«Allah, bleib bei mir, bis ich zu Hause bin»
Die meisten Muslime in der Schweiz haben ein entspanntes und pragmatisches Verhältnis zu ihrer Religion, sagen Studien. Doch was heisst das genau? Ein Besuch bei zwei gläubigen Musliminnen.
Veröffentlicht am 7. Juni 2011 - 09:18 Uhr
Als Eman Al Juburi mit ihrer Mutter aus dem Irak flüchtete, nahm sie fast nichts mit. Nur ein paar Kleidungsstücke und ihren Gebetsteppich. Jetzt liegt der Teppich ausgerollt in einer feuchten, engen Wohnung in Meggen, Kanton Luzern. Er ist weich und biegsam. Eman Al Juburi fährt mit der Hand über die golden schimmernde Oberfläche, sie tut es mit derselben Zärtlichkeit, mit der man einem schlafenden Kind über die Haare streicht.
Manchmal steht sie nach dem Gebet nicht sofort vom Teppich auf. Es gibt Abende, da bleibt sie eine Stunde oder länger kniend sitzen und liest im Koran. Und wenn sie sich danach schlafen legt, fühlt sie sich geborgen. «Beten ist sehr, sehr schön», sagt sie.
In der Schweiz leben rund 400'000 Muslime. Über 80 Prozent haben ein pragmatisches Verhältnis zum Islam, schreibt die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen in ihrer Studie «Muslime in der Schweiz». Doch was heisst das genau? Wie sieht ein pragmatischer Islam aus?
Seit den Attentaten vom 11. September 2001 in New York wird in der westlichen Welt viel über den Islam diskutiert. Die Fülle an Informationen vermittelt das Gefühl, die Muslime gut zu kennen. Tatsache aber ist, dass nur die Voten einiger religiöser Führer oder Intellektueller bekannt sind, die sich in den Medien äussern. Von den «gewöhnlichen» Muslimen weiss man wenig. Eman Al Juburi und ihre Mutter Leyla Bayati sind solche «gewöhnlichen» Musliminnen. Sie sind zwei von rund 8000 Irakern, die in der Schweiz leben. Der Besuch bei ihnen in Meggen ist auch der Versuch, den islamischen Alltag kennenzulernen, wie er sich jenseits der politischen Debatten um Minarett und Kopftuch in der Schweiz präsentiert.
Eman Al Juburi ist 26, ihre Mutter 51. Sie lebten in Kirkuk, waren Teil der arabischen Minderheit im hauptsächlich von Kurden bevölkerten Nordirak. Der Vater und zwei Brüder sind während des Irakkriegs umgekommen, sie selbst konnten sich 2003 in die Schweiz retten. Beide haben ernste, traurige Gesichter und schwarze Haare, die bis in die Mitte des Rückens reichen. Sie besitzen den Ausweis F, vorläufige Aufnahme. Ein Leben im Schwebezustand.
Jeden Abend läuft in der Wohnung in Meggen der Fernseher, meistens ein irakischer Nachrichtensender. Auch an diesem Abend Ende Mai. Bilder einer Anschlagsserie in Kirkuk. Die Mutter schlägt die Hände vors Gesicht. Später am Abend sagt sie, ihr grösster Wunsch sei es, nach Mekka zu pilgern. Jeder Muslim, der es sich leisten kann, sollte laut Koran einmal im Leben diese Pilgerfahrt in die Geburtsstadt Mohammeds unternehmen. «Danach bist du wie neugeboren, du bist ein neuer Mensch, alles Schlimme, alle Sorgen fallen ab von dir», sagt die Mutter. Sie sagt auch, dass sie mit dem Ausweis F eine spezielle Bewilligung bräuchte, um ins Ausland zu reisen. Dass ihr aber die nötigen Dokumente dafür aus dem Irak fehlten. Die Tochter übersetzt, sie lächelt, sie scheint mit den Tränen zu kämpfen, sie greift sich ans Herz, vollführt all die Gesten, für die die Mutter zu müde ist.
Der Alltag, um den es hier ja geht: Eman Al Juburi arbeitet sechs Tage die Woche. Sie führt zusammen mit der Mutter einen Coiffeursalon in der Stadt Luzern. Das Geschäft läuft gut, sie hat viele Kunden, Muslime, Nichtmuslime, Schweizer und Ausländer. Meistens ist sie erst um acht Uhr abends zu Hause. So kommt sie nur zweimal am Tag zum Beten, morgens und bei Einbruch der Nacht – statt fünfmal täglich, wie es der Koran vorschreibt. Vor jedem Gebet müsse man sich waschen, erklärt Al Juburi, am Gesicht, an Händen und Armen, an Kopf und Füssen. Ein Mensch, der zu Allah bete, müsse sauber sein. «Im Coiffeursalon habe ich weder Zeit noch die Möglichkeit, diese rituelle Waschung zu machen», sagt sie. Vielleicht ist ein pragmatischer Islam genau das: ein Islam, der sich der Lebenswelt anpasst. Der weich und biegsam ist und oft auch Trost spendet wie der Gebetsteppich aus Kirkuk.
Fragt man Al Juburi, wie sie die Minarettinitiative erlebt hat, begreift man auch, dass ein pragmatischer Islam etwas sehr Privates ist. Al Juburi geht es nicht um Grundsätzliches wie freie Religionsausübung. Nach der Annahme der Initiative verspürte sie keinen Ärger auf die Schweizer, sie verstand sie sogar. Nur eine tiefe Sehnsucht breitete sich in ihr aus. Denn plötzlich wurde ihr klar, wie sehr sie den Ruf des Muezzins vermisst, der in der islamischen Welt vom Minarett herab die Gläubigen zum Gebet aufruft. Sie begriff, dass sie noch sehr lange auf diesen Ruf würde verzichten müssen. «Der Ruf ist ein Stück Heimat für mich», sagt sie. «Zu Hause in Kirkuk habe ich jedes Mal Gänsehaut bekommen, als der Ruf über die Stadt hallte.» Ihr Gesicht strahlt. Das Minarett, von Schweizer Politikern allzu oft als Zeichen islamischen Machtstrebens interpretiert, ist für Al Juburi und ihre Mutter ein Sehnsuchtsort. So ähnlich wie für den in der Stadt lebenden Bergler die Alpen.
Im Vorwort zur Studie «Muslime in der Schweiz» heisst es an einer Stelle, dass man Muslimen immer öfter mit Argwohn begegnet. «Als wären sie mitverantwortlich für terroristische Anschläge, als müssten sie für konservative Ausprägungen des Islam anderswo geradestehen.» Und es heisst auch, dass die Annahme der Minarettinitiative für viele Muslime ein Schock war. Viele hätten nun Angst, in Zukunft von den Schweizern nur noch als Muslime wahrgenommen zu werden, obwohl sie ja eigentlich primär Arbeitskollegen, Mitstudenten, Nachbarn von nebenan, Mitglieder im selben Sportverein seien.
Immer wieder betonen Leyla Bayati und ihre Tochter an diesem Abend, sie seien zwar gläubige Muslime, aber trotzdem durchwegs offene Menschen. Als müssten sie sich rechtfertigen. Und die Mutter erzählt, wie zum Beweis, wie um irgendwelche Gemüter zu beruhigen, dass sie auch manchmal vor der Dorfkirche in Meggen zu Allah spreche. Gott und Allah, das sei doch dasselbe, der eine sei nicht besser als der andere.
Manchmal, wenn sie die Nachrichten aus dem Irak nicht mehr erträgt, muss Eman Al Juburi nur den Blick ein wenig senken, dann sieht sie Goldfische, die im Wasser schweben. Das rechteckige Aquarium, das unter dem Fernseher mitten im Wohnzimmer steht, ist ein Geschenk ihres Mannes. Sie heirateten am 13. Mai 2010. «Der Vorsteher der Moschee kam vorbei und las aus dem Koran.» Der Ehemann, ebenfalls Iraker, ist sieben Jahre älter als sie und wohnt zurzeit im Kanton Aargau, weil er dort Arbeit gefunden hat. Eman Al Juburi wünscht sich viele Kinder. Sie selbst ist als Mädchen und Jüngste von vier Kindern nie zur Schule gegangen. Lesen und Schreiben hat sie sich selbst beigebracht, und ihr gutes Deutsch hat sie vom blossen Zuhören gelernt. Ihre Kinder sollen es einst besser haben, sie sollen hier aufwachsen und zur Schule gehen, «richtige Schweizer werden». Und natürlich fände sie es schön, wenn auch ihre Kinder wie sie an Allah glaubten. «Aber zwingen würde ich sie nicht», sagt sie.
Sie selbst wuchs in einem gemässigten religiösen Klima auf. Nie musste sie ein Kopftuch tragen. Sie sei nicht grundsätzlich gegen das Kopftuch. Vielleicht trage sie irgendwann selbst mal eins. «Aber nur freiwillig», betont sie, «wenn ich Lust drauf habe.» Kopftuch auf Befehl, nur weil der Ehemann oder der Vater es vorschreiben – das käme ihr nie in den Sinn, allein beim Gedanken daran wird Eman Al Juburi wütend, es kocht in ihr, sie schnaubt und schüttelt energisch den Kopf. Ein pragmatischer Islam ist auch das: Gegenüber einem erstarrten, verkrusteten Islam reagiert er allergisch. Al Juburi und ihre Mutter gehen praktisch nie in die Moschee. Zu den Zeiten, an denen Frauen das Gotteshaus betreten dürfen, arbeiten sie.
Al Juburi spricht aber oft mit Allah. Wenn sie nachts allein unterwegs ist, sagt sie: «Allah, bleib bei mir, bis ich zu Hause bin.» Einmal, vor dem Einschlafen, sagte sie: «Allah, ich vermisse meinen Vater so sehr.» Und in dieser Nacht erschien ihr der Vater im Traum. Aber wie Allah aussieht, das vermag sie nicht zu sagen. Sie könne ihn sich nicht vorstellen, kein Muslim könne das. Allah sei zu herrlich, kein Bild sei imstande, diese Schönheit zu erfassen. Statt Bilder hängen an der Wand im Wohnzimmer kleine Bronzeteller und Kacheln aus Keramik, auch eine Uhr, mit Koranversen. So haben die Frauen das Gefühl, nicht allein in der Wohnung zu sein. Immer ist da jemand, der sie schützt.
Vor dem Abschied führt Eman Al Juburi den Gast durch die Wohnung. Überall hängen die Koranverse. Was steht da? Wie klingen die arabischen Verse? Die junge Frau lächelt schüchtern. Leider dürfe sie, ungewaschen, wie sie sei, Allahs Wort nicht laut aussprechen. So bleiben die kunstvollen Schriftzüge ein Rätsel.
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