Schweizer Bildung als Exportschlager
Fast 8000 Kinder büffeln an den 17 Schweizerschulen im Ausland. Es sind längst nicht mehr nur die Sprösslinge von Auslandschweizern. Auf Schulbesuch in Spanien.
Veröffentlicht am 3. Februar 2015 - 10:11 Uhr
Barcelonas Morgenverkehr zwängt sich röhrend durch die Strassenschluchten. Es ist kurz nach acht, der Bus hat sich eine Lücke erkämpft und gibt den Blick frei auf eine Hauswand mit dem Schild «Carrer Guillem Tell». Eine Wilhelm-Tell-Strasse hier, 800 Kilometer entfernt von der Hohlen Gasse? Vielleicht ein Zufall. Vielleicht aber ein Fingerzeig.
Denn wer die Carrer Guillem Tell zu Ende geht und nach der kleinen Bodega rechts ins schmale Strässchen einbiegt, landet vor so etwas wie einem Aussenposten der Eidgenossenschaft. Ohne Fahnen und Kuhglocken, dafür mit Kindern und Jugendlichen, die auf ein langgezogenes Gebäude zuströmen und sich auf Spanisch und Katalanisch necken – bevor sie dann, wie auf Knopfdruck, ins Deutsche wechseln, als sie den Mann kreuzen, der gerade aus dem Eingang tritt: «Guten Morgen, Herr Affolter.»
Pascal Affolter, der Gang federnd, das Haar nach hinten gekämmt, Direktor der 1919 gegründeten Schweizerschule in Barcelona. Er bittet zum Kaffee in den «Club Suizo», das öffentliche Lokal gleich im Parterre der Schule. Über dem Eingang ein Schild, eine weisse Kuh auf rotem Grund, darunter diskret ein Schweizerkreuz. Der 45-Jährige, der den Job in Barcelona letzten Sommer übernahm und davor jahrelang die Schweizerschule in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá führte, hält die Tür auf und sagt: «In Bogotá hatten wir alles voll mit Schweizer Fahnen und Wappen. Hier müssten wir vielleicht noch etwas nachrüsten.»
Vielleicht. Doch die Eltern der 640 Kinder und Jugendlichen, die ihre Sprösslinge hier an die private «Escuela Suiza de Barcelona» schicken, tun das nicht wegen helvetischer Symbole. Sie bezahlen im Monat zwischen 500 und 700 Euro Schulgeld – und was sie dafür wollen, ist Bildung auf Schweizer Niveau. Das heisst: Unterricht nach Schweizer Lehrplänen, mit Schweizer Lehrmitteln, vermittelt zu einem grossen Teil durch Schweizer Personal.
Das alles hat zwei entscheidende Vorteile gegenüber dem Unterricht an spanischen Schulen. Zum einen können Gymnasiasten an der «Escuela Suiza» eine eidgenössische Matura ablegen – und haben damit problemlosen Zugang nicht nur zu spanischen, sondern auch zu Schweizer Universitäten. Zum anderen lernen sie hier wesentlich mehr Sprachen als anderswo. Unterrichtssprache ist Hochdeutsch, schon vom Kindergarten an. Erst auf Sekundarstufe werden vor allem naturwissenschaftliche Fächer auf Spanisch unterrichtet, damit die Schüler später – etwa für ein Studium in Spanien – auch im einheimischen Bildungssystem klarkommen.
Wenn in der Schweiz die meisten in der dritten Klasse zaghaft mit ihrer ersten Fremdsprache beginnen, sind die Schüler in Barcelona in ihrem Deutsch also schon ziemlich sattelfest. Zu Spanisch und Katalanisch – die beiden Sprachen, mit denen die Kinder hier aufwachsen – kommen in der Sekundarstufe zuerst Englisch, dann Französisch. Wer die Schulzeit an der «Escuela Suiza» durchlaufen hat, sollte in der Lage sein, sich in fünf Sprachen zu verständigen.
Schweizerschulen auf drei Kontinenten:
Ein Rundgang durch die Gebäude zeigt: Der Deutschunterricht zeigt Wirkung. Unterhaltungen mit katalanischen Kindern und Jugendlichen sind auf Deutsch mühelos möglich. Das sei für sie gar keine wirkliche Fremdsprache mehr, sagt abgeklärt eine Sechstklässlerin: «Wir haben sie so früh und so spielerisch gelernt, dass wir es eigentlich gar nicht bemerkt haben.» Die Gymnasiasten, die im Geografieunterricht bei Lehrer Beat Brügger gerade über die internationalen Gaspipelines durch Syrien sprechen, bringen auch so sperrige Wörter wie «Erdgasverflüssigungsanlage» über die Lippen. Und im Kindergarten keifen und plappern die Vier- und Fünfjährigen beim Spielen untereinander zwar in ihrer Muttersprache, beantworten aber im grossen Kreis die Fragen von Kindergärtnerin Murielle Bollier auf Hochdeutsch. Als der kleine Andrea einem anderen Knaben dabei helfen muss, die Perlen aufzuräumen, die dieser verschüttet hat, fragt er ihn gar mit vorwurfsvoll rollendem r: «Warum musst du das immer so herumschmeissen?»
Elf Uhr, Pause. Deutschlehrer Hans Zurbriggen tritt nach draussen, gönnt sich eine schnelle Zigarette, bevor er auf einen Kaffee in den «Club Suizo» verschwindet. Seit 27 Jahren unterrichtet der Walliser hier. Er schüttelt seine weisse Mähne, lacht: «Nein, nach Hause zurück zieht es mich nicht.» Zu sehr behage ihm das Klima hier – das meteorologische wie auch jenes des Unterrichts. Spanische Kinder seien sehr lebhaft, das mache Spass, auch wenn es zuweilen eine Herausforderung sei, sie zu bändigen. Denn: «Etwas, was man in der Schweiz als Lehrer oft erlebt, hat man hier nie: eine Klasse, in der einen alle bloss passiv anschauen und keiner den Mund aufmacht.»
An der «Escuela Suiza» in Barcelona stammt die Hälfte der 60 Lehrkräfte aus der Schweiz. Das ist entscheidend. Denn der Bundesrat anerkennt eine Schweizerschule nur als solche, wenn sie – wie es im neuen Schweizerschulen-Gesetz heisst, das Anfang 2015 in Kraft trat – «den Unterricht in den für die schweizerischen Lehrpläne relevanten Fächern mehrheitlich von Personen mit schweizerischer Lehrberechtigung erteilen lässt».
Das ist nur eines der Anerkennungskriterien. So müssen Schweizerschulen gemeinnützigen Charakter haben. Sie müssen politisch und religiös neutrale Bildung garantieren und den Unterricht «zu einem angemessenen Teil» in einer Landessprache der Schweiz abhalten. Und sie müssen einen Patronatskanton haben, der die pädagogische Aufsicht übernimmt – nur dann winkt den Schulen dieselbe Anerkennung wie jenen im Mutterland. Und nur dann fliesst Geld: 20 Millionen Franken überweist der Bund jährlich Educationsuisse, dem Verein der Schweizerschulen, zur Förderung der «Vermittlung schweizerischer Bildung und Kultur im Ausland».
Dieses Gut hat in der Welt einen guten Ruf: Schuldirektor Pascal Affolter bezeichnet es gar als «wahren Exportschlager». 17 Schweizerschulen gibt es heute in Europa, Asien und Lateinamerika. Gut 7700 Kinder und Jugendliche drücken zwischen Bangkok und São Paulo die Schulbank nach Schweizer Lehrplänen – das sind über 1000 mehr als vor zehn Jahren. Die Nachfrage, schätzt Affolter, dürfte weiter steigen. «Wir sind ein kleines, rohstoffarmes Land», sagt er. «Dass wir trotzdem so erfolgreich sind, werten viele Menschen als Zeichen, dass wir die Bildung ernst nehmen. Dass wir unsere Lehrer seriös ausbilden und Wissen nach klugen Methoden vermitteln.» Zudem färbe ein genereller Respekt für die demokratische Tradition der Schweiz auf die Auslandschulen ab. Vor allem in Lateinamerika gebe es eine Oberschicht, die ihren Kindern nebst guter Bildung auch Werte mitgeben wolle, die sie mit der Schweiz in Verbindung bringe: Gemeinsinn, Kompromissbereitschaft, friedliche Konfliktlösung.
Als Exportprodukt waren die Schulen im Ausland nicht vorgesehen. Die erste entstand 1839 in Neapel, auf Initiative der dortigen evangelischen Gemeinde. Ihr gehörten vor allem Kaufleute aus der Schweiz und aus Deutschland an, die ihren Kindern den katholisch verbrämten Unterricht der lokalen Schulen ersparen wollten.
An den Daten und Standorten der weiteren Gründungen lässt sich ablesen, wie sich die Geschäftsbeziehungen der Eidgenossenschaft entwickelt haben. Bis 1900 gründeten Schweizer Kaufleute Schulen in Italiens Handelsstädten. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen Spanien und die in den siebziger Jahren wieder geschlossenen Schulen in Ägypten hinzu. Nach dem Zweiten Weltkrieg Lateinamerika, in den sechziger Jahren Bangkok und Singapur. Der Bund begann früh, diese von privaten Vereinen gegründeten Schulen zu unterstützen – die meisten nahmen zwar von Anfang an auch Kinder anderer Nationalitäten auf, doch sie galten vor allem als Schulen für Kinder von Auslandschweizern.
Das sind sie heute nicht mehr im selben Ausmass. Schweizer Kinder sind längst in der Unterzahl. Doch sie halten sich wacker: In den Zimmern in Barcelona sitzen neben den Schülern aus dem gehobenen katalanischen Mittelstand seit Jahren gut 150 Jugendliche, deren Schweizer Eltern für Firmen wie Roche oder Zurich arbeiten. Oder die aus Schweizer Familien stammen, die schon seit Jahrzehnten in Katalonien leben. Erstaunlich: Die Nachfrage hält sich trotz der wachsenden Konkurrenz durch internationale Privatschulen, die mit der Globalisierung aus dem Boden schossen und um die Kinder der Jobnomaden buhlen.
Besuch in der 8. Klasse bei Elena Brendolis. Zimmer D15, nüchterne Möbel, blaue Spinde. Thema: die Wunsch-Schule. Draussen fliegen Volleybälle, auf dem Platz hat eine Turnstunde begonnen, Davíd sagt: «Längere Pausen wären gut. Oder noch besser: nur noch Pausen.» Gelächter in der Klasse, der 13-Jährige murmelt auf Spanisch etwas vor sich hin. Julia wünscht sich einen grösseren Pausenhof – und wie zur Bestätigung donnert einer der Bälle gegen das Fenster. Gloria hätte gern eine grössere Mensa, Vicky «mehr Natur». Sie benennen damit eines der Grundprobleme der Schweizerschule in Barcelona: die Enge. «Wir platzen aus allen Nähten», bestätigt Direktor Pascal Affolter. Ein Ausbau ist jedoch nicht möglich, zu dicht ist das Quartier hier bebaut. Vor einigen Jahren kursierte die Idee, am Stadtrand eine neue Schule zu bauen. Doch schon nur die Gedankenspiele darüber fielen bei den Eltern der Schüler durch, sagt Affolter: «Die meisten unserer Schüler wohnen hier im Quartier.»
Und so bleibt die Schule, wo sie sich seit 1924 befindet – unterbrochen nur von den Jahren 1936 bis 1939, als der Spanische Bürgerkrieg tobte und Barcelona heftigen Angriffen der von Nazideutschland unterstützten Faschisten ausgesetzt war. «Wir sind im Quartier verankert, wir gehören dazu, auch wegen des Cafés im Erdgeschoss, das ein Treffpunkt ist», sagt Affolter.
Ein bisschen, schmunzelt er, verstehe er die Schule auch als Schweizer Botschaft: «Bei uns gibt es Kaffee und Jugendliche, die eine gute Ausbildung erhalten. Positiver kann man unser Land kaum darstellen.»
Fehlen vielleicht wirklich einfach noch ein paar Fahnen.
Weitere Informationen: www.educationsuisse.ch