«Die Dunkelziffer liegt noch immer bei 80 bis 90 Prozent»
Letztes Jahr wurden 14,5 Prozent mehr Vergewaltigungen polizeilich registriert. Corina Elmer, Leiterin der Opferhilfestelle «Frauenberatung sexuelle Gewalt», ordnet ein.
Veröffentlicht am 31. März 2023 - 17:16 Uhr
Frau Elmer, gemäss der polizeilichen Kriminalstatistik haben im Vergleich zum Vorjahr die Anzeigen wegen Vergewaltigungen um 14,5 Prozent auf 867 Fälle zugenommen. Wie erklären Sie sich das?
Auch wir stellten bei uns in den letzten Jahren eine leichte Zunahme der Meldungen zu sexualisierten Straftaten fest. Jedoch lässt sich über die Gründe nur spekulieren, solange es keine gesicherten Daten zu sexualisierter Gewalt gibt. Die Dunkelziffer ist und war immer schon sehr hoch und liegt bei 80 bis 90 Prozent.
Kriminologe Dirk Baier vermutet, dass es nicht unbedingt mehr Taten gibt, sondern dass mehr Frauen den Mut aufbringen, die Taten anzuzeigen. Stimmt das?
Möglicherweise tragen gesellschaftliche Bewegungen wie #MeToo oder der Frauenstreik zu einem erhöhten Bewusstsein und eventuell auch zu häufigeren Meldungen bei. Viele, vor allem jüngere, gut ausgebildete Frauen, sind sich ihrer Rechte und der gesellschaftlichen Vorurteile bei sexualisierter Gewalt bewusst. Das alles muss dringend erforscht werden und wird nun zum Glück endlich angepackt in Form einer Massnahme im nationalen Aktionsplan der Schweiz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.
«Wir müssen gewaltfördernden Männlichkeitskonzepten schon früh und gesamtgesellschaftlich entgegenwirken.»
Da die Dunkelziffer so hoch ist: Wo müsste man ansetzen?
Es braucht viel mehr präventive Massnahmen: Informationen und Aufklärung über Gewaltvorkommen, Melde- und Hilfsmöglichkeiten für Betroffene und deren Angehörige, gerade auch im institutionellen Kontext. Sexualisierte Gewalt muss erkannt, frühzeitig gestoppt und die Folgen für die Betroffenen möglichst reduziert werden.
Alles strukturelle Massnahmen. Reicht das?
Nein, wir benötigen Aufklärung und Ansätze, um gewaltbegünstigenden Strukturen und gewaltfördernden Männlichkeitskonzepten schon früh und gesamtgesellschaftlich entgegenzuwirken. Dazu Aus- und Weiterbildung zu den Hintergründen und der Dynamik von geschlechtsspezifischer Gewalt bei relevanten Fachpersonen, etwa im Bildungs-, Sozial-, medizinischen und rechtlichen Bereich. Zudem sind Strukturen notwendig, um Betroffenen rasch, umfänglich und bedürfnisorientiert Unterstützung und Begleitung anzubieten. Auch hinsichtlich vor allem junger Tatpersonen muss der gesellschaftliche Wille da sein, mit diesen intensiv an ihren Einstellungen und ihrer Verantwortungsübernahme zu arbeiten und damit möglichen Rückfällen und einer Chronifizierung von Gewaltverhalten vorzubeugen.
«Ein Opfer muss sehr viel Mut und Kraft für eine Anzeige und das nachfolgende Verfahren aufbringen.»
Zu den Anzeigen: Was sind die Hauptgründe, warum eine Frau eine Vergewaltigung anzeigt?
Häufig ist es der tiefe Wunsch nach Gerechtigkeit, indem der Täter zur Rechenschaft gezogen wird und das erlebte Unrecht anerkannt wird, durch ihn, aber auch durch die «Gesellschaft», sprich das Gericht. Für andere ist es Teil der Verarbeitung der Tat und ein Teil ihres Heilungsprozesses, um danach mit diesem Kapitel ihres Lebens abschliessen zu können. Viele Frauen berichten uns, dass sie andere schützen wollen und damit verhindern wollen, dass der betreffende Täter noch weitere Personen vergewaltigt.
Warum entscheiden sich trotzdem so viele Frauen gegen eine Anzeige?
Ein Opfer muss sehr viel Mut und Kraft für eine Anzeige und das nachfolgende Verfahren aufbringen. Ein Strafverfahren ist sehr belastend, zieht sich über lange Zeit hin, und die Opfer sind mit vielen kritischen Fragen sowohl aus dem Umfeld als auch bei Polizei und Staatsanwaltschaft und dann nochmals vor Gericht konfrontiert. Viele wissen das vorher nicht, darum ist auch eine begleitende Unterstützung durch die Opferhilfe so wichtig. Andere wiederum sind sich dessen sehr bewusst und nehmen diesen Weg in Kauf, um hinzustehen und ein Zeichen zu setzen. Auch wenn es noch viel zu selten zu einer Verurteilung kommt.
Was sind weitere Hürden, um eine Tat zur Anzeige zu bringen?
Studien haben gezeigt, dass vor allem Gefühle von Scham, die Angst, dass einem nicht geglaubt wird, und generelle Vorbehalte gegenüber der Polizei eine Rolle spielen. Zudem wird ein Grossteil der Sexualdelikte durch eine bekannte oder Vertrauensperson verübt. Das erschwert einem Opfer zusätzlich, diese anzuzeigen und vor Gericht zu bringen. Sie gerät in enorme Loyalitätskonflikte.
«Nach einer sexualisierten Gewalttat ist eine medizinische Notfallversorgung ohne Anzeigedruck hilfreich für Betroffene.»
Inwiefern spielen Vergewaltigungsmythen und das gesellschaftliche Stigma eine Rolle?
Vorurteile in der Gesellschaft und die Verantwortungsabwehr vieler Tatpersonen – mehrheitlich männlich – tragen dazu bei, dass Betroffene sich mitverantwortlich fühlen an einer Gewalttat. Verstärkt wird dieses Gefühl durch die bestehende Gesetzesgrundlage, die noch immer den Nachweis eines Nötigungsmittels erfordert, damit die Tat als Vergewaltigung qualifiziert wird. Zum Glück wird sich das mit der geplanten Revision des Sexualstrafrechts verbessern. Aber es bleibt ein Vier-Augen-Delikt, bei dem Täter und Opfer sich oftmals kennen. Das erschwert den strafrechtlichen Weg ungemein.
Was muss sich verbessern?
Medizinische Gewaltschutzabteilungen oder auch Krisenzentren, wie sie von verschiedenen Seiten gefordert werden, tragen sicher zu einer Verbesserung bei. Das sieht man zum Beispiel im Kanton Waadt, wo die Verurteilungsquote höher ist als in anderen Kantonen, wohl dank einer solchen medizinischen Gewaltabteilung an der Uniklinik in Lausanne. Nach einer sexualisierten Gewalttat ist eine medizinische Notfallversorgung ohne Anzeigedruck hilfreich für Betroffene. Sie bekommen die notwendige medizinische und psychosoziale Unterstützung, und es wird eine gerichtstaugliche Spurensicherung durchgeführt, ohne dass sie gleich anschliessend zu einer Einvernahme müssen. Meist werden die Betroffenen von einer geschulten Fachperson durchgehend begleitet und betreut. Anschliessend werden sie an die Opferhilfe verwiesen, wo sie weitere Unterstützung und Beratung hinsichtlich einer Anzeige erhalten. Aber auch die Ausbildung der mit der Strafverfolgung betrauten Beamtinnen und Beamten spielt eine wichtige Rolle im Anschluss an eine Vergewaltigung. Es ist entscheidend, wie das Setting und die Durchführung der Befragung gestaltet sind.
Was muss speziell beachtet werden?
Viele Opfer sind traumatisiert, und es ist wichtig, die notwendigen Einvernahmen fachkompetent, das heisst opfer- und traumasensibel durchzuführen. Sonst kommt es zu einer Retraumatisierung oder einem Rückzug der Opfer. Diese Verbesserung in der Ausbildung der Strafverfolgung ist jetzt zum Glück angedacht im nationalen Aktionsplan zur Istanbul-Konvention. Zudem dauern die Verfahren insgesamt zu lange. Hier braucht es dringend mehr Ressourcen bei Strafverfolgung und auch in der Opferhilfe. Deren Beraterinnen können theoretisch Opfer an Einvernahmen begleiten, was sich stabilisierend und unterstützend auswirkt. Aber diese Begleitungen sind sehr zeitintensiv, und es fehlt auch hier an den Ressourcen, um das regelmässig tun zu können.
2 Kommentare
"sexualisierten Straftaten " - versuchen Sie es doch einmal mit normalem Deutsch.
Auch wenn wir 2023 schreiben, Frauen sind immer noch Opfer männlicher Täterschaften. Empfehle deshalb: Alle tragen Pfefferspray bei sich und haben eine Nahkampfausbildung.