Fabian Bächli kommt kurz vor fünf von der Arbeit und begrüsst seine Mutter mit einer stürmischen Umarmung. Dann beugt er sich zu Samira hinunter, der Mischlingshündin, und knuddelt sie ausgiebig.

Fabian hat zunächst etwas Mühe mit dem Sprechen, bald aber findet er Worte und erzählt, wie sie am Mittag Couscous für 200 Schüler gekocht haben. Das Lieblingsessen des 25-Jährigen ist es nicht. Lieber hat er «Cordon Bleu mit Pommes im ‹Adler› in Grüningen». Seine Mutter Özlem Bächli beobachtet ihn mit strahlenden Augen. Fast unhörbar sagt sie: «Ist er nicht ein Schatz?»

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Vor 25 Jahren sah die Welt der gebürtigen Türkin ganz anders aus. Kurz nach der Geburt erfuhr sie, dass ihr Kind Trisomie 21 hat. Ihr Arzt hatte sie nach einem Bluttest nicht auf Unregelmässigkeiten aufmerksam gemacht. Sie forderte ihre Patientenakte an – und las dort, dass in ihrem Fall das Trisomie-21-Risiko erheblich erhöht sei. Der Arzt erklärte sein Stillschweigen damit, er habe sie nicht unnötig beunruhigen wollen. Er habe gedacht, mit ihren 26 Jahren sei sie bestimmt nicht gefährdet.

Für Özlem Bächli brach eine Welt zusammen. Sie hatte sich auf einen gesunden Buben gefreut, der Fussball spielen und vielleicht das Gymnasium besuchen sollte. Und nun? Sie suchte verzweifelt nach Bildern, um sich so etwas wie eine Zukunft auszumalen. Vielleicht würde Fabian ja eines Tages an den Special Olympics teilnehmen und ein grosser Sportler werden? Hirngespinste, aber immerhin war es ein Bild.

«Ich habe mir gesagt: Ich bin keine Oje-Frau.Und ich habe kein Oje-Kind.»

Özlem Bächli

Der Alltag der jungen Mutter war überschattet von Angst, von Überforderung. Wie würden die Verwandten reagieren, die Freunde? Würde ihr Mann sie verlassen? In einem Ratgeberbuch, das ihr das Spital empfohlen hatte, las sie, dass Ehen unter solchen Belastungen häufig zerbrechen. Ihre Grossmutter in der Türkei meinte, sie müsse sich keine Sorgen machen, das gehe vorbei. «Wie eine Grippe?», fragte Özlem Bächli. 

Trisomie 21

Jahrelang mussten sie für ihr Glück kämpfen: Mutter Özlem und Sohn Fabian Bächli.

Quelle: Gabi Vogt

Auch ihre Mutter versank in Traurigkeit. Sie mochte nicht glauben, wie übel das Schicksal ihrer Tochter mitgespielt hatte. Auftrieb gaben ihr einzig ihre Schwiegereltern, die beteuerten, dass sie Fabian liebten – «egal, was er hat».

In den ersten Wochen verkroch sich Özlem Bächli. Sie schämte sich, wollte niemandem sagen müssen, dass ihr Kind behindert sei. Als sie doch Mut fasste und mit Fabian spazieren ging, lief sie prompt in den Hammer. Die erste Frau, die in den Kinderwagen schaute, seufzte vernehmlich: «Oje!» Das verletzte Özlem Bächli sehr – und weckte ihre Widerstandskräfte. «Ich habe mir gesagt: Ich bin keine Oje-Frau. Und ich habe kein Oje-Kind. Nein, auch wir gehören dazu!»

Sie engagiert sich an allen Fronten

Özlem Bächli trat die Flucht nach vorn an, las sich durch Berge von Fachliteratur, informierte sich bei Beratungsstellen, die damals «European Down Syndrom Association» und «Lebensfreude» hiessen, und wurde Vorstandsmitglied in diesen Vereinen. In ihrem Wohnort Zollikon ZH schloss sie sich dem Turn- und dem Samariterverein an und besuchte mit Fabian das Mutter-Kind-Turnen und den Muki-Treff. Ihre Überlegung war stets dieselbe: «Wenn man mich kennt und schätzt, akzeptiert man auch mein Kind.»

In dieser Zeit sei sie nur hin und her gerannt, getrieben vom Wunsch, aufzurütteln und zu sensibilisieren. Und überzeugt, so Fabians Integration zu fördern. Sie erinnerte sich, wie ihre eigene Mutter dafür gekämpft hatte, dass sie als siebenjähriges Mädchen, das frisch aus Istanbul kam und kein Wort Deutsch sprach, sofort in der Primarschule aufgenommen wurde. Jetzt war es an ihr, dafür zu sorgen, dass ihr Sohn in einer Umgebung aufwachsen konnte, in der er Kinder mit und ohne Behinderung kennenlernen konnte.

Trisomie 21

200 Schüler wollen bekocht werden: Fabian Bächli auf dem Weg zur Arbeit

Quelle: Gabi Vogt

Mitte der neunziger Jahre war dieser Anspruch ungeheuerlich. Özlem Bächli stand damit weitgehend allein da. Als sie ihren Sohn in der Spielgruppe anmelden wollte, hiess es, man habe zu wenig Erfahrung im Umgang mit «solchen Kindern» und müsse leider absagen. Kurz entschlossen machte Özlem Bächli die Ausbildung zur Spielgruppenleiterin und nahm ihren Sohn in die eigene Gruppe auf.

Als Fabian fünf war, konnte er den regulären Kindergarten besuchen. Andere Eltern und die Kindergärtnerin hatten der Schulpflege geschrieben, dass sie ihn willkommen heissen. Özlem Bächlis Engagement trug Früchte. Dass sie damit ihre Ehe aufs Spiel setzte, war ihr nicht bewusst. Die Beziehung scheiterte schliesslich. «Meine Devise lautete ‹Fabian first›, etwas anderes gab es gar nicht für mich.»

Der Übertritt in die Schule war ein hartes Stück Arbeit. In Zollikon sah die Schulpflege keine Möglichkeit, Fabian in eine Regelklasse aufzunehmen. Da konnte seine Mutter noch so viele Briefe schreiben und Gespräche führen. Und immer wieder betonen, dass er abgesehen von gewissen sprachlichen Einschränkungen gut mit anderen Kindern klarkomme, gesund sei, sportlich und sehr pflegeleicht. Das Nein blieb endgültig.

«Meine Devise war ‹Fabian first›. Etwas anderes gab es gar nicht für mich.»

Özlem Bächli

Mit etwas Glück stiess Özlem Bächli auf die Montessori-Tagesschule «D’Insle», eine Privatschule. In deren Leitbild hatte sie den entscheidenden Satz gefunden: Auch «Kinder mit besonderen Bedürfnissen» hätten Platz. Schliesslich übernahm die Gemeinde Zollikon wenigstens die Schulkosten. Fabian war in der «Insle» der erste Schüler mit einer Behinderung. Seine Klassenkameraden mochten ihn, in kürzester Zeit gehörte er dazu.

In den folgenden Jahren fand Özlem Bächli erstmals wieder Zeit, auch an sich zu denken. Plötzlich realisierte sie, dass sie dringend neue Impulse brauchte, neue Ideen, und Leute, die ausserhalb der Behindertenszene stehen. An einer Fachhochschule machte sie einen MBA in General Management. Beruflich blieb sie ihrem Lebensthema treu und ist heute Geschäftsleiterin des Vereins Insieme-Zwirniträff in Glattbrugg ZH, der Menschen mit geistiger Behinderung fördert.

Trisomie 21

«Ist er nicht ein Schatz?» – Özlem Bächli setzte sich immer für ihren Sohn ein.

Quelle: Gabi Vogt

Fabian fand sich immer gut zurecht. Er wusste früh, dass er einmal in der Küche arbeiten wollte. Mit etwas Glück konnte er in der Institution Barbara Keller in Küsnacht ZH eine zweijährige Ausbildung als Hauswirtschaftspraktiker machen. Nach dem Abschluss fand er bei seiner Montessori-Tagesschule eine Stelle als Küchengehilfe. Ein Musterbeispiel für gelungene Integration.

«Keine Sorge, Mami, ich schalte auf Durchzug.»

Fabian Bächli

Heute hat Fabian einen 80-Prozent-Job. Den Arbeitsweg legt er allein zurück. Er kann lesen und schreiben. Mit der einen Grossmutter tauscht er SMS auf Englisch aus, mit der anderen unterhält er sich auf Türkisch. In den Ferien dreht er Filme, die er danach selber schneidet und vertont. 

Seine Mutter sagt, er wisse um seine Behinderung. Wenn ihn jemand auslache oder anpöble, reagiere er erstaunlich gelassen. Dann beruhige er sie: «Keine Sorge, Mami, ich schalte auf Durchzug.»

Özlem Bächli ist stolz auf ihren Sohn. Sie sagt, sie hätten ein schönes Leben. Das sei nur möglich, weil er stets integriert gewesen sei. «Meine ‹Fabian first›-Politik hat sich ausgezahlt.» Bloss ein Thema ist tabu: Ihr Sohn will nichts von einem Leben in einer betreuten WG wissen. Bei seiner Mutter ist es ihm am wohlsten.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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