber trotzdem nicht an die Uni schaffen, bildete den Ausgangspunkt für viele weitere Arbeiten zu Schulkarrieren, Talentförderung oder Chancengleichheit.

Wie viel hat ihre Arbeit mit ihrer Biografie zu tun? Forscht sie über benachteiligte Kinder und Begabungsförderung, weil sie die Benachteiligung selber zu spüren bekommen hat? «Man sagt das immer von mir, aber es stimmt nur zum Teil», sagt sie. Ihre Forschungsfragen hätten sich immer aus Daten von schon vorhandenen Arbeiten ergeben. «Doch natürlich bin ich für das Thema besonders sensibilisiert und habe Zusammenhänge entdeckt, die andere vielleicht nicht als spannend empfunden hätten.»

Margrit Stamm (rechts) mit Schwester und Vater in den Sechzigern

Quelle: Marco Zanoni

Beobachter: Zum Schulanfang starten viele Kinder aus dem Arbeitermilieu. Wie viele werden es schaffen wie Sie?
Margrit Stamm: Wenige. Unsere Längsschnittdaten zeigen, dass nur etwa 22 von 100 Arbeiterkindern an eine Hochschule kommen. Bei Akademikerkindern sind es über 80 Prozent.

Beobachter: Es hat sich also nichts geändert?
Stamm: Doch, allerdings nur bei den Akademikerkindern, da waren es vor 20 Jahren noch 60 Prozent, die die Matura machten. Bei den Arbeiterkindern stagniert die Quote.

Beobachter: Warum ist die Schere noch weiter aufgegangen?
Stamm: Die Ansicht ist immer noch weit verbreitet, dass Intelligenz abhängig ist vom Milieu, aus dem man stammt. Ein Akademikerkind ist demnach einfach per se intelligent, ein Arbeiterkind dümmer.

«Arbeiterkinder» nennt man Kinder und Jugendliche aus einer einfachen sozialen Schicht. Der bekannteste Index zur Messung der Schichtzugehörigkeit ist der ISEI. Massgebend dabei ist, wie der Beruf einen bestimmten Bildungsstand in Einkommen umsetzt. Je besser die Ausbildung ist, die ein Beruf verlangt, und je grösser das Einkommen, das er abwirft, desto höher ist sein ISEI-Wert. Ein typisches Arbeiterkind wäre also der Sohn eines durchschnittlich verdienenden Dachdeckers. Sind beide Elternteile berufstätig, wird der höhere ISEI-Wert berücksichtigt.

Beobachter: Glaubt das wirklich noch jemand?
Stamm: Aber sicher! Kürzlich habe ich in Zürich einen Vortrag über Begabungsförderung gehalten. Danach sagte eine Lehrperson, das sei ja alles wunderbar, was ich da sage. Aber er könne das leider nicht umsetzen, denn in seiner Klasse gebe es halt einfach keine intelligenten Kinder. Er unterrichte im Kreis 4, dem Zürcher Arbeiterkreis.

Beobachter: Ein Lehrer sagt so etwas?
Stamm: Ja, gerade in pädagogischen Kreisen ist die Meinung sehr verankert, wonach ein bestimmtes Milieu gescheitere Kinder hervorbringe als ein anderes. Das ist fatal. Mit dieser Überzeugung sucht und fördert man begabte Kinder aus dem «falschen» Milieu erst gar nicht. Wer bei einem Arbeiterkind schon bei der Übernahme der Klasse allein aufgrund seiner Herkunft davon ausgeht, dass es sich um einen leistungsschwachen Schüler handelt, wird wahrscheinlich recht bekommen. Das Resultat ist dann, dass Schüler aus sozial niedrigeren Schichten auffallend oft unterschätzt werden.

Beobachter: Woher wissen Lehrpersonen denn, aus welcher Schicht ein Kind stammt?
Stamm: Lehrer wissen meist genau, aus welcher Familie ein Kind kommt. Die Daten erhalten sie von der Gemeinde. Beim Übertritt wird auch viel weitergegeben: Die Kindergärtnerin informiert etwa die Erstklasslehrerin über die Kinder, die zu ihr kommen werden, inklusive des familiären Hintergrunds. Forschungen zeigen, dass sich Lehrpersonen in den ersten paar Wochen ein Bild vom Kind machen, das sie danach nicht mehr gross ändern.

«Man hat zu lange auf Migranten fokussiert und die einfachen Familien vergessen.»

Margrit Stamm, Erziehungswissenschaftlerin

Beobachter: Aber nicht nur die Lehrer haben Erwartungen an ein Kind, sondern auch seine Familie. 
Stamm: Die Vorbehalte von Eltern aus unteren Schichten gegenüber dem Gymnasium sind oft sehr gross, denn sie kennen diesen Bildungsweg nicht. Sie akzeptieren deshalb schlechtere Noten eher und sind viel weniger ambitiös als Akademikereltern. Die familiären Bildungsentscheidungen spielen eine grosse Rolle für ein Kind. Es ist geprägt durch die Erwartungen der Eltern. Wenn ein Lehrer den Eltern dann noch sagt, sie würden dem Kind im Gymnasium ja eh nicht helfen können, darum solle es lieber in die Sek, dann ist das natürlich auch nicht gerade sehr ermutigend.

Beobachter: Die Lehrpersonen gehen automatisch davon aus, dass die Eltern dem Kind helfen müssen?
Stamm: Ja, das ist wirklich eine grosse Ungerechtigkeit. Es führt dazu, dass wir auch viele überförderte Kinder haben, die einfach mitlaufen. Die Schule muss erkennen, dass sie viel zu stark auf die Eltern setzt und so den Wettbewerb und den Stress in der Familie anheizt. Das ist die grosse Achillesferse im heutigen Schulsystem. Die betroffenen Kinder brauchen Mentoren, die diese Rolle langfristig übernehmen. Dieses Modell müsste institutionalisiert werden, gerade auch bei Übertrittsfragen. Die Arbeiterkinder sind eine vernachlässigte Gruppe. Man hat zu lange auf die Migranten fokussiert und die einfachen Familien vergessen.

Beobachter: Wir haben aber ein durchlässiges Schulsystem, auch ein Polymech kann Ingenieur werden.
Stamm: Das wird oft als Argument gebracht. Leider wird dieses System kaum genutzt, und wenn, dann meist von Akademikerkindern. Wenn intellektuell begabte Kinder da sind, dann müssen sie gefördert werden – jetzt, nicht erst später nach der Berufslehre, um dann doch noch in die Hochschule zu kommen. Das ist unfair, weil man sie dadurch in wichtigen Lebensjahren vernachlässigt.

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Quelle: Holger Salach