Wenn Kinder ihre Eltern schlagen
In der Schweiz passiert es jeden Tag, dass Kinder ihre Eltern bedrohen und misshandeln. Das Thema ist tabu. Ein Täter und ein Opfer erzählen.
Veröffentlicht am 3. Januar 2017 - 10:32 Uhr
Roter Kapuzenpulli, erste graue Haare. Marc Hunziker* sitzt zurückgelehnt im Stuhl. Der 35-Jährige ist verheiratet, Vater von zwei kleinen Kindern. Bevor er sich für das Gespräch bereit erklärt hat, brauchte er ein paar Tage Bedenkzeit.
«Erst hatte ich schlaflose Nächte. Es war mir alles gar nicht mehr präsent, ich hatte es in eine Schublade ganz weit unten versorgt und verschlossen. Und dann ist alles raufgekommen. Es waren keine schönen Erinnerungen.
Schliesslich war ich dann doch bereit, darüber zu sprechen. Mit meiner Frau habe ich nur einmal über die Vorfälle in meiner Kindheit geredet, ohne Details.
Ich bin direkt nach meiner Geburt von einer Familie in Frankreich adoptiert worden. Wer meine leiblichen Eltern sind oder aus welchem Land ich stamme, weiss ich nicht. Als ich elf war, trennten sich meine Adoptiveltern. Die Mutter zog mit mir und ihren drei leiblichen Kindern in die Schweiz.
Ich bin der Zweitälteste. Ich war schon immer anders als meine Geschwister. Sie waren gute Schüler, lernten fleissig und schlugen eine akademische Laufbahn ein. Ich tanzte früh aus der Reihe, hatte erste Wutausbrüche. Meine Mutter hatte keine klare Linie. Ihr Wort war nichts wert.
Den Kontakt zum Vater hat die Mutter komplett abgebrochen. Einmal hatte er Weihnachtsgeschenke geschickt. Wir durften sie auspacken, doch plötzlich entschied sie sich um und sammelte die Geschenke wieder ein. Mein Geschenk war eine Lego-Burg, ich hatte mich wirklich gefreut. Dann sagte sie, dass wir diese Geschenke jetzt bedürftigen Kindern schenken. Mir war klar, dass es nur darum ging, dass die Geschenke vom Vater kamen. Ich rastete aus.
Die Mutter war überfordert. Ich musste zu ihren Schwestern ziehen, die im selben Dorf lebten. Sie waren damals über 60, und auch sie waren überfordert mit mir. Wenn ich nicht bekam, was ich wollte, habe ich herumgeschrien und randaliert – zum Beispiel ein Glas an die Wand geworfen. Wenn mir die Tanten das Fernsehen verboten, tickte ich aus. Einmal haben sie die Wohnzimmertür abgeschlossen, damit ich nicht mehr an den TV kam. Ich wurde so aggressiv, dass sich die Tanten vor Angst im Schlafzimmer einschlossen. Da habe ich die Wohnzimmertür eingetreten.
Mit zwölf musste ich in ein Heim. Nach vier Stationen durfte ich mit 16 wieder zur Familie und begann eine Lehre als Verkäufer. Meine Geschwister waren auf dem Gymnasium, ehrgeizig, lernwillig. Mir fiel das Lernen weniger leicht. Die Mutter verglich mich oft mit den Geschwistern und warf mir vor, ich würde mir zu wenig Mühe geben.
Dann passierte es. Es war Winter, draussen schon dunkel. Ich bin ins Zimmer meines jüngeren Bruders gegangen, brauchte Hilfe bei den Hausaufgaben. Er lachte mich nur aus. Ich reagierte gereizt. Wir rangelten.
Als die Mutter dazukam, stauchte sie mich zusammen. Ich packte sie am Hals. Irgendwie bin ich dermassen wütend geworden, dass ich wirklich fest zugedrückt habe. Ich spürte nur noch Wut und Hass. Die Mutter röchelte. Ich drückte weiter zu. Die älteren Geschwister kamen herbeigeeilt. Ich presste die Daumen in die Luftröhre der Mutter. Die Geschwister schrien. Ich liess nicht los.
Erst nach einem Moment gelang es den Geschwistern, meinen Griff zu lösen. Ich bin froh darüber, ich glaube, ich hätte einfach weiter zugedrückt. Ich ging dann auf mein Zimmer und schrie, dass ich wünschte, sie wäre tot.
Heute habe ich – nach jahrelanger Funkstille – wieder losen Kontakt zu meiner Adoptivmutter. Wir sehen uns etwa vier-, fünfmal im Jahr. Vor allem damit meine beiden Kinder die Grossmutter ab und zu sehen. Am Anfang hatte ich schon Schuldgefühle. Über die Zeit damals haben wir aber nie gesprochen.
Ich denke viel darüber nach, wie das einmal mit meinen Kindern sein wird. Was, wenn sie einmal gewalttätig gegenüber mir oder meiner Frau werden? Das beschäftigt mich schon.
Aber ich glaube, dass es gar nicht so weit gekommen wäre, wenn damals ein Vater bei uns zu Hause gewesen wäre. Und ich glaube auch, dass so etwas bei einer guten Erziehung, in der man wirklich Verständnis für die Kinder aufbringt, sowieso nicht passiert.»
Anna Hildebrand* sitzt angespannt da. Die 52-Jährige freut sich nicht auf das Gespräch. Es komme praktisch nie vor, dass sie offen über die Gewalt ihrer Tochter spreche.
«Als es richtig strub wurde, habe ich mich schon mit engen Freundinnen ausgetauscht. Ich sagte einfach, meine Tochter sei frech oder aggressiv. Konkrete Beispiele erzählte ich aber nie. Ich wollte meine Tochter schützen, sie nicht blossstellen. Und ich habe mich geschämt.
Meine Tochter ist 20. Zu ihrem Vater hat sie kein enges Verhältnis, sie verbringt nur wenig Zeit mit ihm. Kurz bevor sie fünf wurde, habe ich mich von ihm getrennt. Er hatte sein Alkoholproblem nie in den Griff bekommen; meiner Tochter sagte er jeweils, ich hätte ihn rausgeworfen. Die Kleine begann sich in der Folge gegen mich zu stemmen. Sie hat einen enorm starken Willen, den sie schon immer durchsetzen wollte.
Meine Tochter machte daheim immer mehr Radau. In der Schule oder im Kinderhort glänzte sie dagegen als braves Mädchen. Sie war ruhig und angepasst. Ich habe nie viel erzählt, aber die Lehrer konnten einfach nicht nachvollziehen, dass sie zu Hause so wild sein sollte. Mit elf wurden ihre Ausraster immer heftiger. Sie schleuderte meine Handtasche durch das Wohnzimmer und schmetterte mein Handy auf den Küchenboden.
Mit 14 hatten sich die Machtverhältnisse gänzlich verschoben. Meine Tochter beschimpfte mich aufs Gröbste, schrie mir ins Gesicht: «Du hast mir nichts zu sagen, du Schlampe!»
Klar, das hat mich verletzt und beschämt. Ich fand, das gehe doch nicht! In meiner Ohnmacht reagierte ich ebenfalls laut. Es kam regelmässig zum Machtkampf. Wir haben uns gegenseitig hochgeschaukelt, wurden beide immer lauter.
Mit 15 ging sie für ein Austauschjahr nach Schweden. Ich erhoffte mir einen Neuanfang. Doch sie verliebte sich und wollte nach ihrer Rückkehr so schnell wie möglich zurück in den Norden. Da hat es angefangen mit der Gewalt. Als ich sagte, sie dürfe nicht gehen, hat sie eine Tasse nach mir geworfen. Ich bekam Angst.
Es kam immer wieder zu heftigem Streit wegen Schweden. Meine Tochter warf eine Vase nach mir, knallte einen Blumentopf auf den Boden, zerstach in ihrer Wut ein Kissen. Ich fragte mich oft: Was habe ich falsch gemacht? Warum habe ich so ein Monster grossgezogen?
Bei einem Streit stand ich im Türrahmen. Sie knallte mir die Tür ins Gesicht. Die nächsten Tage musste ich allen erklären, warum ich ein blaues Auge habe. Meine Tochter, sie ist zehn Zentimeter grösser als ich, baute sich regelmässig vor mir auf, kam mit dem Gesicht ganz nah und sagte Dinge wie: «Was willst denn du? Lass mich in Ruhe! Ich hasse dich!»
Ich hatte das Gefühl, als Mutter zu versagen. Mein Selbstwertgefühl war auf dem Nullpunkt. Ich meldete mich beim Elternnotruf. Am Anfang habe ich nur geweint. Erzählt und geweint. Ich ging dann regelmässig zu Beratungsgesprächen. Es tat gut, endlich darüber zu reden.
Mittlerweile eskaliert der Streit nicht mehr, obwohl wir beide noch immer zusammen in derselben Wohnung leben. Im Nachhinein betrachtet habe ich zu spät Hilfe geholt. Durch die Beratung lernte ich, Prioritäten zu setzen. Oft bin ich auf Kleinigkeiten rumgeritten, was dann die Tochter auf die Palme gebracht hat. Bei erneuten Wutanfällen weiss ich jetzt, wie ich reagieren muss: nicht auf Provokationen eingehen, keine Konfrontation suchen.
Wir vertragen uns zwar wieder, doch offen über die Gewaltausbrüche reden können wir noch nicht. Ich traue mich nicht, es ist noch zu nah. Ich wünsche mir, dass wir uns irgendwann richtig versöhnen können. Ich würde ihr gern sagen, wie ich mich gefühlt habe, und gern von ihr hören, was in ihr vorgegangen ist. Es wäre schön, wenn wir uns eines Tages vergeben könnten.»
* Alle Namen sind geändert
Der Elternnotruf: «Es bringt nichts, Schuldige zu suchen»
Britta Went trifft als Beraterin des Elternnotrufs regelmässig auf Eltern, die von Gewalt betroffen sind.
Beobachter: Wie viele Eltern werden von ihren Kindern misshandelt?
Britta Went: Ausländische Studien kommen auf 11 bis 20 Prozent. Die Erfahrungswerte aus unserer Praxis zeigen, dass das auch bei uns zutreffen könnte. Wir gehen davon aus, dass in der Schweiz eine von zehn Familien körperliche Gewalt von ihren Zöglingen erlebt.
Beobachter: Wie äussert sich diese Gewalt?
Went: In Form von Bedrohung, Erpressung, Sachbeschädigung, Wegschubsen, Treten, Faustschlägen in den Magen oder ins Gesicht.
Beobachter: Wann kommt es zu den Übergriffen?
Went: Gefährlich wird es, wenn Kinder Forderungen stellen wie «Gib mir Geld!» oder «Unterschreib mein Schuleschwänzen!» und die Eltern das verweigern. Oder wenn sie versuchen, die Medienzeit zu kontrollieren.
Beobachter: Sind nur sogenannte Problemfamilien betroffen?
Went: Nein. Das Phänomen ist nicht schichtspezifisch, es kommt auch in gutsituierten Familien vor. Ein erhöhtes Risiko besteht bei alleinerziehenden Müttern.
Beobachter: Was machen Eltern falsch?
Went: In genau diesem Denkmuster befinden sich viele betroffene Eltern. Doch das bringt nichts, im Gegenteil. Es ist hilfreicher, wenn sich Eltern in einer solchen Situation auf mögliche Handlungsschritte konzentrieren und schauen, wie sie daraus herausfinden.
Beobachter: Was müssen sie zuerst tun?
Went: Am Anfang geht es darum, das Schweigen zu brechen und die Taten der Kinder zu benennen. Wir sagen den Betroffenen: «Ihr Sohn schlägt Sie. Er übt Gewalt gegen Sie aus.» Zu Beginn fällt es den Eltern sehr schwer, sich das einzugestehen und die Taten des Kindes beim Namen zu nennen. Mit der Zeit sind sie eigentlich sehr erleichtert, wenn es ausgesprochen ist. Dann können sie das Problem angehen und müssen es nicht mehr verheimlichen.
Beobachter: Wie helfen Sie vom Elternnotruf?
Went: Wir unterstützen die Eltern in regelmässigen Gesprächen, damit sie den Weg aus der Gewaltspirale finden. Gemeinsam erarbeiten wir ganz konkrete Handlungsschritte. Die Eltern brauchen Unterstützung, um aus ihren Verhaltensmustern auszusteigen. Anderseits zeigen die Erziehungsinterventionen beim Kind grosse Wirkung. Wir können den Betroffenen Hoffnung machen: Es gibt viele gute Beispiele von Familien, die wieder zurück in einen gewaltfreien Umgang gefunden haben.
- Zur Person: Die Pädagogin und Familientherapeutin Britta Went arbeitet als Familien- und Erziehungsberaterin beim Verein Elternnotruf Zürich.
Tipps: Was tun, wenn es in der Familie knallt?
So reagieren Sie richtig:
- Bringen Sie sich selbst und weitere Kinder in Sicherheit.
- Schaffen Sie so schnell wie möglich Öffentlichkeit: die Wohnungstür öffnen, Nachbarn um Hilfe bitten oder während der Eskalation eine Vertrauensperson anrufen.
- Gehen Sie nicht auf Provokationen ein, bleiben Sie ruhig, tun Sie nichts Überstürztes.
- Kontaktieren Sie zur Unterstützung eine Fachstelle, beispielsweise den Elternnotruf:
Telefon: 0848 35 45 55 / Mail: 24@elternnotruf.ch / Internet: www.elternnotruf.ch