Amnesty International kritisiert die Schweiz – und jetzt?
Die Schweiz habe Nachholbedarf, sagt die Menschenrechtsorganisation. Was heisst das?
Veröffentlicht am 30. April 2024 - 09:42 Uhr
In Sachen Meinungsfreiheit ist die Schweiz keine Musterschülerin. Amnesty International kritisiert in ihrem Jahresbericht 2023/24, dass es in der Schweiz eine Bewilligung braucht, wenn Menschen für ihre politischen Überzeugungen auf die Strasse gehen. Nicht bewilligte friedliche Demonstrationen seien gewaltsam aufgelöst worden. Und nach der Eskalation des Nahostkonfliktes in Gaza haben mehrere Städte der Deutschschweiz vorübergehende Kundgebungsverbote verhängt.
Die Menschenrechtsorganisation erinnert daran, dass der Uno-Ausschuss gegen Folter bereits zum achten Mal eine Überprüfung der Schweiz vornahm. Er forderte rasche Fortschritte bei der Einführung eines Folterverbots. Denn obwohl die UN-Antifolterkonvention in der Schweiz bereits 1987 in Kraft trat, ist der Strafbestand der Folter im Strafgesetzbuch noch nicht verankert.
Amnesty und die Uno fordern mehr Kontrollbesuche in Gefängnissen
Zudem fordert der Uno-Ausschuss gegen Folter eine Stärkung des nationalen Präventionsmechanismus. Dieser sieht zum Beispiel mehr Kontrollbesuche in Gefängnissen vor, um Folter oder unmenschlichen Behandlungen vorzubeugen, wie es die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) bereits tut. Der Ausschuss verlangt auch eine unabhängige Stelle, die Vorwürfe der Polizeigewalt und der Gewalt gegen Personen im Gefängnis untersucht und strafrechtlich verfolgt.
Amnesty International kritisiert daneben die Nationale Menschenrechtsinstitution Schweiz (NMRI). Eine unabhängige Institution, die letztes Jahr gegründet wurde, um im Land die Menschenrechte zu schützen, zu überwachen und zu fördern – in Zusammenarbeit mit Bundesbehörden, Kantonen, Gemeinden und weiteren relevanten Akteuren. Amnesty moniert, dass die Finanzen der NMRI unzureichend seien und ein Mandat zur Entgegennahme von Beschwerden fehle.
Muss die Schweiz reagieren?
Der Beobachter bat Christine Kaufmann um eine Einschätzung. Sie ist Professorin für Öffentliches, Völker- und Europarecht an der Universität Zürich und initiierte das Kompetenzzentrum Menschenrechte. «Die Schweiz ist Menschenrechtsverpflichtungen eingegangen und muss sie auch umsetzen», sagt sie. «Man kann also sagen, Amnesty legt den Finger auf die Verpflichtungen der Schweiz, die aus Sicht der Menschenrechtsorganisation nicht oder nur teilweise erfüllt sind.»
«Der Bericht zeigt, wo die Schweiz Fortschritte gemacht hat – und zugleich, wo es noch Luft nach oben gibt.»
Christine Kaufmann, Professorin für Öffentliches, Völker- und Europarecht an der Universität Zürich
Ein solcher Bericht hat laut Kaufmann durchaus eine Wirkung. Etwa wenn die Schweiz der Uno über die einzelnen Menschenrechtsabkommen, die sie ratifiziert hat, Auskunft geben muss: «Fachleute schauen sich im Vorfeld diesen Bericht an, denn er ist eine wichtige Stimme der Zivilgesellschaft.»
Die Uno nehme auch häufig Bezug darauf: «Der Bericht zeigt, wo die Schweiz Fortschritte gemacht hat – und zugleich, wo es noch Luft nach oben gibt.» Ein Beispiel dafür sei die erwähnte Nationale Menschenrechtsinstitution.
«Den Bericht von Amnesty nicht unterschätzen»
Laut Christine Kaufmann darf man den Jahresbericht nicht unterschätzen: «Er gibt jenen Themen Schub, die bereits am Laufen sind – auch wenn die Punkte nicht von heute auf morgen umgesetzt werden, erhalten sie durch den Bericht mehr Aufmerksamkeit.»
Auch Amnesty International sieht den Bericht als ein Zwischenfazit. Er gebe ein Bild davon, wo der Schuh in der Schweiz noch drücke. Aber: «Das Ziel wäre natürlich, dass die Punkte im Jahresbericht nächstes Jahr nicht mehr drinstehen.»