Manchmal staunt Albin Reichmuth heute noch, dass damals niemand Fragen stellte. Nicht der Hotelbesitzer im Maderanertal, nicht die Zimmervermieterin im Appenzellerland, auch niemand in Rom. Alle schwiegen, wenn Pfarrer Alfred Amiet in Begleitung des Schulbuben Albin in die Ferien fuhr und das Zimmer mit ihm teilte. Auch im gottesfürchtigen Elternhaus im solothurnischen Trimbach fragte niemand nach. «Es war schlicht undenkbar, dass ein Priester Kinder missbrauchte.»

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Als sich der Pfarrer zum ersten Mal an ihm verging, war Albin Reichmuth neun Jahre alt. Das Martyrium dauerte sechs lange Jahre, von 1956 bis 1962.

Unzählige Geistliche haben sich an Kindern und Jugendlichen vergangen, doch die Schweizer Bischofskonferenz ignorierte das Problem lange. Erst als der amerikanische «Boston Globe» 2002 einen riesigen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche aufdeckte, erliess die Bischofskonferenz erste Richtlinien für die Prävention von Missbrauchsfällen. Es dauerte noch weitere acht Jahre, bis sich die Bischöfe bei den Opfern entschuldigten.

2010 war auch Albin Reichmuth bereit, sich seiner Geschichte zu stellen. Ein Burn-out brachte das jahrzehntelang Verdrängte an die Oberfläche, in der Psychotherapie konnte er sich zum ersten Mal öffnen. «Das fühlte sich an, als ob sich ein gewaltiger, unter Druck stehender Dampfkessel entleeren würde», sagt der 74-Jährige. Er entschloss sich, einen Schritt weiter zu gehen, und bat das zuständige Bistum Basel, die Kosten für seine weitere Psychotherapie zu übernehmen. Das Bistum lehnte ab. 

Erst 2018 wagte Reichmuth den nächsten Schritt und gelangte an den Präsidenten des Kirchgemeinderats, John Steggerda. Und siehe da: Plötzlich hörte jemand zu, äusserte sein aufrichtiges Bedauern und bot konkrete Hilfe an. Reichmuth ging nun an die Öffentlichkeit. Erst anonym als «Paul», später mit vollem Namen. Jahrzehntelang hatte er vermutet, er sei nicht der Einzige gewesen. Tatsächlich: Nach und nach meldeten sich acht weitere Opfer des Pfarrers oder deren Angehörige bei der Kirchgemeinde.

Offiziell 350 Opfer – doch es ist nur die Spitze des Eisbergs

Die Schweizer Bischofskonferenz führt seit 2010 eine Statistik über die gemeldeten Übergriffe von katholischen Geistlichen. Bis 2019 wurden insgesamt 350 Opfer gezählt, allein in den letzten drei Jahren waren 132 dazugekommen. Die meisten Opfer waren gemäss bischöflicher Statistik zum Zeitpunkt des Übergriffs minderjährig, der Grossteil sogar jünger als zwölf Jahre.

Der Fall Trimbach legt die Vermutung nahe, dass die bischöfliche Statistik nur die Spitze des Eisbergs offenbart. Denn von den neun Fällen des Pfarrers aus Trimbach landete nur jener von Albin Reichmuth in der offiziellen Statistik. (Eine Chronologie der Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Schweiz finden Sie weiter unten im Artikel.) 

In der Schweiz dürften Hunderte, wenn nicht Tausende Opfer von sexuell übergriffigen Geistlichen leben, die sich bei keiner Stelle gemeldet haben. Sie tragen ihre Missbrauchserfahrung zum Teil seit Jahrzehnten mit sich herum. Weil sie sich nicht trauen, jemandem davon zu erzählen. Weil sie befürchten, damit alte Wunden wieder aufzureissen. Oder weil man ihnen nicht glaubt. 

Bis heute gibt es in der Schweiz keine umfassende historische Analyse der Missbräuche in der katholischen Kirche. Einzig die Klöster Einsiedeln und Fischingen sowie das Freiburger Institut Marini liessen ihre Geschichte durch eine externe Stelle aufarbeiten:

  • In Einsiedeln konnte man mindestens 15 Mönche eruieren, die im letzten Jahrhundert sexuelle Übergriffe begingen, 9 davon an Minderjährigen.
  • Beim Fischinger Kinderheim berichteten 9 der 14 Befragten von sexuellen Übergriffen.
  • Beim Marini-Institut fanden Historiker 21 Fälle von Minderjährigen, die jahrelang «schwerwiegend und wiederholt» missbraucht wurden.

Aufarbeiten – für eine bessere Zukunft

Die Westschweizer Opfervereinigung Sapec fordert seit Jahren, dass Licht in das dunkle Kapitel gebracht wird. «Es wäre extrem wichtig, die Vergangenheit aufzuarbeiten, um daraus für die Zukunft die richtigen Präventionsmassnahmen ableiten zu können», sagt Sapec-Präsident Jacques Nuoffer.

Immerhin hat die Bischofskonferenz im Dezember 2019 eine unabhängige Studie angekündigt – auf Antrag ihres Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld». Seither geschah, zumindest gegen aussen, nichts.

Der neue Churer Bischof, Joseph Bonnemain, 19 Jahre lang Sekretär des Gremiums, wiegelt ab. Noch seien nicht alle involvierten Institutionen in der katholischen Kirche so weit, sich ihrer Geschichte zu stellen. «Die Opfer verdienen diese Aufarbeitung», sagt er im Interview mit dem Beobachter.

Bonnemain ist aber zuversichtlich, dass alle Bistümer, die Römisch-Katholische Zentralkonferenz als Vertreterin der kantonalen Landeskirchen und die Ordensgemeinschaften für eine historische Aufarbeitung zu gewinnen seien. «Ich glaube, es ist eine grosse Wende eingetreten. Viele haben inzwischen erkannt, dass wir nichts mehr verheimlichen dürfen. Es braucht eine vollständige Transparenz über die Vorkommnisse.»

Daniel Kosch, der Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz, spricht sich zwar ebenfalls für eine Aufarbeitung aus, lässt sich aber eine Hintertür offen: «Die Zentralkonferenz macht ihre Zustimmung davon abhängig, dass alle Bistümer und die Ordensgemeinschaften sich beteiligen, sich bereit erklären, die Archive zu öffnen und Informationen im Rahmen der Vorgaben des staatlichen Rechts zugänglich zu machen.»

Der Zeitplan der Aufarbeitung ist jedoch noch unklar. Im Sommer soll zunächst eine Pilotstudie starten, deren Resultate in einem Jahr vorliegen sollen. Erst dann beginnt die eigentliche Aufarbeitung.

Für den Luzerner Kirchenhistoriker Markus Ries ist klar: Schon vor bald 20 Jahren, als das unglaubliche Ausmass des Missbrauchs in den USA publik wurde, hätte die katholische Kirche mit einer umfassenden Aufarbeitung beginnen müssen. «Schwere menschliche Defizite führten zu einer eigentlichen organisierten Verantwortungslosigkeit.» Und: «Das alles geht zulasten der Opfer.»

Der Grund für die zögerliche Aufarbeitung ist für den Luzerner Geschichtsprofessor Markus Furrer klar: «In der katholischen Kirche gibt es unglaubliche Flügelkämpfe, die Ausrichtung reicht von liberal bis traditionalistisch.» Furrer, der vor bald zehn Jahren die Zustände in den Kinderheimen des Kantons Luzern aufarbeitete und dabei mit staatlichen, katholischen und reformierten Institutionen konfrontiert war, sagt unmissverständlich: «Die herrschende Struktur der katholischen Kirche legt sich selber lahm.»

Immer wieder sexuell missbraucht

Der Genfer Jean-Louis Claude wollte nicht warten, bis die katholische Kirche Licht in das dunkle Kapitel bringt. Der heute 78-Jährige hatte als Kind im Waisenhaus Marini im freiburgischen Montet einen jahrelangen Alptraum erlebt. Immer wieder wurde er von Angestellten und Priestern sexuell missbraucht, mehrfach vom damaligen Direktor. «Die Namen der Täter haben sich bei mir eingeprägt, die Zeit in Montet hinterliess bei mir unauslöschbare Spuren.»

Als er 2010 nach Akten zu seiner Kindheit zu suchen begann, beschied man ihm, es gebe das Archiv des Waisenhauses nicht mehr. Als er insistierte, erhielt er einen Brief von Bischof Charles Morerod: «Ich verstehe die Tiefe Ihres Leidens, die mich ebenfalls leiden macht. Leider ist es heute nicht mehr möglich, das Vorgefallene nachzuprüfen.»

Der Bischof täuschte sich. Jean-Louis Claude fand mit Hilfe eines Westschweizer TV-Journalisten eine Strafakte des Kantons Freiburg. Daraus erfuhr er, dass der stellvertretende Direktor des Waisenhauses in den Fünfzigerjahren wegen der sexuellen Übergriffe verurteilt worden war und es gegen den leitenden Erzieher eine Untersuchung gab. Claude brauchte drei Jahre, bis er sich dazu durchringen konnte, seine 50 Seiten dicke Akte zu lesen – all die Pein brach wieder auf. Für seine Suche nach der Wahrheit erhielt Jean-Louis Claude zusammen mit anderen Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen 2013 den Prix Courage des Beobachters.

Die Genitalien «untersucht»

Im Fall eines Geistlichen aus dem Kanton Freiburg griff Bischof Charles Morerod kompromisslos durch – wurde später aber von ganz oben zurückgepfiffen. Zwei Opfer und ein Zeuge hatten ihm 2016 im persönlichen Gespräch geschildert, was ihnen durch Pater R. widerfahren war. Einer berichtete, wie der Pater 1967 in einem Pfadfinderlager in Italien übergriffig geworden war. Das andere Opfer schilderte, wie der Geistliche seine Genitalien «untersucht» hatte. Der Zeuge, der zur gleichen Zeit im Internat war, erzählte, wie Pater R. abends beim Zähneputzen den Knaben ins Pyjama griff, um zu kontrollieren, ob sie Unterhosen trugen.

Morerod suspendierte den Priester umgehend und leitete eine kirchenrechtliche Untersuchung gegen den heute 84-Jährigen ein. Zwei Jahre später hob der Vatikan die Suspension mit Verweis auf das hohe Alter des Priesters auf. Für Bischof Morerod eine Desavouierung, für die Opfer unbegreifbar.

Mit Morerod als Präsident rief die Bischofskonferenz schliesslich 2016 eine offizielle Genugtuungskommission ins Leben. Zudem schuf sie einen mit einer halben Million Franken dotierten Fonds, um die Opfer von verjährten sexuellen Übergriffen zu entschädigen. Gespeist wurde der Fonds durch die Bischofskonferenz, die Vereinigung der Höheren Ordensobern und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz. Inzwischen musste er mehrfach neu aufgestockt werden. Bis Ende 2020 wurden 126 Personen entschädigt – mit insgesamt 1,783 Millionen Franken.

Für die Opfer sehr kompliziert

Doch der Weg, den die Opfer gehen müssen, ist lang und aufreibend. Sie können sich nicht direkt an die bischöfliche Genugtuungskommission wenden, sondern müssen ihre Ansprüche einem Fachgremium unterbreiten, das die Bischofskonferenz eingerichtet hat. Es prüft den Sachverhalt und stellt der Kommission einen Antrag.

Viele Opfer wissen nicht, dass sie auch an die Commission d’Ecoute, de Conciliation, d’Arbitrage et de Réparation (Cecar) gelangen könnten (Anlaufstellen im Überblick siehe Ende des Artikels) – 2016 von der Opfergemeinschaft Sapec zusammen mit dem Bistum Genf, Lausanne und Freiburg gegründet, aber von der Kirche unabhängig. Die Anlaufstelle bekommt jedoch immer wieder Steine in den Weg gelegt – von der Kirche.

Die ehemalige FDP-Nationalrätin und Cecar-Präsidentin Sylvie Perrinjaquet sagt: «Ursprünglich war die Idee, dass die Cecar die Höhe der Entschädigung bestimmt und das Geld dann von einer Anwaltskanzlei direkt ans Opfer ausbezahlt wird.» Doch dann habe die Bischofskonferenz in der Deutschschweiz eine Art Parallelstruktur geschaffen und Anlaufstellen bei den Bistümern und der Genugtuungskommission eingerichtet. Inzwischen müssen alle von der Cecar gesprochenen Beträge von der Genugtuungskommission abgesegnet werden. Dabei stelle diese immer wieder «völlig unangemessene Fragen», wie die Vorfälle genau abgelaufen seien, sagt Perrinjaquet.

Das Mandat der Cecar läuft Ende 2021 aus. Bisher werde man im Unklaren gelassen, ob es danach weitergehe, sagt Perrinjaquet.

Unklar ist auch, wie Entschädigungen bemessen werden. Albin Reichmuth erhielt den Maximalbetrag von 20'000 Franken. Andere Opfer bekamen 10'000, wieder andere nur 5000 Franken. «Es braucht eine Pauschalentschädigung, um zu bestätigen, dass die Institution ihre Verantwortung anerkennt», fordert Sapec-Präsident Jacques Nuoffer.

Musterbriefe: Meldung über sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld und Gesuch auf finanzielle Genugtuungszahlung

Musterbriefe für Betroffene: Melden Sie verjährte sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld und stellen Sie einen Antrag auf eine finanzielle Genugtuung

Update vom 11. Juni 2021: Katholische Kirche akzeptiert kantonale Opferhilfestellen

Wer von katholischen Würdenträgern sexuell missbraucht wurde, findet nun auch ausserhalb der katholischen Kirche Hilfe. Die Bischofskonferenz entschied, dass neu die kantonalen Opferhilfestellen ebenfalls Entschädigungsanträge beim kirchlichen Genugtuungsfonds einreichen können. Bisher waren dazu nur die von der Bischofskonferenz eingesetzten Diözesanen Fachgremien und die Westschweizer Anlaufstelle Cecar befugt. Viele Betroffene haben bis heute grosse innere Widerstände, sich mit ihrer leidvollen Geschichte an ein kirchliches Gremium zu wenden. 

Die katholische Kirche bezahlt Opfern von sexuellem Missbrauch eine Genugtuung von maximal 20'000 Franken. Für die Bemessung der Höhe dieses Betrags ist neu nicht mehr die Schwere des Übergriffs das entscheidende Kriterium, sondern die gesundheitlichen, familiären, beruflichen und sozialen Folgen der erlittenen Übergriffe.

Anlaufstellen für Opfer sexueller Übergriffe in der Kirche
Anlaufstelle Cecar
Selbsthilfegruppen
Opferhilfe Schweiz
Anlaufstellen der Bistümer
Whistleblower-Plattform des Beobachters