«Sensibilität ist eine Stärke, die unsere Generation ausmacht»
Sie seien zu laut, zu woke, zu faul, zu privilegiert. Was sagen die Post-Millennials zu den Vorwürfen, die sie von der Elterngeneration zu hören bekommen? Ein Lehrstück für Boomer.
Veröffentlicht am 7. Februar 2023 - 15:37 Uhr
Sonntage sind blöd. Der Montag klopft bereits an die Tür, obwohl das Wochenende gefühlt erst begonnen hat. Das wollten wir nicht mehr hinnehmen. Wir treffen uns seither jeden Sonntag und machen den blöden Sonntag zum guten Sonntag. Meistens sitzen wir in unserer Lieblingsbeiz und diskutieren über alles: vom Klimaprotest in Lützerath
bis hin zu toxischen Beziehungen. Alles ist auf unserem Radar, wir nehmen alles auseinander. Wir, das sind Milena, Severin, Aline und Lea.
Wir sind beste Freundinnen und Freunde. An diesem Sonntag diskutieren wir über die Vorwürfe, die man uns jungen Menschen macht. Es heisst, wir wollten nicht «richtig» arbeiten und wir hätten zu wenig Biss und Motivation.
Lea: Wir aber fragen uns: Wenn uns die Boomer zuhören würden – was sie selten tun –, was würden wir ihnen sagen?
Sevi: Ich würde Danke sagen.
Lea: Was? Wofür denn?
Sevi: Für so einiges. Wir müssen aufpassen, dass wir nicht völlig in dieses Anti-ältere-Menschen-Ding abrutschen. Das ist nicht meins. Ich sage Danke und bitte alle um Verständnis und dass sie unseren Forderungen und unseren Plänen vertrauen und auch der Art und Weise, wie wir Probleme lösen.
Aline: But that is not happening at all.
Lea: Schön, aber genau das machen sie nicht. Wir werden nicht angehört, werden belächelt und nicht ernst genommen. Das frustriert. Vor allem beim Thema Arbeit hagelt es Kritik. Wir wollten nicht arbeiten, seien faul, heisst es ständig. Wer etwas erreichen wolle, müsse halt gratis Überstunden leisten. Ehrgeiz, Motivation und Biss – das alles fehle uns.
Aline: Ein absolut unberechtigter Vorwurf. Wir geben auf uns acht. Sie nicht. Bei ihnen heisst es nur Work, Work, Work. Dass es ihnen dabei nicht gut geht, hinterfragen sie nicht. Mental Health ist ein riesiges Thema, sie haben es verpasst. Wir aber nehmen die Warnsignale ernst. Wir wollen nicht ausbrennen und uns in ein Burn-out stürzen.
Milena: Wir mussten die Burn-outs der Generation unserer Eltern mit ansehen. Offensichtlich geht es den Menschen nicht nur gut, wenn sie zu viel arbeiten. Darum priorisieren wir unsere Gesundheit. Ganz ehrlich: Ich habe keinen Bock, irgendwann ein Burn-out zu haben!
Lea: Burn-outs betreffen längst nicht nur Menschen über 40. Sogar Kinder und Jugendliche fühlen sich erschöpft. Die Gründe sind klar: der permanente Leistungsdruck in der Schule, zu Hause und dann im Job. Dazu kommt: Wir sind durch die sozialen Medien immer erreichbar, werden von Informationen überflutet und in allen Bereichen ständig bewertet.
Sevi: Psychische Gesundheit ist lebenswichtig. Deshalb leben wir so und nicht anders.
Lea: Für viele von uns steht Die-Karriereleiter-Hochklettern nicht an erster Stelle. Ich will etwas machen, was ich gern mache. Was sinnvoll ist. Mehr muss nicht sein.
Aline: Vielleicht. Aber da leben wir ziemlich in einer Bubble. Viele in unserem Alter definieren sich über ihre Arbeit. Bei mir im Studium war die Arbeit für einige das Wichtigste überhaupt.
Lea: Das zeigt, wie gespalten unsere Generation ist. Ich frage mich, wie Unternehmen Arbeit für uns anmächelig machen können. Hierarchien abschaffen? Remote Work erlauben? Mehr Lohn? Vier-Tage-Woche einführen?
Aline: Ich finde Hierarchien nicht per se schlecht. Es darf eine Chefin, einen Chef geben. Die Position sollte jedoch erarbeitet sein und nicht geschenkt. Und ich will in einem woken Betrieb arbeiten. Das heisst: «Höhergestellte» dürfen nicht mit rassistischen und sexistischen Aussagen davonkommen. Da merke ich den Generationenunterschied megastark. Bei den älteren Generationen wurden diskriminierende Aussagen über Hautfarbe und Geschlecht zu oft totgeschwiegen. Sie wurden einfach akzeptiert.
«Wir haben Einfluss»
Lea: «Woke» heisst für mich wach sein. Man muss sich bewusst sein, dass Diskriminierung und Ungerechtigkeit existieren. Woke sein bedeutet auch, aufmerksam zu sein und immer wieder dazuzulernen. Und dass man eingreift, wenn sich jemand bezüglich Gender, Sexualität, Hautfarbe oder Geschlecht abwertend äussert.
Milena: Was ich richtig nervig finde, ist, wenn mir ältere Menschen sagen: «Weisch, Milena, mir hend früener viel meh müsse schaffe.» Na und? Muss es mir deswegen schlecht gehen? Nur weil es bei dir scheisse war, muss es bei mir nicht auch so sein.
Lea: Zeigt diese Reaktion nicht einfach, dass sie Angst haben? Angst vor Neuem. Angst vor Veränderung. Oder seht ihr das anders?
Milena: Wir sprechen über alle Dinge und kehren nichts einfach unter den Teppich. Wir haben Einfluss, das sehe ich bei meiner Familie. Dinge, über die wir vor fünf Jahren noch diskutiert hätten, sind heute kein Thema mehr. Sie lernen von uns.
Lea: Was zum Beispiel?
Aline: Es geht nicht darum, nur neue Themen aufzugreifen, sondern alte endlich richtig aufzurollen. Rassismus ist painful. Sexismus ist painful. Es ist schmerzhaft, nach 50 Jahren zu realisieren: «Fuck, vielleicht haben wir nach einer falschen Ideologie gelebt!» Dass man das N-Wort nicht sagen darf, ist bei den Älteren hoffentlich angekommen. Aber Themen wie Rassismus gehen so viel weiter, tiefer und sind unglaublich subtil. Es beginnt bereits bei der Frage an eine PoC, eine Person of Color: «Woher chunsch du würklich?» Wir müssen die Älteren aufklären. We are the woke ones.
Milena: Viele möchten von uns lernen. Aber es gibt auch viele, die sich weigern. Sie werden sich immer über ihre Arbeit definieren. Sie werden ihren Lebensstil fürs Klima nicht ändern. Neues wird für sie immer schlecht sein.
Aline: Die Unterschiede zwischen Jung und Alt sind in diesen Bereichen riesig. Die Selbstreflexion der älteren Generationen ist an einem ganz anderen Punkt.
Sensibilität als Stärke
Lea: Dass der Lebensstil, den wir bis jetzt geführt haben, Konsequenzen hat, zeigt die Klimakrise. Laut dem Easyvote-Politikmonitor 2022 ist die Topsorge unserer Generation die Klimakrise. Der Zukunftsoptimismus ist dadurch getrübt. Überschwemmungen, Brände, zerstörte Natur – das Klima ist völlig ausser Kontrolle geraten. Und die meisten tun, als wäre nichts passiert.
Milena: Warum lebe ich nachhaltig? Warum versuche ich, nicht mit dem Flugzeug zu reisen? Warum stecke ich fürs Klima zurück? Oft werde ich gefragt: «Milena, wieso machsch das alles?» Meine Antwort ist immer dieselbe: Ich möchte, dass meine Kinder unsere schöne Natur und normale Temperaturen erleben. Die Klimakrise macht mir Angst. Ich fürchte mich vor dem, was auf uns zukommen wird. Ich würde gern in einer Zeit leben, in der ich weniger nachdenken müsste. In der ich für ein Wochenende wegfliegen könnte. Aber an diesem Punkt sind wir nicht. So etwas Unüberlegtes könnte ich nicht mehr tun.
Lea: Nicht nachhaltig leben ist verdammt einfach. Das macht es umso schwieriger. Überall wird Fast Fashion promotet, Influencer zeigen dir die schönsten Orte der Welt. Manchmal fühle ich mich wie gespalten zwischen dem Drang, nachhaltig zu leben, und dem Bedürfnis, einen Platz in der Community zu haben.
Milena: Dass wir nicht immer nachhaltige Entscheidungen treffen, kann man uns vorwerfen. Auch ich bin schon für ein paar wenige Tage ins Ausland geflogen, obwohl ich den Zug hätte nehmen können. Aber das ist die Ausnahme.
Sevi: Ich habe ziemlich Mühe damit, dass unsere Awareness ständig gegen uns ausgespielt wird. Wir setzen uns für eine nachhaltige und faire Wirtschaft ein, die Reaktion darauf ist immer: «Aber vo wo chömed denn dini Vans-Schue?»
Aline: Es wird schnell mit dem Finger auf uns gezeigt: «Gsehsch, ihr bschtelled ja uf Zalando, ihr macheds au nöd perfekt.» Das sagen sie wegen ihres schlechten Gewissens. Sie wissen, dass sie es klimatechnisch verkackt haben, und ein grosser Teil von ihnen schafft es nicht, sich zu ändern.
Lea: Auch Worte haben Konsequenzen. Wir sind auf problematische und schmerzhafte Aussagen sensibilisiert. Sie finden das schwierig. Es heisst: «Nicht mal mehr einen Witz kann man machen», «Generation humorlos», «du bist einfach zu sensibel».
Sevi: Der Vorwurf «Du bist zu sensibel» ist kompletter Nonsens. Sensibilität soll negativ sein? Weil sie sie nicht zeigen durften. Sensibilität ist eine Stärke. Diese Stärke macht unsere Generation aus. Wir tragen sie in uns und versuchen, sie anderen mitzugeben.
Milena: Wieso versteht man das nicht?
Politische und soziale Inklusion
Lea: Die Zukunft liegt in unseren Händen. Leider schlagen bei Abstimmungen die Alten immer wieder die Jungen. Viele junge Menschen würden es befürworten, elektronisch abstimmen zu können, und sie wären motiviert. Dann hätten wir eine Chance.
Milena: Auch das Stimmrechtsalter 16 muss eingeführt werden.
Sevi: Da bin ich auch ganz klar dafür.
Milena: Seit ich abstimmen kann, ist jeder Abstimmungssonntag ein trauriger Tag für mich. Wieso können Menschen, die vielleicht in einer Woche sterben, noch über meine Zukunft bestimmen, aber Jugendliche, die es betrifft, erst ab 18? Ist doch crazy!
Aline: Beim Abstimmungsalter könnte man irgendwann eine Grenze ziehen. Mit 80 musst du ja auch langsam deinen Führerschein abgeben.
Sevi: Den Entzug des Stimm- und Wahlrechts sehe ich eher kritisch. Ja, es kann irreführend sein, dass ein 75 Jahre alter Mensch über etwas abstimmen kann, was Auswirkungen auf die nächsten 50 Jahre hat. Trotzdem: Jemandem das Stimmrecht zu entziehen, widerspricht meinen Überzeugungen. Wir müssen politisch und gesellschaftlich für Inklusion einstehen.
Lea: Wir müssen endlich beginnen, zusammenzuarbeiten. So wie bisher kommen wir mit unseren Plänen nicht weiter. Fakt ist doch, dass Jung und Alt die bestmögliche Zukunft gestalten wollen. Halt beide auf ihre eigene Art.
Sevi: Um unsere Ziele zu erreichen, müssen wir für die Älteren greifbar bleiben. Wir kommen täglich mit neuen Forderungen. Das wird auch so bleiben. Wir stossen bei den Älteren auf Widerstand . Aus diesem Dilemma kommen wir nur gemeinsam raus. Fusionieren wir Ideen, Pläne und Meinungen. Es ist endlich Zeit, einander zuzuhören. Nicht nur wir hören den Älteren zu, sondern sie endlich auch mal uns!
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4 Kommentare
Sauber Sevi!
Leider leben immer noch der grösste Teiler der Boomer nach dem System, nach mir die Sintflut. Die Probleme sollen dann die Jungen lösen, ich mache weiter so wie bisher. Ja nichts ändern und hinterfragen, es könnte rauskommen, dass wir jahrzehntelang einen Riesen Mist gemacht haben.
Woke-Ideologien oder ESG Anforderungen (Environmental, Social and Governance) in den Grossunternehmen dienen weniger den angeblich Diskriminierten oder der Umwelt und der Nachhaltigkeit, sondern eher den einschlägigen Geschäften und andererseits der Ablenkung und leichten Verunsicherung der Leute.
Voilà, Danke! Sehr wichtige Beobachtung!