Ringen um Anerkennung
Die beiden 16-jährigen Ringerinnen Annatina Lippuner und Svenja Jungo kämpfen sich an die Spitze einer Disziplin, die von der Randsportart zum Trend wird. Ab und zu müssen sie dabei sogar ihre Väter anschreien.
Veröffentlicht am 22. Oktober 2021 - 10:12 Uhr
Damit haben sie nicht gerechnet: Am Berner Ringertag müssen Annatina Lippuner und Svenja Jungo gemeinsam auf die Matte – als Gegnerinnen. Zum ersten Mal seit zwei Jahren. Damals kannten die beiden sich kaum, heute sind sie beste Freundinnen. Wohnen, trainieren und lernen zusammen. Wenn die eine kämpft, drückt die andere die Daumen.
Aber nicht heute. Stirnrunzeln, Schulterzucken, ein aufmunterndes Lächeln. Eine muss gewinnen, da kann man nichts machen. Schnell versammeln sich Zuschauer um die Matte auf dem Waisenhausplatz. Die «Meitle» gelten als grosse Hoffnungen des Schweizer Frauenringens. Erst 16 Jahre alt, blicken sie schon auf internationale Erfolge zurück. Im Juni holte Svenja Bronze an der EM in Bulgarien, einen Monat später wurde sie Vize-Weltmeisterin in Ungarn. Da erreichte Annatina den fünften Platz.
Sie nehmen ihre Plätze ein. Links Annatina in Rot, rechts Svenja in Blau. Hautenge Trikots, geflochtene Haare, knöchelhohe Schuhe. Noch bleibt Zeit für einen letzten Ratschlag von den Vätern – und ehemaligen Trainern. Handschlag, Anpfiff, los gehts. Kenner kommentieren mit «Ah» und «Oh», Laien orientieren sich am Kampfrichter. Meist schnellt sein linker Arm mit dem roten Band in die Höhe – Punkte für Annatina. Wie viele, zeigen die Finger in der Luft. Doch Mitzählen ist schwierig. «Kompliziert, gäll?» Ringer im Publikum nicken verständnisvoll, verteilen Schulterklopfer, erklären Würfe und Griffe. Zweimal drei Minuten später gewinnt Annatina.
Das Oberhaupt
«Gut, dass sich keine verletzt hat», sagt Werner Bossert, Präsident der Swiss Wrestling Federation. «Bei Freundinnen ist die Gefahr besonders gross. Wer mental nicht ganz bei der Sache ist, zieht den Kürzeren.» Wenn es eine Ringerfamilie gibt, ist Bossert ihr Oberhaupt. Am Ringertag kann er kaum zwei Schritte gehen, ohne dass jemand mit ihm schwatzen will. Die meisten kennt er von früher, als er selber noch auf der Matte stand. Doch auch wer keine Ahnung vom Sport hat, ist bei ihm richtig. «Ich kenne nur Schwingen, aber das ist ja anders», hört er dann meist, mit einem leisen, verschluckten Fragezeichen.
Schwingen ist die Schweizer Variante des Ringens und als Nationalsport sehr viel bekannter – «noch!», sagt Bossert. Die Schwinger kämpfen auf Sägemehl und haben Hosen, die man fassen kann. Dafür gibt es keine Gewichtsklassen. «Ringerinnen kämpfen normalerweise in der Halle, und die Griffe sind nicht vorgegeben», erklärt Bossert – und wird unterbrochen. «Nicht nur über die Ohren schreiben!», ruft einer aus dem Hintergrund. «An denen kommt man ja nicht vorbei», sagt Bossert und zeigt auf die seinen.
Blumenkohlohren, auch Ringerohren genannt – verwachsen, knubbelig, verformt. Wenn die Ohrmuscheln stark gerieben, geprellt oder geknickt werden, entstehen Blutergüsse, und das Knorpelgewebe wird zu wenig mit Nährstoffen versorgt. Selten muss operiert werden, meist geht der Schmerz vorbei. «Nüd Schöns», sagt Werner Bossert. «In Ringernationen wird man damit aber fast verehrt!»
Vater und Tochter
Mittagszeit. Die Veranstalter blinzeln nervös übers Bundeshaus. Da türmen sich erste Wolken, es droht Regen. Svenja beisst in ein Schinkenbrot und wirft ihrem Vater ein zweites zu. «Da hats dich erwischt.» Er deutet auf eine Schramme unter ihrem rechten Auge. Svenja zuckt mit den Schultern.
«Blaue Flecken und Kratzer sind normal. In der Schule werde ich manchmal seltsam angesehen, aber die wissen ja alle, dass ich ringe.» Vater und Tochter tragen dasselbe rote T-Shirt, haben dieselben blauen Augen. Pascal Jungo, mehrfach ausgezeichneter Ringer, trainiert im Freiburger Sensebezirk den Nachwuchs, früher auch Svenja. Vater und Trainer – geht das?
Beide grinsen und nicken dann. Meistens, momoll. «Mit 12 oder 13 wurde es schwieriger. Da habe ich manchmal den Trainer angemotzt und den Papa gemeint», sagt Svenja. «Es gibt viele Ringer, die ihre Kinder trainieren. Das ist nicht immer einfach. Wer das abstreitet, ist nicht ehrlich», sagt Pascal Jungo. Dann sprechen die beiden über den verlorenen Kampf. «Woran hats gelegen?» – «Ich war gehemmt und konnte Annatina nicht richtig ausblenden. Das muss ich besser lernen», sagt Svenja, ihr Vater nickt. «Du warst ja auch nicht darauf vorbereitet.»
Frauen und Männer
Svenja ist einen Kopf kleiner als Annatina und kämpft deshalb in einer anderen Gewichtsklasse. In Bern wurden die beiden Kategorien am Morgen zusammengelegt. Der Grund: zu wenige Teilnehmerinnen. Nichts Neues. Oft müssen sich Ringerinnen an Schweizer Turnieren sogar mit Männern messen. Schon früh reisten Annatina und Svenja deshalb an internationale Wettkämpfe, zu ebenbürtigen Gegnerinnen.
Dabei ist die Sportart nicht zwingend eine Männerdomäne: In Russland, den USA und Japan boomt Frauenringen regelrecht. Als es in Zentraleuropa noch nicht einmal eine eigene Liga für Frauen gab, baute Japan Trainingszentren auf und zeigte Ringerinnen auf einem eigenen Fernsehkanal. In der Schweiz ist das Interesse verhalten.
«Die Vereine haben es lange verpasst, auch Mädchen abzuholen. Ein Fehler, den wir korrigieren müssen.»
Werner Bossert, Präsident der Swiss Wrestling Federation
Wieso eigentlich? «Das müssen Sie den da fragen!» Mehrere Ringerfinger zeigen auf einen Mann mit Lippenbärtchen und Glatze – schon wieder Werner Bossert. «Die Vereine haben es lange verpasst, auch Mädchen abzuholen. Ein Fehler, den wir korrigieren müssen», sagt er ohne Umschweife. Noch heute gebe es viele Vorurteile. Ringerinnen seien unweiblich, «chaschtig», hätten breite Schultern und stämmige Beine. Unsinn, wie man am Ringertag sieht.
Ein weiteres Problem: Frauenringen war lange nicht lukrativ. «Athletinnen durften nicht zu internationalen Turnieren, brachten den Vereinen also weder Medaillen noch Publicity.» Als sie 2004 bei den Olympischen Spielen zugelassen wurden, gab das zwar einen Schub, trotzdem galten sie weiterhin als Anhängsel. Sie trainierten mit den Männern, besuchten dieselben Wettkämpfe und wurden kaum gefördert.
Diese Erfahrung machte auch Nadine Pietschmann (36). «Ich war früher ständig allein unterwegs und finanzierte mir meine Karriere selber. Das brauchte Biss», sagt die achtfache Schweizermeisterin. Seit drei Jahren leitet sie zusammen mit ihrem Mann die Wrestling Academy Bern. Das Ziel des Vereins: Nachwuchs fördern, auch in der Stadt. «In ländlichen Regionen ist Ringen verbreitet, hier kennt man den Sport kaum.»
Früher und heute
Pietschmann druckte Flyer, besuchte Veranstaltungen und Schulen. Zuerst kamen wenige Kinder, dann wurde die Academy regelrecht überrannt. Inzwischen suchen die Pietschmanns nach grösseren Räumlichkeiten, denn auch Erwachsene wollen im einzigen Ringerverein in Bern trainieren. Und Mädchen.
«Es ist wichtig, ihr Selbstvertrauen zu stärken und ein Teamgefühl zu etablieren. Ich möchte ihnen zeigen, dass Ringerinnen keine Exotinnen sind und mindestens genauso viel erreichen können wie Männer», so Pietschmann. Vieles sei heute einfacher als zu ihren Zeiten. «Frauen rennen im Ringsport gerade offene Türen ein, die Förderung wird sehr ernst genommen.» Trotzdem sei noch viel zu tun, sagt Werner Bossert von Swiss Wrestling. «Wir brauchen Frauen in Gremien und Kaderstellen. Vertreterinnen in den Verbänden und Trainerinnen in den Vereinen.»
Dann wird er unterbrochen, Annatina kämpft. Wie ein Krebs krabbelt sie auf ihre Gegnerin zu. Leichtfüssig, konzentriert, taktisch. «Durchhalten, du hast es gleich geschafft! Halten, halten!», ruft Jürg Lippuner von seinem Stuhl aus. Er nahm seine Tochter schon als kleines Mädchen mit auf die Matte. Damals trainierte er die Nationalmannschaft der Frauen. Schnaufen, Schweiss – manchmal tut schon das Zuschauen weh. Aber immer wieder schnellt das rote Armband in die Höhe, Annatina gewinnt.
«Vor der Sportschule wurde ich manchmal gefragt, was mein Plan B ist. Aber ganz ehrlich, ich hatte keinen. Ich wollte Ringen. Punkt.»
Annatina Lippuner, Ringerin
Nach dem Kampf fischt sie getrocknete Feigen aus der Tasche und hält Ausschau nach Svenja. Vor einem Jahr zogen die Athletinnen zusammen nach Freiburg im Breisgau. Da teilen sie sich eine Wohnung, nur wenige Minuten vom Trainingszentrum entfernt. «Wir stehen fünfmal die Woche auf der Matte, hinzu kommen Lauf- und Krafttrainings», erzählt sie. Die Einheiten sind im Stundenplan der Sportschule berücksichtigt. «In der Schweiz sassen wir den ganzen Tag in der Schule, trainierten spätabends und mussten ja auch noch lernen. Freizeit blieb daneben kaum.»
An den Wochenenden reist Annatina immer heim, nach Grabs SG. «Kurz nach dem Umzug habe ich meine Familie sehr vermisst. Mittlerweile gehts, auch wenn ich mal zwei Wochen nicht nach Hause kann.» – «Du bist ja auch schon mit 15 ausgezogen, das ist sehr früh», sagt ihr Vater. Annatina lächelt. «Svenja wurde zu meiner Ersatzfamilie. Manchmal nennt Papa sie meine vierte Schwester.»
Der grosse Traum
Am Nachmittag kommt es, wie es kommen musste: Es regnet. Jürg Lippuner spannt einen grossen Schirm auf, Svenja Jungo sucht nach ihrer Sporttasche, Werner Bossert spricht mit den Veranstaltern. Bedrückte Gesichter, nur am DJ-Pult tobt sich einer aus: Aus den Lautsprechern dudeln «It’s Raining Men» und «Purple Rain».
Eine Weile warten die Ringer und ignorieren tapfer den Regenradar. Als es kurz aufhört, singen die Beatles «Here Comes the Sun», und Helfer schrubben die Matten. Doch der Regen kehrt zurück. Stirnrunzeln, Schulterzucken – kann man nichts machen. Der Ringertag wird abgebrochen, die Verletzungsgefahr wäre zu gross.
Halb so wild für die beiden Athletinnen, die noch am Anfang stehen. «Vor der Sportschule wurde ich manchmal gefragt, was mein Plan B ist», sagt Annatina. «Aber ganz ehrlich, ich hatte keinen. Ich wollte Ringen. Punkt. Vielleicht mach ich nach dem Abschluss die Sport-RS, vielleicht unterrichte ich irgendwann. Aber bis dahin: einfach nur das hier.» Olympia ist ihr grösster Traum. Auch den teilt sie mit Svenja Jungo.