Der Pastor steht an einer seichten Stelle des Thunersees und drückt den Kopf von Philipp Höhener einige Sekunden unter Wasser. Als er auftaucht, stimmen die Leute um ihn herum «We are Family» an. Höhener blickt in die singenden Gesichter und denkt: «Jetzt gehöre ich dazu. Jetzt bin ich angekommen.»

Philipp Höhener war 23, als er offiziell in die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten aufgenommen wurde. «Das war der schönste Moment meines adventistischen Lebens», erzählt der 41-Jährige. «Das Gefühl der Zugehörigkeit war nie so gross wie in diesem Augenblick. Ich war von allen Sünden reingewaschen. Ich war wiedergeboren.»

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Höhener hatte praktisch sein ganzes Leben bei den Adventisten verbracht. Er besuchte die adventistischen Pfadfinder, leitete Jugendgruppen, war Pianist bei den Gottesdiensten. Ab zwölf diskutierte er jeden Samstag in der Sabbatschule über Gott, die heiligen Schriften und das richtige Leben.

Bei den Adventisten ist der Samstag heilig. Von Sonnenuntergang am Freitag bis Sonnenuntergang am Samstag darf man keine Arbeit verrichten, egal, wie unbedeutend sie ist. Alle weltlichen Aktivitäten sind untersagt: Sport treiben, aufräumen, einkaufen, Kino. «Man darf nicht mal schwitzen.»

Das Leben in der Gemeinschaft passt ihm. Die Gottesdienste und die Pfadigruppe geben Halt in einer strukturlosen Welt. Am Samstag – obwohl damals üblich – muss er nicht in die Schule. Höhener, der Einzelgänger, der Frömmler – in der Schule wird er gehänselt – findet nur schwer Anschluss.

Die Siebenten-Tags-Adventisten sind eine protestantische Freikirche. Ihren Ursprung haben sie in den USA. Seit 1883 gibt es in der Schweiz einen Ableger, ihm gehören 4600 Mitglieder an, verteilt auf rund 50 Gemeinden. Die Adventisten glauben an die Wiederkehr von Jesus Christus. Die von Prophetin Ellen G. White propagierte Lebensweise bereitet sie darauf vor, denn nur diejenigen werden von Jesus errettet, die strikt nach den 28 adventistischen Glaubensüberzeugungen leben.

Das schlechte Gewissen

Wie fremd adventistische Überzeugungen in der realen Welt sind, erfährt Höhener erstmals während der Pubertät Pubertät Wie sollen Eltern mit ihren Teenagern umgehen? . Die Hormone spielen verrückt, die Mädchen sind attraktiv, jedes Problem gleicht einem Weltuntergang. «Jedes Mal, wenn ich mich befriedigte, hatte ich ein schlechtes Gewissen. Jedes Mal, wenn ich einen Schluck Alkohol trank, war ich innerlich zerrissen. Jedes Mal, wenn ich eine Zigarette rauchte, wurde ich von schlechten Gedanken verfolgt.»

Die Verlockungen sind zu gross, Höhener entwickelt ein Doppelleben. Am Wochenende ist er Adventist. Unter der Woche feiert er, tanzt, raucht, trinkt Alkohol, trifft sich mit Mädchen. Verfolgt vom schlechten Gewissen.

Mit 19 findet er seine erste grosse Liebe. Eine hübsche 16-Jährige. Sie ist nicht gläubig, sie werden trotzdem ein Paar. «Es wird erwartet, dass die Partnerin Adventistin ist oder es bald wird.» Sie wird es nicht. Sie schlafen miteinander. Innerlich zerrissen beichtet er es seinen Eltern. «Für meine Mutter war ich ein Schwerverbrecher.» Er zieht mit 21 aus, für die Eltern ist auch das Verrat.
 

«Jeder wollte besser sein als der andere. Daran gehst du kaputt.»

Philipp Höhener, ehemaliger Adventist


«Die meisten Adventisten brechen regelmässig ihre Glaubensgrundsätze», sagt Höhener. «Solange man nicht darüber redet, interessiert das niemanden.» Denn bei Verstössen gegen die Ordnung würde die korrigierende Seelsorge eingeschaltet. «Bei schwerwiegendem sündhaftem Verhalten müssen korrigierende Massnahmen ergriffen werden. Das kann durch die Einräumung einer Klärungsfrist oder den Entzug der Mitgliedschaft erfolgen», steht in der Gemeindeordnung. Die Klärungsfrist ist eine Art Probezeit. Gründe für korrigierende Seelsorge sind etwa: Unzucht, wechselnder Beischlaf, Rauschmittel Drogen legalisieren Wie schlimm sind Drogen wirklich? .

Die Adventisten kämpfen gegen Mitgliederschwund und sind deshalb nicht mehr so strikt. Der sündige Höhener bekommt keine Klärungsfrist verhängt. «Ich durfte sogar weiter meiner Tätigkeit im Jugendleiterteam nachgehen. Bei Personalmangel wirfst du einen guten Mitarbeiter nicht wegen eines Ausrutschers raus.» Höhener ist quasi Mitarbeiter des Monats: Er zahlt den Zehnten, ist engagiert, immer an vorderster Front, immer da, wenn man ihn braucht.

Die Entscheidung

«Es war wie Schizophrenie», erzählt er. Der Drang, immer besser, gottähnlicher zu werden, bringt ihn an physische und psychische Grenzen. Man kann immer ein bisschen mehr beten, mehr spenden, mehr freiwillige Arbeit leisten. «Jeder wollte besser sein als der andere. Daran gehst du kaputt.» Es gibt immer wieder Fälle von Depressionen, Suizidversuche Suizidgedanken «Ich habe aus dem Loch gefunden» . Beides hat er in seiner Familie erlebt.

Höhener ist 22 Jahre alt, als in einer Jugendstunde irgendjemand wieder irgendeine Bekehrungsgeschichte erzählt. Er bricht zusammen. «Ich war am Ende, konnte nicht mehr aufhören zu weinen.» Das Doppelleben, es zerreisst ihn. Er kann so nicht mehr weitermachen. Er muss sich entscheiden. Für Gott, die Familie und die Adventisten – oder für die Liebe. Er macht mit seiner Freundin Schluss. «Ich meinte, jetzt komme Jesus in mein Leben.» Doch Jesus kommt nicht.

Aber die nächste Liebe. Auf einer Osterreise nach Wien lernt er seine heutige Frau kennen. Eine gläubige Christin, die bei Freikirchen wie dem ICF mitmacht. Wieder prallen zwei Welten aufeinander. «Ich stellte von Anfang an klar, dass ich meinen Glauben nie verlassen werde.» Sie akzeptiert, sie werden ein Paar. Doch sie wird mit dem adventistischen Glauben nicht warm. Er ist ihr zu stier, zu altmodisch. Trotzdem begleitet sie Höhener zum Gottesdienst, an Jugendtreffen, zu Gemeindeversammlungen. «Nach drei Jahren merkte ich, dass sie nie Adventistin wird», sagt er. «Es war mir egal.»

Als er den Eltern verkündet, dass er diese Frau heiraten werde, herrscht betretenes Schweigen. «Ein Adventist darf nur mit einem Adventisten zusammen sein. Andere werden wie Menschen zweiter Klasse behandelt.» So heiraten Adventisten vorzugsweise ihresgleichen, die Stammbäume verflechten sich. «Darum sind so viele Adventisten miteinander verwandt.»

Illustration: Menschengruppe sitzt auf Wiese
Quelle: Andreas Gefe
Ein Video ändert alles

Sechs Jahre später. 11. April 2012. Höhener und seine Frau kommen von einem Termin. Regula, eine adventistische Freundin, hütet die Tochter. Als sie zurückkommen, ist sie aufgeregt, zückt ihr Handy. Sie zeigt ein Video, das sich mit der Symbolik der Freimaurerei in der adventistischen Kirche auseinandersetzt. Eine Offstimme kommentiert, zu sehen ist das Familiengrab von Prophetin Ellen G. White, darauf ein Obelisk. Weitere Freimaurersymbole auf unterschiedlichen Bildern aus adventistischer Literatur erscheinen nacheinander. Ein Foto, auf dem Ellen G. White inmitten von Freimaurern sitzt, wird eingeblendet. Die Beweisführung ist wirr und abstrakt. Doch Höhener ist wie elektrisiert.

Freimaurer sind überzeugt, dass die ständige Arbeit an sich selbst einen zu einem menschlicheren Verhalten führt. Sie glauben an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Toleranz und Humanität. Adventisten sehen in ihnen aber eine Geheimgesellschaft, deren Lehren und Ansichten teuflischen Ursprungs sind.

Höhener beginnt, auf eigene Faust zu recherchieren. «Ich verbrachte drei schlaflose Wochen damit, Zitate und Schriften der Freimaurer mit unseren zu vergleichen. Ich wollte herausfinden, dass alles nur ein grosser Fehler war.» Auch seine Freundin Regula beginnt zu zweifeln. Sie tauschen Links und Literatur aus. Je mehr sie suchen, desto mehr Widersprüche entdecken sie. «Langsam wurden wir gewahr, dass wir ein Leben lang indoktriniert und manipuliert wurden.» Die Fassade bröckelt.

«Der schlimmste Moment war, als ich dieses Zitat von Ellen G. White entdeckte: ‹Mein Werk trägt den Stempel Gottes oder den Stempel des Feindes. In dieser Hinsicht gibt es keine halbe Arbeit. Die Zeugnisse sind entweder vom Geiste Gottes oder vom Teufel.›» Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen. Die Parallelen zwischen den Adventisten und den Freimaurern sind für ihn nun offensichtlich.

Der Austritt

Bei seinen besten Freunden, einem Ehepaar aus der Gemeinde, stösst er auf Unverständnis. «Sie sagten mir, sie wüssten, dass auf der Führungsebene vieles im Argen liege. Aber das halte sie nicht davon ab, zu glauben, dass Gott einen Plan für die Adventisten habe.» Doch wenn man nicht mehr an Ellen G. White glaubt, hat man bei den Adventisten nichts verloren. Nach 34 Jahren verlässt Höhener die Gemeinschaft. «Ich war wie im freien Fall.»

Er geht mit einem Feuerwerk. Er schreibt allen wichtigen Leuten eine Mail, warnt sie vor dem falschen Glauben. «Ich versuchte, mich zu rechtfertigen und die anderen von meinen neuen Ansichten zu überzeugen. Das würde ich heute anders machen.»

Sein Austrittsschreiben ist wirr, abstrus, voller Selbstzweifel. Er beleidigt die Prophetin, bezeichnet sie als teuflische Quelle. Er bombardiert Freunde und Verwandte mit Mails. Er schleicht sich in adventistische Foren ein. «Sie warfen mich raus und rieten mir, einen Psychiater aufzusuchen.» Das tut er nicht. Er macht Youtube-Videos, schaltet einen Blog auf. Er ist wie besessen.

Die Beziehung zu seinen Eltern ist angespannt. Seine Schwester scheut sich, mit ihm über den Austritt zu reden. Er habe nur noch mit einem Ehepaar aus dem adventistischen Umfeld Kontakt. Viele wollen nichts mehr mit ihm zu tun haben. «Verständlich.» Und trotzdem kann er nicht aufhören, darüber zu reden. «Ich bin immer noch daran, diese Zeit zu verarbeiten. Darum schreibe ich jetzt ein Buch.»

Bereut er etwas? Höhener überlegt lange. «Nein oder nur in seltenen Momenten.» Er hasse die Adventisten nicht, er fühle nur Traurigkeit. Manchmal auch Glück, wenn er an die Zeit bei ihnen zurückdenke. Wenn er seine Geschichte erzähle, fühle er vor allem eines: Freiheit.

«Wenn man mich heute fragt: ‹Woran glaubst du?›, sage ich: ‹Ich bin der ehemalige Adventist. Das bin ich nämlich.›»

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Dominique Strebel, Chefredaktor
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