Wie geht es den in der Schweiz lebenden Kurdinnen und Kurden?
Viele in der Schweiz haben Verwandte in den Erdbebengebieten Syriens und der Türkei. Wie gehen sie mit der Katastrophe um?
Veröffentlicht am 10. März 2023 - 12:07 Uhr
Bülent Pekerman ist der erste Basler Grossratspräsident mit kurdischen Wurzeln. Für seinen Amtsantritt hatte der 45-jährige grünliberale Fahrlehrer eine schöne Rede vorbereitet.
Er wollte in den Ratssaal rufen, Politik sei wie der Aeschenplatz. Der Vergleich sitzt, jede Stadt hat ihren Aeschenplatz. Unübersichtliche Kreuzungen, wo es rechts hupt und links drängelt und nur Eingeweihte die Vorfahrtsregeln verstehen. Der Albtraum jedes Fahrschülers. Auch Politik kann chaotisch sein.
Dann aber erschütterten mehrere schwere Beben Teile der Türkei und Syriens. Ganze Städte liegen in Schutt und Asche, gegen 50'000 Menschen sind gestorben.
Pekerman, ein pragmatischer Typ, muss zwei Tage danach seine Rede halten. Statt über den Aeschenplatz spricht er über seine Migrationsgeschichte, die ihn vor 30 Jahren in die Schweiz brachte.
«Es gibt ein starkes Bedürfnis, die Trauer physisch zu teilen. Ein Bedürfnis nach Orten, wo man sich umarmen kann, wo auch mal eine Träne fliessen darf»
Mahir Kabakci, Basler SP-Grossrat
«Es fällt mir schwer, unter diesen Umständen mein Präsidium anzutreten», sagt er. Dann kondoliert er den Menschen in Basel, die in Syrien oder der Türkei Angehörige oder Freundinnen verloren haben.
Auf Facebook machen bereits Namenslisten von Menschen die Runde, die unter den Trümmern begraben waren. Auch solchen, die in Basel lebten. Ein Fotograf mit Studio im Kleinbasel starb, er war zu Besuch bei seinen Eltern in der Nähe der Stadt Pazarcık.
Viele reisten «hinunter»
In der Schweiz leben rund 120000 Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte. Darunter viele Kurdinnen und Kurden mit Wurzeln in den am stärksten betroffenen Erdbebengebieten.
Schätzungsweise 10'000 leben in der Region Basel. In den Kulturzentren und auf öffentlichen Plätzen treffen sie sich wie in anderen Schweizer Städten zu Gedenkveranstaltungen für die Opfer des Bebens. Doch nun, einen Monat später, sind die meisten Kerzen auf den öffentlichen Gedenkstätten erloschen.
Was ist seit den Erdbeben Anfang Februar geschehen? Wie verarbeitet die Diaspora die Katastrophe?
In den ersten Tagen herrscht Chaos. Erste Fotos, Videos, Sprachnachrichten erreichen die Menschen im Morgengrauen, bereits am zweiten Tag werden in Basel Sachspenden gesammelt. Am dritten Tag sind die ersten Lastwagen auf dem Weg in die Türkei.
«Die Ohnmacht, nicht genug tun zu können, das ist das Schlimmste»
Sibel Arslan, Nationalrätin
Einige fahren im Auto hinterher, 30 Stunden bis zur Grenze, dann noch mal 15 Stunden in die Krisengebiete. Andere fliegen. Rund 100 Angehörige und Freunde seien «hinuntergereist», um vor Ort zu helfen, schätzt der Vorsitzende des Alevitischen Kulturzentrums, Seyit Erdogan.
«Ein älterer Herr, ein Schweizer, kam zufällig am Kulturzentrum vorbei, wo wir gerade Kleider in Kartons verpackten. Er zog seine Jacke aus und legte sie dazu. ‹Ihr braucht sie mehr als ich›, sagte er. Das hat mich berührt.»
Blockierte Hilfsgüter
Auf Instagram machen derweil niederschmetternde Videos die Runde. Die Lastwagen mit den Schweizer Sachspenden werden an der türkischen Grenze angehalten. Oder vor provisorischen Hilfezentren von Männern in Tarnanzügen konfisziert.
Auf einem schweizerisch-kurdischen Instagram-Account heisst es: türkische Polizei, der Staat. Manche Spenden würden im Niemandsland entladen, erzählt man sich. Berge von Schuhen, irgendwo auf dem Feld.
Auf der grossen Trauerfeier in Basel, eine Woche nach dem Beben, ruft eine Frau am Mikrofon dazu auf, keine Sachspenden mehr zu sammeln. Es sei nun genug.
«Die Ohnmacht, nicht genug tun zu können, das ist das Schlimmste», sagt Sibel Arslan, Baslerin mit türkisch-kurdischen Wurzeln, die für die Grünen im Nationalrat politisiert. Daran müsse man denken, bevor man den Aktionismus kritisiere.
Arslan wirkt an der Gedenkveranstaltung aufgewühlt, geschockt. Noch wird nach Überlebenden gesucht, die Zahl der Opfer steigt mit jedem Tag. Auf Twitter schreibt sie: «Ich werde aus der #Türkei gebeten, so schnell wie möglich #Leichensäcke zu senden. Ende des Tweets.»
Unmittelbar vor der Basler Trauerfeier war Arslan in Bern. In der Aussenpolitischen Kommission drängte sie auf eine erleichterte Visaregelung für vom Erdbeben betroffene Angehörige. Eine Motion? Zu langsam. Die Kommission verabschiedet einen Brief an den Bundesrat.
Zwei Tage später setzt das Staatssekretariat für Migration beschleunigte Visa in Kraft. Weil viele Reisepässe unter den Trümmern begraben liegen, erzielen die Behörden eine Einigung: Die Türkei wird Erdbebenopfern, die zu Verwandten in die Schweiz wollen, innert 24 Stunden die nötigen Papiere für einen Notfallpass ausstellen.
Die Trauernden in der Diaspora suchen nach Gemeinschaft, dem Gefühl, nicht allein zu sein. Doch viele Angehörige der Erdbebenopfer fühlten sich auf sich selbst gestellt, erzählt Mahir Kabakci, in Basel geboren und für die SP im Grossen Rat.
«Das gesellschaftliche Leben in der Schweiz baut auf verschiedene Lebenserfahrungen. Manche Erschütterungen sind nicht für alle gleich spürbar.»
Sibel Arslan, Nationalrätin
Gerade den Jungen fehlten am Arbeitsplatz oder in der Ausbildung die empathischen Fragen der Chefs oder Kolleginnen. Wie gehts dir? Brauchst du etwas? Solche kleinen Dinge, sagt Kabakci. Das Zurück zur Normalität ging für viele etwas zu schnell.
«Es gibt ein starkes Bedürfnis, die Trauer physisch zu teilen. Ein Bedürfnis nach Orten, wo man sich umarmen kann, wo auch mal eine Träne fliessen darf», sagt Mahir Kabakci. «Das Trauern um Tote nimmt in unseren Kulturen sehr viel Raum ein. Es ist schwer, abzuschliessen.» Auch darum habe man die Abschiedsfeier auf dem Basler Marktplatz organisiert.
Ein Lied für die Toten
Am Ende der Trauerveranstaltung holt Seyit Erdogan eine Langhalslaute hervor, eine Saz, und singt ein zeremonielles Abschiedslied der Aleviten. Ein Geistlicher zündet zwölf Kerzen an, sagt zu jeder eine kurze Fürbitte in die Nacht. «Möge das Licht den Verstorbenen Befreiung geben.»
Viele filmen mit ihren Smartphones und streamen den Auftritt live in die sozialen Medien. Wozu? «Alle sollen sehen, dass wir hier sind», sagt eine junge Frau. «Und dass wir unsere Heimat nicht vergessen haben.» Seyit Erdogan schickt am nächsten Tag eine SMS mit der ungefähren deutschen Übersetzung des Textes:
Ich bin der Spiegel des Universums.
Denn ich bin ein Mensch. [...]
Ich bin ein Trümmerhaufen.
Ich bin die Erde unter den Füssen.
Ich bin ein Instrument,
durch dessen Klang Gottes Liebe ertönt.
Denn ich bin ein Mensch.
In den Erzählungen der Trauernden spiegelt sich die enge Verflechtung zwischen der Schweiz und Südanatolien. Eltern und Grosseltern sind teils vor Jahrzehnten aus dem Krisengebiet emigriert. «Dieses Unglück hat viele in ihrer DNA getroffen», sagt Sibel Arslan.
«Das gesellschaftliche Leben in der Schweiz baut auf verschiedene Lebenserfahrungen. Manche Erschütterungen sind nicht für alle gleich spürbar.»
Bülent Pekerman hat bereits zwei Sitzungstage als Präsident des Grossen Rats hinter sich. Es ging um Beiträge ans Stadtkino, ein Konzept für die städtische Wasserversorgung. Vorstösse, Berichte, neue Geschäfte. Die Politik ist wieder ganz Aeschenplatz.
Am echten Aeschenplatz ist Pekerman weniger oft anzutreffen als auch schon. Viele Fahrschülerinnen und Fahrschüler hätten seit dem Erdbeben ihre Fahrstunden abgesagt. Sie hätten Mühe, sich zu konzentrieren, erzählt er. «Die psychische Belastung dieser Katastrophe wird die Menschen in der Diaspora noch lange begleiten.»