Kunst fällt nicht vom Himmel
Alle drei Jahre zeigt «Bad Ragartz» Skulpturen aus aller Welt. Hinter der inzwischen grössten Freiluftausstellung Europas steckt eine Familie – und unheimlich viel Arbeit.
Veröffentlicht am 7. Mai 2018 - 11:07 Uhr,
aktualisiert am 8. Mai 2018 - 10:44 Uhr
Der Plan ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Ihre fünf absoluten Lieblingsobjekte sollen Rolf und Esther Hohmeister für den Beobachter vorstellen – fünf von über 400. Das Problem dabei: «Wir haben eigentlich nur Lieblingsobjekte», sagen die beiden, die federführend hinter der Skulpturenschau «Bad Ragartz» stehen. Als müssten sie sich dafür entschuldigen.
Und so wird die kilometerlange Begehung des Ausstellungsareals, die in umgerüsteten Golfwagen stattfindet, zum permanenten Stop-and-go. Scharfe Bremsmanöver, kaum haben sich die gelben Elektrowägelchen in Bewegung gesetzt. «Schauen Sie dort, heute fertig geworden: die ‹Polonaise›!» Gemeint ist der Beitrag der deutschen Künstlerin Christel Lechner, eine Menschengruppe aus schwerem Beton, die leichtfüssig durch den Hotelpark tänzelt. «Ist das nicht fantastisch?»
«Bad Ragartz», Europas grösste Freiluftausstellung mit zeitgenössischen Kunstinstallationen, das sind die Hohmeisters – mit Leib und Seele: Rolf Hohmeister, 75 und noch immer praktizierend als Arzt im Kurhaus, und seine Frau Esther, 69, beide passionierte Kunstliebhaber. Die Objekte aus Metall, Stein oder Holz, die an diesem frühsommerlichen Tag kurz vor der Eröffnung bereits stehen oder aufgestellt werden, die tragen sie schon monatelang mit sich herum. «Die Bilder im Kopf haben wir immer mitgenommen auf unsere Spaziergänge, um uns zu vergewissern, dass wir wirklich den richtigen Platz dafür gefunden haben», sagt Esther Hohmeister.
Der Ort, an dem eine Skulptur steht, ist bei dieser Ausstellung entscheidend. Denn das Objekt soll mit seiner Umgebung – Berge, Dorf, Kurhotel, Park davor, Wald und Weiher – zusammenspielen, sich ergänzen, vielleicht auch einmal in Konkurrenz treten. Wie in einer Familie: «Kunst und Natur sind Geschwister», findet Rolf Hohmeister. Sagts und tritt im Golfwagen für die nächsten 20 Meter auf die Tube. «Jetzt kommt der Albaner! Das wird eine Weltsensation.»
«Bliss», die Metallkonstruktion von Helidon Xhixha, glänzt in der Sonne, in den eingearbeiteten Dellen verdreht sich das Spiegelbild. Xhixha ist das, worauf auch idealistische Ausstellungsmacher wie die Hohmeisters nicht verzichten können: ein Zugpferd, ein grosser Name. Nach Bad Ragaz wird «Bliss» im Skulpturenpark an der Park Avenue in New York zu sehen sein, dem Mass der Dinge in dieser Sparte.
465 Werke von 77 Kunstschaffenden aus 17 Ländern sind an der Skulpturenschau «Bad Ragartz» dieses Jahr ausgestellt.
2600 Tonnen wiegen die Installationen total, dazu kommen 1800 Tonnen verbauter Beton für die Fundamente.
58'000 Kilometer Transportwege wurden zurückgelegt, um die Kunst ins St. Galler Rheintal zu bringen.
500'000 Besucherinnen und Besucher werden erwartet, so viele wie bei der letzten Austragung 2015.
«Der Albaner» hat aus dem beschaulichen St. Galler Dorf einen «Weihnachtsbrief» erhalten: die Bestätigung, dass er unter 2000 Bewerbern zu den knapp 80 gehört, die bei «Bad Ragartz 2018» ausstellen dürfen. «Den anderen 1920 mussten wir einen ‹Tränenbrief› schreiben», erzählt Esther Hohmeister – eine persönlich begründete Absage nach sorgfältigem Abwägen. Dieses beginnt stets nach dem gleichen Ritual, nämlich einer knappen Post-it-Notiz auf den Bewerbungsunterlagen von Esther an Rolf: von «sehr schön, unbedingt dranbleiben!» bis «um Himmels willen!».
Dass sie am Schluss des Auswahlprozederes so viele hoffnungsvolle Bewerber enttäuschen müssen, ist unangenehm. Aber es gehört zum beständigen Dialog: «Der direkte Draht zu den Künstlerinnen und Künstlern ist uns enorm wichtig. Man muss den Staub des Ateliers gerochen haben, um ein Kunstwerk zu verstehen.» Und die Arbeit wird nicht ausgehen. Bereits sind die ersten Präsentationen für die Triennale von 2021 eingetroffen.
Das war in den Anfängen noch anders. Vor der Premiere im Jahr 2000 mussten die Hohmeisters den Künstlern noch einzeln hinterherrennen; erst bei der dritten Schau von 2006 überstieg die Nachfrage das Angebot. «Bad Ragartz» wurde nach und nach auch international zur Marke.
Dieselbe Entwicklung im finanziellen Bereich: Zu Beginn mussten die Ausstellungsmacher namhafte Hypotheken auf ihr Haus aufnehmen, um den Event abzusichern. Heute resultiert bei einem Budget von 2,5 Millionen Franken eine schwarze Null, dank Unterstützerbeiträgen von Stiftungen und Privaten sowie dem Verkauf der Kunstobjekte. Nicht gewachsen ist einzig die Kommandozentrale: Sie setzt sich faktisch aus der Familie Hohmeister zusammen, zu der auch drei Töchter und sechs Enkel gehören. «Unsere Gang» nennen sie das.
7. Triennale der Skulptur in Bad Ragaz und Vaduz sowie im Alten Bad Pfäfers in der Taminaschlucht. Noch bis zum 4. November 2018; Eintritt frei. Informationen: www.badragartz.ch
«Gehen wir zu Anna!», ruft Rolf Hohmeister nun. Er stoppt das Golfmobil vor einer monumentalen Steinsäule, die aus dem Boden gewachsen scheint: «Axis Mundi» von Anna Kubach-Wilmsen, die Weltachse, geschaffen aus 25 Gesteinsarten aus fünf Kontinenten. Genau hier an diesen Platz gehöre diese Skulptur hin, sagt Hohmeister, freie Wiese rundherum, das Felsmassiv des Falknis als Kulisse. Einen Kurator braucht er für die Inszenierung nicht. «Ein Kurator ist zu akademisch, er ist ein Profi, und er ist angestellt. Das sind drei Gründe, weshalb sein Herz nicht frei ist.»
Rolf Hohmeister hingegen tut, was ihm sein künstlerisches Herz befiehlt. Wenn es um die Philosophie von «Bad Ragartz» geht, kommt der 75-Jährige in Fahrt, wie es sein gelbes Elektrowägelchen kaum schaffen würde. «Kunst, wie wir sie verstehen, soll leicht zugänglich sein, greifbar im eigentlichen Sinn des Wortes», sagt er. «Der Mensch will heute nicht mehr über die Kunst belehrt werden. Er braucht Gefühle, keine intellektuelle Informationsverarbeitung. Er will sich an das erinnern, was er gesehen hat.» Und woran zeigt sich, dass dieses Ziel erreicht wurde? «Wenn jemand nach dem Besuch der Ausstellung zu Hause seinem Enkel sagt: Das musst du einfach gesehen haben, da gehen wir hin!»
Ein geradezu programmatisches Schlusswort zum Ende der Stop-and-go-Fahrt zu Dutzenden von Lieblingsobjekten. Nur: Eine Kunstausstellung zu organisieren, das geht nie wirklich zu Ende. Scharfes Bremsmanöver, Zeigefinger auf einen heranbrausenden Lastwagen. «Sehen Sie dort, der Japaner kommt!»