Gesellschaftsspiele boomen wie nie
Gesellschaftsspiele sind populärer denn je: lehrreich, unterhaltsam – oder bitterböse, wie bei der Luzerner Spielentwicklerin Angela Vögtli.
Veröffentlicht am 3. Januar 2020 - 15:38 Uhr
Die Bösartigkeit schleicht sich behutsam an. Der Lückentext auf der Spielkarte, den die Rundenchefin vorliest, lässt alles offen: «Vergiss Kröten. Ich bin süchtig danach, _____ abzulecken.» Die Mitspieler wählen aus ihren Karten den passenden Fülltext. Aus diesem Angebot bestimmt die Chefin dann ihren Favoriten. Die einzige Vorgabe: Der Punkt geht nicht an den sinnvollsten oder vernünftigsten Vorschlag, sondern an den bösesten, ordinärsten, schäbigsten, widerlichsten. Im vorliegenden Fall lässt «Die Zehennägel eines 90-jährigen Mannes» Alternativen wie «Kuhfladen», «Christoph Mörgeli» und «Fruchtzwerge» hinter sich.
Auf der Schachtel des Kartenspiels, das die Grenzen des guten Geschmacks auslotet, steht als Empfehlung «Kombinierbar mit Bier». Und als Warnung «Ungeeignet für Bünzlis». Denen soll es nämlich an den Kragen gehen: «Kampf gegen das Bünzlitum» ist die eingeschweizerte Version des US-Partyspiels «Cards Against Humanity», das im angelsächsischen Sprachraum Kultstatus geniesst.
Ist hierzulande die Dichte an Biederleuten besonders gross? Auf diese Vermutung will sich Angela Vögtli nicht einlassen. Die Schöpferin des Spiels stellt bloss fest: «Wir machen uns auf jeden Fall gern lustig über Bünzlis.» 20'000 Exemplare des Sets mit 600 Karten, zu denen es auch eine Comedy-Erweiterung gibt, sind in der Schweiz bereits im Umlauf.
Viel Erfolg für etwas, bei dem das Unkorrekte die Richtschnur ist – in einer Zeit, in der an jeder Ecke ein Moralapostel lauert. «Vielleicht funktioniert es ja gerade deshalb so gut», vermutet die Spielentwicklerin aus Luzern. «Das Spiel gibt den Rahmen, so zu tun, wie man es sich sonst nicht mehr traut. Man ist es ja nicht selber, der fies und hemmungslos ist, es sind die Karten.» Die Logik einer Spielernatur.
Und doch: Jeder und jede habe einen Schwachpunkt, über den zu lachen verpönt ist, hat Angela Vögtli beim Spielen in bierseliger Runde festgestellt. Rassismus, Krankheit, Veganismus , körperliche Merkmale. «Da kann jemand über Kinder mit Krebs spötteln, aber das eigene Übergewicht ist das grösste Tabu – absurd.»
Beim «Kampf gegen das Bünzlitum» werde bewusst kein Thema ausgeklammert. Es soll nicht vorgegeben werden, was tolerierbar ist und was nicht. Auch als überzeugte Feministin will die 36-Jährige über Feminismus lachen dürfen. «Es stünde schlimm um mich, wenn es nicht so wäre.»
Dabei ist das Bünzlispiel nicht nur derb, sondern hat auch feine Seiten. Weil die Person, die über den Sieg entscheidet, mit am Tisch sitzt, muss man ihre Perspektive einnehmen, ihren Sinn für Humor erspüren. Das hebt Spielen in Gesellschaft grundsätzlich vom digitalen Gamen ab. Man hat es mit lebendigen Menschen zu tun, sieht den Mitspielern in die Augen, erkennt emotionale Reaktionen.
«Gesellschaftsspiele sind die wirklich sozialen Medien.»
Angela Vögtli hat diese Erkenntnis im Blut. «Wir hatten zu Hause keinen Fernseher.» Stattdessen: Spielen in der Familie, Spielen mit Freunden. Wer ihre Atelierwohnung in der Luzerner Altstadt betritt, sieht denn auch als Erstes eine Regalwand voller Gesellschaftsspiele. Bevor die Leidenschaft zu einem Teil ihres Berufs wurde, machte Vögtli eine Lehre als Polygrafin und bildete sich danach im Bereich neue Medien weiter. Mit 25 gründete sie als Pixelqueen ihre eigene Agentur.
Den Kampf gegen das Bünzlitum nahm sie zunächst in der Freizeit auf. Bei einem durchzechten Weekend im Tessin notierte sie auf Fresszetteln die ersten Kartentexte. Der daraus entstandene Prototyp kam später im Freundeskreis regelmässig zum Einsatz. Seinen Zweck erfüllte er zuverlässig. «Mir blieben langweilige Gespräche übers Wetter und die süssen Kinderchen erspart.»
Als immer mehr Mitspieler nachfragten, wo man das Spiel kaufen könne, lancierte sie auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter eine Kampagne für die Produktion von 500 Sets. Der Rest ist Geschichte. Spielerin Angela Vögtli wurde zur Spielmacherin.
Früher hätte man für diesen Schritt zuerst einen Verlag gebraucht. Weil heute Private mit kreativen Konzepten mitmischen können, kommen mehr Spiele denn je auf den Markt. Die neue Popularität von Karten- und Brettspielen misst sich nicht nur an den Verkaufszahlen, sondern auch am «Breitensport», wie Vögtli das nennt. Selbst in urbanen Szenebars gehören Spiele mittlerweile zur Grundausstattung. Vögtli selber trifft sich einmal pro Woche in einem Verein zum Spielen mit Gleichgesinnten. Gesellschaftsspiele seien die wirklich sozialen Medien, findet sie.
In der Schweiz werden kontinuierlich mehr Brett-, Kartenspiele und Puzzles verkauft. Bis Ende Oktober 2019, also noch vor dem Weihnachtsgeschäft, wurden 13,6 Millionen Stück abgesetzt – über 25 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum im Vorjahr, heisst es beim Spielwaren-Verband. Der Hype ist international. Marktanalysten sagen voraus, dass der weltweite Umsatz bei den analogen Spielen bis 2022 um jährlich 9 Prozent wachsen werde.
Beim Stelldichein der Branche, der «Spiel’19» in Essen, war auch Angela Vögtli dabei. «Alle unsere Arschlochkinder wurden adoptiert!», mailte sie danach frohgemut in die Heimat. Bedeutet: Die Luzernerin war mit 200 Stück ihres neuen Kartenspiels «Arschlochkind» an die Messe im Ruhrpott gereist – und wurde die erste Kleinauflage im Nu los.
Im Privatleben kümmert sich Vögtli bloss um einen, wie sie sagt, «Arschlochkater»: Trump, leicht erkennbar an der orangen Haarfarbe. Kinder hat sie nicht.
Die Idee für das neue Spiel bezogen hat sie aus Beobachtungen im Alltag, keine schlechte Quelle: «Eltern im Erziehungswahnsinn.» Solche, die ihre Sprösslinge derart verdrehen, dass aus ihnen schwer erträgliche Rotzlöffel werden, verwöhnt, egozentrisch, asozial .
«Arschlochkind» ist auch in der Erziehungsliteratur ein gern gebrauchter Begriff, dort selbstredend kombiniert mit Ratschlägen, wie sich solche Entwicklungen verhindern lassen. Das gleichnamige Kartenspiel will – in bester Bünzlimanier – natürlich das Gegenteil: Sieger wird, wer seinem Kind möglichst viele negative Eigenschaften zuschanzt.
Angela Vögtli hat den neuen Wurf zusammen mit ihrem Partner Jerome Müller von Grund auf entwickelt. Sie weiss, worauf es ankommt, damit ein Spiel funktioniert. «Die Balance muss stimmen: Alle müssen Chancen haben, zu gewinnen, auch die, die anfänglich im Rückstand liegen.» Dazu brauche es ein gutes Thema, eine Geschichte, die anspricht. Mit ihrem Faible fürs Optische legt Vögtli auch besonderen Wert auf ein detailreiches Design.
Häufig werde beim Entwickeln neuer Spiele das Konzept nicht zu Ende gedacht, sagt sie. Am «Arschlochkind» tüftelte Vögtli zwei Jahre, erst dann griffen alle Rädchen ineinander. Entscheidend seien letztlich Tests mit Leuten, die ehrlich Rückmeldungen geben. «Wenn meine Freunde ein Spiel auch nach dem zwanzigsten Mal noch gut finden, dann ist es auch gut.»
Pendur: Schlau bauen
Was macht ein gutes Spiel aus?
«Es sollte wenig Material und einfache Regeln haben – und trotzdem eine Herausforderung sein», sagen Moritz Wittensöldner und Claudia Roemmel vom kleinen Appenzeller Spielverlag Arte ludens. «Ein Vorteil ist auch eine kleine Glückskomponente. Sie ermöglicht auch denjenigen Erfolgschancen, die das Spiel zum ersten Mal spielen.»
Arte ludens hat sich auf Strategiespiele aus Holz spezialisiert. Beispiel: «Pendur». Man versucht, die eigenen Spielsteine an die bereits auf dem Tisch liegenden Steine anzubauen. Nur wer sie schlau platziert, wird sie auch wirklich los.
Für zwei bis sieben Personen ab 9; Spieldauer: etwa 30 Minuten. Infos: arteludens.ch
Zoocracy: Klug verhandeln
Was macht ein gutes Spiel aus?
Simon Haas, Spielentwickler aus Zürich, sagt: «Einerseits müssen eine durchdachte Strategie und richtige Entscheidungen belohnt werden. Anderseits sollte das Spiel aber auch bis zum Ende spannend bleiben und der Sieger nicht zu früh feststehen.»
Haas-Games entwickelt Wissens- und Strategiespiele mit einem hohen Grad an Interaktion. Etwa «Zoocracy»: Die Zoobewohner haben sich Autonomie erkämpft, jetzt gilt es, sich ein lukratives Amt in der tierischen Demokratie zu sichern. Wer am klügsten verhandelt, gewinnt.
Für zwei bis sechs Personen ab 12; Spieldauer: 60 bis 120 Minuten. Infos: haas-games.com
Coraxis & Co: Gut taktieren
Was macht ein gutes Spiel aus?
«Ein Spiel funktioniert, wenn ich persönlich involviert bin», sagt Lukas Frei, der mit seinen Brüdern Andreas und Ueli die Firma «Gebrüder Frei: Die Spielmacher» bildet. «Die Geschichte und alle Komponenten rundherum müssen stimmig zueinander stehen. So entsteht ein Erlebnis, in das ich eintauchen kann.»
Die Freis realisieren Brettspiele und Spielkonzepte für drinnen und draussen. «Coraxis & Co» ist ein raffiniertes Merkspiel, bei dem alle verschiedene Ziele verfolgen. Es geht um ein Wettrennen zwischen Mensch und Tier: Raben wollen dem Bauern Früchte klauen, was dieser verhindern will.
Für zwei bis fünf Personen ab 6; Spieldauer: 20 Minuten; nur online erhältlich. Infos: gebruederfrei.ch