«Weshalb wollen Sie nach so langer Zeit wissen, was damals genau geschehen ist?» Die Frage an Felix und Ruth Steinmann bleibt lange unbeantwortet. Zunächst stellt der 67-jährige Ex-Bezirksschullehrer aus Würenlos AG seinerseits Fragen in den Raum. Fragen, die ihm seit jenem tragischen 16. Mai 1980, «als sie mir das Ruthli getötet haben», nicht aus dem Kopf gegangen sind. Was konnte das Kind veranlasst haben, vom Velo abzusteigen und in das Waldstück im «Chefihau» zu gehen, wo es seinem Mörder in die Arme lief? Das Fehlen von Schleifspuren lässt den Schluss zu, dass das Mädchen dies aus freien Stücken tat. «Hat sie jemanden angetroffen, zu dem sie Vertrauen hatte?»

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Dieses Ungewisse, dieser nagende Zweifel daran, dass sich das Verbrechen an der zwölfjährigen Ruth Steinmann wirklich so abgespielt hat, wie es von der Polizei, der Staatsanwaltschaft und vom Gericht angenommen wurde: «Das plaged öis.» Felix Steinmann sagt es mehr als nur einmal. Er spricht ruhig, seine Beschreibungen der Geschehnisse vor 22 Jahren sind präzis. Laut rufend und von einer inneren Unruhe getrieben, sei er in den Wald gelaufen, als sein Ruthli gegen Abend überfällig war. Dabei habe er einen Mann auf dem Moped angetroffen, den er später als Werner Ferrari identifizierte. «Ich bin bis heute davon überzeugt, dass es Ferrari war. Oder wollte ich ihn vielleicht einfach wiedererkennen?»

Wenn sich die 63-jährige Ruth Steinmann an den Freitag zurückerinnert, der das Leben ihrer Familie von Grund auf verändert hat, dann kommt ihr zuerst dies in den Sinn: «Etwas war seltsam, anders als sonst. Ich war schon den ganzen Tag über nervös und aufgewühlt, als hätte ich geahnt, dass etwas passieren würde.» Dazu passt eine Begebenheit, die die Eltern von Ruths Zeichenlehrer erfuhren: Unmittelbar vor der Tat habe das Mädchen in der Schule gemalt – schwarze Tulpen, ein düsteres Bild. «Das hat überhaupt nicht zur fröhlichen Art unserer Tochter gepasst», sagt die Mutter.

Durch die Recherchen des Buchautors Peter Holenstein werden diese vergessen geglaubten Episoden bei der Familie Steinmann wieder wach. Ebenso das Gefühl, damals bei den polizeilichen Ermittlungen nicht ernst genug genommen worden zu sein. «Sie haben uns einfach übergangen», meint Felix Steinmann. Zum Beispiel habe er aus eigenem Antrieb Notizen vom Ablauf jener dramatischen Stunden gemacht, doch sei die Polizei nicht daran interessiert gewesen. Voller Wut habe er die Zettel daraufhin zerrissen, erinnert er sich. Heute bereut er es, damit ein Ereignisprotokoll fortgeworfen zu haben.

«Hoffnung nie aufgegeben»
Mit dem Auftauchen der neuen Fakten ist bei Steinmanns der Wunsch zurückgekehrt, alle Tatsachen über die Ermordung ihres Kindes zu erfahren. «Diese Hoffnung haben wir nie aufgegeben.» Zu einem Kontakt mit Hanna U., die angibt, damals selbst am Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, ist es bisher nicht gekommen. Die nach mehr als 20 Jahren aufgetauchte Zeugin fürchtet die Konfrontation mit den Eltern des getöteten Mädchens. «Von Schuld kann man nicht sprechen», sagt Ruth Steinmann jedoch. Hanna U. müsse damals in einem extremen Abhängigkeitsverhältnis zu den Männern gestanden haben, die ihren Schilderungen zufolge jetzt als mögliche Täter in Frage kommen. Das Ehepaar hat Hanna U. deshalb angeboten, ihr durch ein Gespräch bei der Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse zu helfen.

Verarbeiten, einen Abschluss finden: Das ist auch für Felix Steinmann der Antrieb, doch noch die Wahrheit herauszufinden. «Es hat etwas Lösendes, wenn man es weiss», sagt er, «auch nach so langer Zeit.» Dabei denkt er an die eigene Geschichte, aber auch an jene der Eltern der anderen Kinder, die Opfer von bis heute unaufgeklärten Gewaltverbrechen geworden sind. «Ganz tief in einem drin ist da so ein Gefühl: Wenn wir es wissen, dann haben wir das Ruthli wieder.»

Felix Steinmann ist im Verlauf des Gesprächs einmal aufgestanden, um ein Foto seiner ermordeten Tochter zu holen. Ein hübsches Mädchen mit blonden Haaren und offenem Blick. Alle Medien wollten es haben, damals, als der Fall Ferrari Schlagzeilen machte. Aber die Steinmanns haben es nie hergegeben. Sie tun es auch jetzt nicht.

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