Frauen gegen den Strom
Stimmt es, dass starke und eigenständige Frauen anecken? Und wenn ja: Warum?
Veröffentlicht am 4. Juli 2016 - 15:02 Uhr
«Sie hat reich geheiratet und lässt es sich gut gehen.» Oder: «Sie hat doch so eine gute Ausbildung. Und jetzt ist sie Hausfrau.» Solche Vorwürfe ringen Noëmi Holenstein nur ein müdes Lächeln ab. «Ich weiss, dass ich kein Heimchen am Herd bin. Andere können denken, was sie wollen.»
Seit sechs Jahren ist sie Vollzeitmutter und Hausfrau. Sie hat studiert und als Sekundarlehrerin gearbeitet, und die Arbeit hat ihr Spass gemacht. Trotzdem wird sie nicht so bald in ihr altes Leben zurückkehren. Zwei Jahre will sie sicher noch zu Hause bleiben. Bis die Jüngste in die Schule kommt.
Das erste Mal schwanger wurde Noëmi Holenstein mit 17 – ungeplant. Sie stand kurz vor der Matur und lebte noch bei ihren Eltern in Frauenfeld. Sie machte die Matur, bekam ihre Tochter Morena und schrieb sich an der Pädagogischen Hochschule ein. Nach der Geburt liess sie das Baby von einer Tagesmutter betreuen. Das hat ihre Entscheidung, bei den beiden jüngeren Kindern voll zu Hause zu bleiben, stark beeinflusst.
«Ich bin kein Heimchen am Herd. Andere können denken, was sie wollen.»
Noëmi Holenstein, Sekundarlehrerin und derzeit Vollzeitmutter
Sie weiss, dass ihre Art zu leben für viele ein rotes Tuch ist. Sie kennt die Debatten in den Medien, wo die deutsche Feministin Alice Schwarzer bereits vor Jahren schrieb: «Mutterschaft und Kinderkult sind die effektivste Waffe gegen die Emanzipation.»
Am schlimmsten findet Holenstein aber die Sticheleien einiger Mütter im Dorf. Diese treffen sich in der Krabbelgruppe, in der Migros oder auf dem Spielplatz von Stettfurt TG, wo Holenstein mit ihrer Familie lebt, und meist klatschen und lästern sie über andere Mütter. Wenn eine Frau aus dem Dorf schon wenige Monate nach der Geburt des Kindes wieder arbeiten gehe, heisse es: «Läck, so eine Egoistin!»
Ständig würden die Mütter die eigenen Kinder mit denen der anderen vergleichen. Und wehe, eines sticht hervor, weil es besonders begabt ist, besonders schöne Hosen trägt oder sonst irgendwie auffällt. Über dessen Mutter heisse es dann: «Pffh! Die meint wohl, sie sei etwas Besonderes!»
Irgendwann ertrug Holenstein die Missgunst nicht mehr, sie mied die Krabbelgruppe, ging nur noch selten auf den Spielplatz. Die anderen nahmen ihr das übel. «Wie arrogant die ist!», raunten sie, wenn Holenstein in der Nähe war.
Die 32-Jährige hat sich damit abgefunden, dass sie es niemandem recht machen kann. Sie eckt an. Bei Feministinnen sowieso. Aber warum bei anderen Müttern? Dass sie sich distanziert hat, wird als Affront empfunden. Und dass sie die Verantwortung für ihr eigenes Leben übernimmt – für alles, was darin gut oder schief läuft – auch.
Holenstein hat sich eingestanden, dass sie das Muttersein allein nicht glücklich macht. «Irgendwann merkte ich, dass mein Intellekt am Verhungern war. Mein Horizont kam mir plötzlich so eng vor.» Sie handelte, trat der Schulpflege bei, lernte dadurch Leute kennen und geht nun abends regelmässig an Sitzungen und danach gelegentlich auf ein gemeinsames Bier. Es geht ihr wieder gut. Verantwortung übernehmen und sich nicht als Opfer sehen, so funktioniert sie.
Daniela Lutz würde ein solches Leben kaum aushalten. Sie ist 56, verheiratet, hat vier erwachsene Kinder und nie aufgehört, als Psychiaterin zu arbeiten. Nur ein einziges Mal, als die Kinder noch klein waren, hatte sie sich vorgenommen, zwölf Monate zu Hause zu bleiben. Sie hielt nicht durch. «Ich kann mich nicht nur mit Kindern beschäftigen. Ich wäre unzufrieden, und eine unzufriedene Mutter bringt den Kindern auch nichts.» Schon ihre Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter arbeiteten als Ärztinnen.
Sie empfand es nie als Mangel, dass ihre Mutter früher nicht rund um die Uhr für sie da war. Kinder würden von der Berufstätigkeit der Mutter profitieren, glaubt sie. «Mein Beruf macht mich offener im Denken, bringt Vielfalt in mein Leben. Das gebe ich auch an meine Kinder weiter.»
«Mein Beruf macht mich offener im Denken. Das gebe ich an meine Kinder weiter.»
Daniela Lutz, Psychiaterin und ehemalige Berner Stadträtin
Dass sie fast immer Vollzeit gearbeitet hat, macht ihr kein schlechtes Gewissen. Sie plagt sich nicht mit solchen Zweifeln. Wenn sie etwas richtig findet, macht sie es. Egal, wie verrückt es ist. So war es, als sie und ihr Mann in Rumänien eigentlich nur ein Kind adoptieren wollten und dann mit zwei Mädchen heimkehrten. Oder als sie neben Beruf und zig Hobbys auch noch Politikerin wurde und für die Grüne Freie Liste in den Berner Stadtrat einzog. Sie sagt, sie wolle nicht nur vom Leben träumen, sondern ihre Träume auch leben.
Wer so offen nach dem eigenen Glück trachtet, provoziert Kritik. Erst recht, wenn es sich um eine Mutter von vier Kindern handelt, die bereit ist, ungeschriebene Gesetze zu brechen. Etwa jenes, gemäss dem der Mann der Ernährer der Familie ist. Bei der Familie Lutz ernährte die Frau die Familie, während der Mann Teilzeit arbeitete und auf die Kinder aufpasste. Sie sagt, ohne seine Unterstützung wäre all das nicht möglich gewesen. «Für viele war das, was ich tat, ein No-Go.» Nach dem vierten Kind bekam sie zu hören: «Aber jetzt bleibst du hoffentlich zu Hause!»
Lutz eckt nicht nur an, weil sie alte Rollenbilder auf den Kopf stellt. Sondern auch, weil sie auf Druck nicht so reagiert wie andere. Sie gibt nicht einfach der Harmonie zuliebe nach. Es sei nicht leicht gewesen. «Die Wege zum Erfolg sind immer beschwerlich. Man muss dranbleiben und darf nicht glauben, dass andere das für einen erledigen.» Man muss die Komfortzone verlassen. Und das ist beängstigend.
Esther Schläpfer verspürt auch jedes Mal einen Hauch von Angst, wenn sie ihre Komfortzone verlässt. Aber sie hat den Sprung ins kalte Wasser zu ihrem Lebensprinzip gemacht. Nur so ist sie das geworden, was sie ist: mit 31 die jüngste Pfarrerin am Berner Münster.
Sie hat Theologie studiert. Und hat den ersten Sprung vor sechs Jahren gewagt. Ihr Professor hatte von Bern an die deutsche Universität Heidelberg gewechselt. Und Schläpfer gefragt, ob sie seine Assistentin werden wolle.
Sie sagte zu. Aber noch bevor sie die Stelle antrat, lobte sie der Professor vor seinen anderen, älteren Assistenten in hohen Tönen. Diese bekamen das wohl in den falschen Hals. Als Schläpfer in Heidelberg ankam, liessen sie die Neue spüren, wie jung und unerfahren sie war. Ein subtiler Konkurrenzkampf begann. «Das war ein heftiges Jahr», sagt sie. Sie biss sich durch und gab nicht auf, bis sie respektiert wurde.
Kurz darauf der zweite Sprung. Von der Gemeinde des Berner Münsters kam die Anfrage, ob sie eine zweimonatige Vertretung als Pfarrerin übernehmen wolle. Sie hatte gerade Semesterferien und sagte nach kurzem Zögern zu. Sie war erst 26, hatte noch nie ein Pfarramt geleitet – und plötzlich musste sie im bedeutendsten Gotteshaus der Stadt Predigten halten. Sie arbeitete Tag und Nacht und machte ihre Sache so gut, dass die Münstergemeinde ihr einige Jahre später die Pfarrstelle anbot.
«Wenn ich von einer Idee getrieben bin, verunsichert mich Widerstand nicht.»
Esther Schläpfer, Pfarrerin am Berner Münster
Schläpfer erinnert sich, dass die Kollegen aus dem Studium meinten: «Ist das nicht eine Nummer zu gross für dich?» Sie glaubt, viel Neid herausgehört zu haben. Im Gegensatz zu den Kollegen war sie aber zuversichtlich und nahm das Angebot an. Es war die Zeit, als der Münstergemeinde die Leute davonliefen. Die Sparmassnahmen und Reformen, die damals angestossen wurden, sind noch nicht abgeschlossen.
Als Münsterpfarrerin nimmt sie an den Gesprächsrunden darüber teil, wie die Kirche der Zukunft aussehen soll. Einige Beteiligte seien ihr am Anfang vorsichtig oder misstrauisch begegnet, weil sie noch so jung ist. Schläpfer lacht. «Wenn ich von einer Idee getrieben bin, verunsichert mich Widerstand nicht.» Sie ist überzeugt, dass dieser auch nichts damit zu tun hat, dass sie eine Frau ist, sondern einfach damit, dass «Kampfgeist und Forschheit in der Schweiz nicht immer gut ankommen».
Carol Franklin erinnert sich gut an die Abneigung, die sie als Topmanagerin beim Rückversicherer Swiss Re spürte. Das war in den neunziger Jahren, als eine Frau im Kader eines internationalen Konzerns noch exotisch wirkte. «Heute gibt es für Frauen Vorbilder, aber ich kannte damals keine», sagt Franklin. Es gab niemanden, der ihr vorgelebt hätte, wie man als Frau unter Alphamännern überlebt.
So entwickelte sie ihre eigene Methode. Diese bestand vor allem darin, Härte zu zeigen und auf keinen Fall weich und sympathisch zu wirken. Denn eine Frau, die weich und sympathisch wirke, laufe Gefahr, nicht ernst genommen zu werden. Carol Franklin spürte, wie ihre Art manchen Kollegen Angst machte und dass einige von ihnen es nicht wagten, ihr zu widersprechen oder sie überhaupt anzusprechen.
«Unterdessen gibt es für Frauen Vorbilder, aber ich kannte damals keine. Heute wäre ich gelassener.»
Carol Franklin, Farmbesitzerin und einstige Swiss-Re-Topmanagerin
Sie ist inzwischen 65 und lebt in Panama, wo sie mit ihrem Mann zwei Teakholzfirmen leitet und eine Farm betreibt. Sie lacht, wenn sie an früher denkt, an ihre Zeit beim Rückversicherer. «Heute könnte ich es viel gelassener angehen.» Sie würde viel eher zugeben, dass sie einen Fehler gemacht habe oder etwas nicht wisse.
Den Panzer von damals hat sie abgelegt. Der Wandel passierte, als sie Ende der neunziger Jahre Swiss Re verliess und Geschäftsführerin von WWF Schweiz wurde. Sie nahm sich vor, am neuen Ort sympathischer und weicher aufzutreten.
Am Anfang sei es ihr nicht leichtgefallen, den Ton zu ändern. «Ich musste wirklich an mir arbeiten.» Aber irgendwann hatte sie es geschafft. Plötzlich merkte sie, dass sie mit der neuen Weichheit viel mehr erreichen konnte. Weil ihr die Leute zuhörten, offen waren für ihre Botschaften. Heute ist Carol Franklin froh, dass sie damals den Mut hatte, ihrer eigenen Stärke zu vertrauen.