Es gibt keinen sicheren Ort
Kateryna Potapenko, 28, war aus Kiew nach Winterthur geflüchtet – und ist seit einiger Zeit wieder zurück in ihrer Heimat. Diesmal erzählt sie von ihrer Silvesternacht im Korridor, gezielten Luftangriffen und fehlendem Strom.
Veröffentlicht am 19. Januar 2023 - 14:00 Uhr
Die erste Explosion des Jahres 2023 hörte ich in der Silvesternacht, um zwanzig nach zwölf. Wir waren bei einem Freund im Zentrum von Kiew. Zum ersten Mal im Leben hörten wir uns die Neujahrsansprache des Präsidenten an. Wir kommentierten viel, um die Tränen zurückzuhalten.
Die Explosion kam fast zur gleichen Zeit wie der Fliegeralarm. Die Fenster im 15. Stock wurden mit grellem Licht geflutet. Wir gingen in den Korridor. Das taten wir, weil am Tag zuvor Wohngebäude beschossen worden waren – drei Tote und etwa 20 Verletzte. Wir blieben dort, bis der Luftangriff vorüber war. Er dauerte bis zum Ende der Ausgangssperre um fünf Uhr morgens.
Auf Telegram wurde umgehend gemeldet, eine Shahed-Drohne sei abgeschossen worden, ihr Wrack sei auf ein Auto gefallen. Nach elf Monaten Krieg können hier alle eingehende Geschosse, Treffer und ausgehende Geschosse unterscheiden.
In den letzten Monaten wurde die Energieinfrastruktur mit russischen Raketen und iranischen Drohnen ins Visier genommen. Eine perfide Logik, denn je kälter es wird, desto mehr brauchen wir Heizung und Strom. Es ist eine Sache, wenn der Strom für ein paar Stunden abgeschaltet wird, aber eine ganz andere, wenn er drei Tage oder länger fehlt. Meine Verwandten in Odessa hatten einmal zwei Wochen lang keinen Strom.
Das Hauptproblem ist die Heizung. In den meisten Gebäuden in Kiew, die höher als fünf Stockwerke sind, gibt es Elektroöfen, und das heisse Wasser wird mit Elektropumpen hinaufgepumpt. Drei Tage ohne Strom sind also drei Tage ohne Warmwasser, Heizung, Kochen, Internet und Handy, denn die Antennen in der Gegend sind ebenfalls abgeschaltet.
«Unbesiegbarkeitsstellen» für alle
Viele haben sich mit Powerbanks, kleinen Gaskochern, drahtlosen Funkgeräten und – in einigen Fällen – mit Generatoren eingedeckt. Natürlich ist es verboten, einen Generator im Haus zu haben, aber das hält viele leider nicht davon ab. Vergiftungen durch minderwertige Gasflaschen, Benzindämpfe oder sogar Explosionen kommen fast jede Woche vor.
Glücklicherweise hat Kiew mehrere Kraftwerke. So wird der Strom in verschiedenen Teilen der Stadt alle fünf Stunden für vier Stunden abgeschaltet. Wann, kann man online herausfinden. Selbst wenn ich keinen Strom habe, weiss ich also, wo er eingeschaltet ist, und kann im Extremfall mit dem Bus hinfahren und meine Geräte aufladen oder das Internet nutzen. In Geschäften, Cafés und Postämtern kann man das auch – oder sich einfach nur aufwärmen. Sogar der diesjährige Weihnachtsbaum auf dem Hauptplatz ist mit einem grossen Generator ausgestattet und funktioniert als Ladestation.
Einige Freunde in der Nähe haben Gasöfen, und bis etwa zum fünften Stock reicht der Druck für heisses Wasser. Wenn es also längere Zeit keinen Strom gibt, gehen meine Familie und ich zu ihnen. Zudem haben Behörden und Freiwillige «Unbesiegbarkeitsstellen» in Schulen und Kindergärten eingerichtet – mit Generatoren, an denen man Geräte aufladen, sich aufwärmen oder Wasser kochen kann.
Wir waren während eines dreitägigen Stromausfalls im Dezember zweimal dort. Damals sank die Temperatur in der Wohnung auf 13 Grad, alle unsere Stromspeicher waren leer, und es gab überhaupt keine Kommunikation in der Gegend. Wir dachten ernsthaft darüber nach, mit der ganzen Familie in die Einzimmerwohnung meiner Grossmutter zu ziehen, wo es eine Heizung und einen Gasherd gibt.
Viele Regeln und ein Plan
Die Stromausfälle haben uns gezwungen, eine Reihe von Regeln aufzustellen: keinen Lift benutzen, alle Geräte so weit wie möglich aufladen. Man muss einen Plan haben, wie man seine Familie bei einem Stromausfall erreichen kann. Es braucht einen strategischen Vorrat an Lebensmitteln, die nicht gekocht werden müssen, an Kerzen und an Batterien für Taschenlampen, einen Wasservorrat. Reflektierende Kleidung tragen, arbeiten/kochen/lernen/waschen, solange es Strom gibt (also auch nachts).
Zum Glück ist dieser Winter mild. Nur zu den orthodoxen Weihnachten am 7. Januar hatten wir eine Woche mit leichtem Frost. Die Kälte war also nicht das Problem. Doch viele meiner Freunde brauchen für ihre Arbeit das Internet. Sie mussten Kiew verlassen und in die Städte der Zentral- oder Westukraine ziehen, wo die Situation mit den Ausfällen viel einfacher ist.
Der Beschuss kritischer Infrastrukturen hat gezeigt, dass fast alle von uns in der Nähe strategischer Objekte leben – von Transformatoren, Kraftwerken, wichtigen Pumpen. Die russischen Granaten sind nicht sehr zielgenau, die Trümmer fallen meist noch auf die Häuser. Es gibt in der Stadt keine sicheren Orte mehr. Alle glauben unbedingt an den Sieg, aber niemand weiss, wie dieser Krieg für ihn persönlich enden wird.
Heimkehr ins Ungewisse
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