Soll ich Geld geben?
Wie hilft man offensichtlich Notleidenden auf der Strasse am besten? Vier häufig gestellte Fragen zu Bettlern und wie Fachleute die Situation beurteilen.
Veröffentlicht am 25. Juni 2021 - 15:03 Uhr
Die wenigsten Bedürftigen gehen auf der Strasse betteln. Wer es trotzdem tut, befindet sich in der Regel in einer ernsten Notlage.
Die Pandemie hat mehr Leute in solche Not gebracht . «Lebensentwürfe, die vorher schon auf wackligen Beinen standen, gehen plötzlich nicht mehr auf», sagt Christoph Zingg, Leiter des Sozialwerks Pfarrer Sieber in Zürich. «Wir rechnen mit einer klaren Zunahme von Armutsbetroffenen – spätestens in ein bis zwei Jahren, wenn sie die staatlichen Leistungen ausgeschöpft haben», sagt Manuela Jeker vom Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter in Basel.
Bettelnde Menschen können für Passantinnen und Passanten unangenehm sein und Unsicherheiten auslösen. Jeker betont: «Jede und jeder soll sich völlig frei fühlen, etwas zu spenden oder nicht. Es ist eine ganz persönliche Entscheidung.» Sie ist nicht immer einfach, insbesondere bei Drogensüchtigen oder Romagruppen.
Fest steht, dass auch das soziale Netz in der reichen Schweiz nicht alle auffängt. Bessergestellte können die Situation von Notleidenden mit einer direkten Spende zumindest für den Moment etwas entschärfen.
«Wir in der Schweiz sind den Anblick armer oder gar verwahrloster Menschen nicht mehr gewohnt.»
Manuela Jeker, Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter, Basel
Anderseits gibt es grundsätzlich genügend Hilfsangebote – und es besteht die Gefahr, dass durch die Gabe genau jene Strukturen zementiert werden, die Betroffene zum Betteln gezwungen haben. Grundsätzlich muss das komplexe Problem Armut auf staatlicher, wenn nicht staatenübergreifender Ebene angegangen werden. Einzelne Private können es nicht lösen. Ein paar Franken, die man einer offensichtlich notleidenden Person gibt, mögen für sie viel Geld sein. Die staatliche Fürsorge können sie nicht ersetzen.
1. Sind Sachspenden besser als Geld?
Nein, nicht immer. Wer Lebensmittel oder Kleider geben möchte, sollte unbedingt zuerst die Person fragen, was sie wirklich braucht – auch wenn das Überwindung kostet. Denn die siebte warme Suppe oder der zehnte Schal ist nutzlos.
Der Vorteil von Bargeld ist, dass Betroffene es für das einsetzen können, was sie am dringendsten brauchen. Diese Autonomie lindert das Ohnmachtsgefühl vielleicht ein bisschen: «Mittellose Personen leiden oft unter dem Gefühl, bevormundet zu werden , ihre Geschicke nicht mehr selbst lenken zu können», sagt Manuela Jeker. Und: Geld zu geben, sei jedenfalls die direkteste Form der Umverteilung. Eine weitere Möglichkeit ist, stattdessen an etablierte Hilfswerke zu spenden.
2. Besteht bei Geld nicht die Gefahr, dass damit Drogen gekauft werden?
Doch. Etwa wenn man einem schwerst Drogensüchtigen Geld gibt. Christoph Zingg vom Sozialwerk Pfarrer Sieber kennt einige von ihnen. Die Sucht hat sie unter Umständen derart im Griff, dass es ihnen nicht einmal gelingt, an einem staatlichen Drogenabgabe-Programm teilzunehmen. Zingg wirbt für Entspannung: «Es ist nicht unsere Aufgabe, andere Erwachsene zu erziehen.» Und: «Wenn ich ihnen Geld gebe, müssen sie nicht den billigsten, schlechtesten Stoff kaufen.»
Kurzfristig trägt Geld also zum Wohlbefinden und allenfalls sogar zur Gesundheit der Süchtigen bei. Es spielt aber leider auch den Drogendealern in die Tasche – doch die machen so oder so ein Geschäft.
Worauf kann man beim Spenden achten? Welche Gütesiegel bedeuten was? Wie zeichnen sich private Hilfswerke gegenüber grossen Spendenorganisationen aus? Mit einem Beobachter-Abo erhalten Sie mit dem Merkblatt «Wie richtig spenden?» weitere Tipps.
3. Wenn ich Menschen aus Osteuropa Geld gebe, unterstütze ich damit kriminelle Bandenbosse, die sie zum Betteln zwingen und ausbeuten?
Das ist nicht ausgeschlossen. Die Volksgruppe der Roma ist gemäss Europarat eine der am meisten benachteiligten, diskriminierten und verfolgten Gruppen in Europa. «Wir können nicht ausschliessen, dass sich Opfer von Zwangsbettelei auf unseren Strassen befinden – wir wissen es schlicht nicht», sagt Toprak Yerguz vom Justiz- und Sicherheitsdepartement in Basel-Stadt. Dort halten sich seit der Aufhebung des Bettelverbots letzten Sommer vermehrt Romagruppen auf, vorwiegend aus Rumänien.
Zwangsbettelei gilt als eine Form von Menschenhandel. «Menschenhandel nachzuweisen, ist extrem aufwendig und schwierig – oft werden die Opfer erpresst und sagen nicht aus», sagt Yerguz. Die Behörden konzentrierten sich auf die Bekämpfung der Zwangsprostitution und Arbeitsausbeutung, weil diese einen noch höheren Leidensdruck auslösen. Dass sich Opfer selbst bei den Behörden melden, sei bis jetzt nur selten vorgekommen und auch nicht zu erwarten.
Gassenarbeiterin Manuela Jeker ist in Basel mit einer Übersetzerin unterwegs, die auch die Kultur der Roma kennt. Ihr Eindruck: «Bosse, denen ich zutraue, sich auf Kosten anderer zu bereichern, habe ich nie gesehen.» Sie kann nachvollziehen, dass grössere Gruppen von Bettelnden für die Wohnbevölkerung unangenehm sein können. «Wir in der Schweiz sind den Anblick armer oder gar verwahrloster Menschen nicht mehr gewohnt.»
4. Ich will die Situation der Roma besser verstehen: Was treibt sie in die Armut und warum sind sie hier?
«Das Bild vom Romaboss, der seine Landsleute ausbeutet, ist völlig falsch», sagt Christoph Wiedmer, Co-Geschäftsleiter der Gesellschaft für bedrohte Völker. Die Familien lebten in grosser Armut und kämen meistens ganz legal für Handwerksarbeiten oder Saisonjobs in die Schweiz – etwa als Erntehelfer. Erst wenn sie weder Arbeit noch eine andere Unterstützung fänden, gingen sie betteln. «Wir müssen diesen Menschen eine würdige Chance geben, statt sie zu verbannen
.»
Solange sich die Lebensumstände der Roma in ihrer Heimat nicht verbessern und sie zu uns kommen, müssen Passanten selber entscheiden, wie sie damit umgehen. Durch eine Geldspende kann man die offensichtliche materielle Not der Menschen lindern und ihnen etwas Gutes tun. Nicht ausgeschlossen ist dabei aber, dass man so ein System auf lange Sicht rentabel macht, das man eigentlich durchbrechen möchte.
Die Rechtslage ist kantonal, teilweise sogar kommunal unterschiedlich. Es gibt auch absolute Bettelverbote. Sie verletzen die Europäische Menschenrechtskonvention, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diesen Januar entschieden. Zum Menschenrecht auf Privatleben gehört auch das Recht, in einer Notlage seine Situation durch Betteln zumindest ein bisschen zu verbessern. Schweizer Kantone sind nun verpflichtet, Bettelverbote so anzupassen, dass die Behörden nach den Umständen des Einzelfalls entscheiden können.
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6 Kommentare
Sehr gut geschrieben, danke für diese Erläuterungen und Recherche. Mein Eindruck war es auch, dass es vermehrt Bedürftige gibt auf der Strasse. Ich leere für sie jeweils mein Münzfach, so dass sie zumindest etwas Kleines zum Überbrücken haben. Mehr verlangen sie nicht mal… Dank des Artikels überlege ich mir nun ob noch mehr drinliege. Direkthilfe ist für mich persönlich der beste Weg. So weiss ich, dass es am richtigen Ort ankommt und nicht in der Administration versinkt. Für grössere Spenden sind wir jedoch auf Organisationen angewiesen, die diese Hilfen für uns erledigen.
«Das Bild vom Romaboss, der seine Landsleute ausbeutet, ist völlig falsch» - tatsächlich? Wer macht das denn?
Von Interesse wäre etwas über die Organisation, Logistik und das Management der sichtbaren Bettler, wie sie z.B. in Basel anzutreffen sind, zu erfahren. Wie oder mit wem können diese Menschen, meist ohne Schulbildung, von Rumänien bis in die Schweiz oder weiter reisen? Würden sie arbeiten können oder wollen, falls Ja was denn? Wer, gut informiert, organisiert, instruiert und verpflegt sie? Wie werden sie den verschiedenen Ortschaften und innerhalb diesen zugeteilt und zirkuliert? Wie viel Geld wird damit gemacht? Wohin fliesst dieses?
Wenn das Geschäftsmodell nicht lukrativ wäre, gäbe es dieses Geschehen wohl kaum, das ist kein Altruismus.
In diesem Zusammenhang wäre auch interessant zu erfahren, was die Bestimmungen der Roma sind, welche mit teils luxuriösen Gespannkombinationen aus Frankreich kommend jährlich in Massen Plätze und Wiesen in der Romandie während Monaten voll in Beschlag nehmen? Auch z.B. in der Nähe von Basel und Bern den ganzen Rastplatz Reconvillier an der A16 Transjurane. Was ist der echte Hintergrund? Wovon leben diese Menschen? Wie verdienen sie ihren Lebensunterhalt? Entrichten sie Steuern? Was geschieht bei Krankheit und Unfall? Mit wem und wie sind sie vernetzt?
Fragen über Fragen mit bisher wenig überzeugenden Antworten ...
Es gibt in der Schweiz schon Fälle, wo man plötzlich arm werden kann - trotz Versicherungen (auch Erwerbsunfähigkeitsversicherung). Je höher der ausgeübte Beruf - desto tiefer der Fall.
Nach einem Unfall und vielen Tests: Wenn die IV "Nein" sagt, es gibt nichts, ziehen alle Versicherungen mit. Kein Taggeld, keine Pensionkasse. Zu gesund für die IV zu krank um zu arbeiten. Wenn man nicht weiss, ob es Unfall oder Krankheit ist, kann Funkstille herschen...
Nur das Bare ist das Wunderbare...
Dieser Artikel sagt sehr wenig über die wirklichen Gründe von Armut aus.
Er sagt so gut wie gar nichts über die Strukturen aus, welche in die Armut führen.
Dass die Roma eine benachteiligte Ethnie sind ist klar.
Dass es organisierte "Bettlerbanden" gibt, hingegen auch. Und solche "Banden" soll man auf keinen Fall irgendwie unterstützen.
Ungeachtet der Einzelschicksale die damit verbunden sind.
Da bin ich Ihrer Meinung
Osteuropäische Bettlermafia zu unterstützen ist kein Weg den Roma zu helfen, zumal EU-Gelder für Roma in Bulgarien, Rumänien etc gestohlen werden und Notleidende nicht erreichen. Die Bettler in den Strassen erbetteln für Mafia. Am besten ist es an ein Hilfswerk zu spenden, das vor Ort in BG, Rumänien etc mit Bildungsangeboten für Kinder vorangeht und selbst wenig administrative Kosten in der Schweiz = minimal Personal in der Schweiz und möglichst viele Helfer vor Ort hat und Ausbildung und Arbeitsplätze für Roma anbietet. Hilfe zur Selbsthilfe