Schön schräg
Stadtoriginale gehorchen ihren eigenen Regeln. Drei Schweizer Unikate erzählen.
Veröffentlicht am 21. Juni 2016 - 10:05 Uhr
Stadtoriginale sterben aus. «Früher, da waren es viel mehr», sagen Einwohner von Sitten bis Luzern. Lässt unsere Gesellschaft den komischen Käuzen, die zum Stadtbild gehören, keinen Raum mehr? «Vielleicht landen die bunten Vögel heute gleich in der Psychiatrie», spekulieren manche Städter bedauernd.
Drei Vertreter der raren Spezies, Schwäbi, Heinz und Parzival, teilen diese Wahrnehmung nicht. «Man muss bloss öfter vom Handy aufschauen», sagt Parzival. Überhaupt findet sich keiner der drei besonders originell. Es sind die Mitmenschen, die jemanden zum Unikat ernennen.
Ob es am Bart liegt, an den langen Haaren oder an den immer nackten Füssen: Heinz Möckli heisst auch Jesus. Er selber mag die Bezeichnung nicht, sagen Schaffhauser, «weil sie ihn höher stellt, als er ist». Sehr hilfsbereit sei er, sehr aufmerksam. Ein Urgestein des Nachtlebens, dauerbekifft.
Der Jesus namens Heinz sei kontaktfreudig und scheue besonders bei Frauen keine Nähe, munkelt man. «Er schlichtet Streit unter Betrunkenen», sagt eine Passantin. Gerüchte von einem verhängnisvollen Pilztrip kursieren ebenso wie die Lollipops, die er an alle verteilt. Seine Fanseite auf Facebook zählt 1878 Anhänger. Das aktuelle Album der Ostschweizer Rockband Aeronauten ist sogar nach ihm benannt. Auf dem Cover sitzt Heinz in seinem Kanu, am Rhein sei er oft anzutreffen. Was er sonst tagsüber treibt, weiss keiner genau.
Am liebsten ist Möckli unterwegs, «ich mag nicht allein daheimsitzen». Ein Wohnwagen mit Solarstrom ist sein Zuhause, weil das billiger kommt. Nur auf zwei Dinge kann Heinz nicht verzichten: Cola und Haschisch. Er lebt umgeben von Kartons, leeren Eisbechern und anderem Unrat, «so meinen Einbrecher, hier gebe es nichts zu holen», sagt der 63-Jährige. Und fügt erklärend an: «Für andere kann ich mich besser einsetzen als für mich. Ich bin mir nicht so wichtig.»
Noch nie sei er sich so blöd vorgekommen wie nach dem Brand seines Wohnwagens, 2013 war das. Sein Generator hatte Feuer gefangen. Der selbständige Polymechaniker benötigt den Wagen auch für seine Aufträge, von Umzügen bis zu Gartenarbeiten. Er konnte kaum fassen, was sich darauf ereignete: Bei einer Spendenaktion des Musikklubs Orient kamen 14500 Franken für einen neuen Wagen zusammen. «Ich konnte vier Nächte nicht schlafen vor Rührung.»
Jetzt könnte es wieder brenzlig werden für den Allrounder. Die Polizei nahm ihm Mitte März vorläufig den Führerschein ab, weil sie eine beachtliche Menge Gras im Wagen fand. «Dabei habe ich noch nie einen Unfall gebaut», regt sich Heinz auf. Aber die Gelassenheit lässt er sich nicht nehmen. Zwei Bäume an der Lindli-Promenade tragen seine Hängematte, «oft schaukle ich einen ganzen Nachmittag lang», sagt er. Die fünf Meter bis zu den Ästen erklimmt der 63-Jährige im Nu. «Die Beweglichkeit habe ich aus meinem früheren Leben.»
«Meine Aufgabe ist es, andere in die Arme zu nehmen. Und wieder loszulassen, wenn alles gut ist.»
Heinz Möckli alias Heinz, Schaffhausen
Mit 16 wurde Heinz, Sohn eines Schreiners, schwer depressiv. «Ich war ein Einzelgänger mit Gedanken, die von Naturvölkern stammten», sagt er. Einen komischen Kauz fand er sich selbst, bis ihm ein Freund neun Jahre später von seinem vorherigen Leben erzählte. «Wir sind uns damals begegnet. Du warst ein Indianer, ein Schamane», habe er gesagt. Allmählich fügten sich für Heinz Möckli die Mosaiksteine zusammen. Er erkannte, worin seine Aufgabe liegt: «Andere in die Arme nehmen. Und wieder loslassen, wenn alles gut ist.»
Er sei bloss ein Werkzeug. Wenn er jemandem hilft, verbindet sich sein Schutzgeist mit dem des anderen. «Die Sensibilität ist mein grösster Reichtum.» Er handle immer aus dem Bauch heraus. «Ich habe schon zwei Schwergewichte aufs Kreuz gelegt, als sie im Ausgang miteinander stritten», sagt er. Das sei ihm einfach gegeben. Gerade kümmere er sich um zwei Frauen, die sexuell misshandelt worden seien. Alles sei vorbestimmt. «Für meine Aufgabe musste ich allein bleiben.»
Doch allein ist er fast nie. Wenn er mit seiner Box voller Traubenzucker-Lollis durch Schaffhausen geht, grüssen ihn überall Passanten. «Sie alle sind einzigartig», sagt er. «Ein Stadtoriginal bin ich höchstens, weil mich viele kennen.» Ein kleines Mädchen bittet ihn um einen Schleckstängel. «Das ist ihr erster», sagt der Vater, «schön, dass er von dir kommt.»
Und fast wird Heinz selbst zum Kind, wenn er abends im Klub TapTab am Töggelikasten steht. Die Box hat er auf den Tresen zum Glas Coca-Cola gestellt, Alkohol trinkt er nicht. Seine Stärke am Tisch ist das Verteidigen. Und wenn sein Mitspieler ein besonders schönes Goal schiesst, lacht er auf und hüpft im Kreis.
Sie nennen ihn «Traumtänzer», «Nachtwandler», «Gespenst». Den meisten Bernern aber ist er bekannt als Schwäbi. «Der mit den überdimensionalen T-Shirts», sagt eine Passantin. Die Frau, Mitte 50, sieht ihn oft an Jazz-Open-Airs, wo er direkt vor der Bühne hochkonzentriert Bewegungen ausführt. Auch in der Metal- und der Electroszene ist Schwäbi bekannt für seinen Tanz im Zeitlupentempo. «Egal, wie stark die Bässe wummern, er schwebt dahin», sagt eine junge Frau. «Das fägt.»
Schwäbi zu Ehren wurde eine Facebook-Gruppe gegründet, die 2613 Anhänger zählte. Inzwischen ist sie archiviert. Die Mitglieder hielten Sichtungen des Tänzers fest, diskutierten Fanartikel. Im Stück «König für immer» setzt der Musiker Kutti MC ihm sogar eine Krone auf.
Immer wieder trauen sich Berner Nachtschwärmer, die Kultfigur anzusprechen. Er heisse M, sein Stil «Tan-Zen», abgeleitet vom Zenbuddhismus. Einige tippen auf Drogen und wollen Schwäbis Trip unbedingt auch einmal erleben.
M erachtet das als Kompliment. «Darin liegt der Beweis, dass der Körper von allein Wahrnehmungsveränderungen erzeugen kann.» Seine Stimme ist sanft, er wählt die Worte mit Bedacht. «Ich bin einer, der zum Abheben neigt», sagt er und legt sich im Klub Turnhalle auf ein Ledersofa. «Diese Position hier ist ein Landeversuch.»
Bis zu sechs Stunden am Tag meditiert Schwäbi im anspruchsvollen Lotossitz, inspiriert von Zenbuddhismus und Theologie. «Auch das ‹Tan-Zen› versetzt mich in Trance.» Hin und wieder trifft der 59-Jährige einen Freund zum Wandern. «Ich komme mit allen gut aus, aber ich bin kein Herdentier.»
Das war nicht immer so. Aus Liebe zu einer Frau zog er 1978 von Bern nach Tübingen. In Deutschland setzte er das Studium der evangelischen Theologie fort, bewohnte ein lebhaftes Studentenheim und entdeckte den Improvisationstanz. An Festen drehte er sich minutenlang im Kreis.
Nach der Hälfte des Studiums kam es zur kompletten Überforderung. «Dabei wollte ich später an der Uni tätig sein.» Die Diagnose «nervöse Störung» und eine 80-prozentige Arbeitsunfähigkeit versagten ihm das, er musste eine Invalidenrente beantragen. «Die Ursache dafür liegt Milliarden von Jahren zurück», weiss Schwäbi. «Symptome sind mit Ereignissen verknüpft, die während des Urknalls stattfanden.»
«Die Begabung, zur Erleuchtung zu gehen, steckt in jedem.»
Schwäbi alias M, Bern
Er setzte das Studium fort, ohne einen Abschluss zu machen. Theologie, Psychologie, Philosophie – bis heute verfolgt er die Disziplinen in den Medien. «Ich verstehe mich als Integrationswissenschaftler, verbinde unterschiedliche Gebiete.» Sein Glaube? «Die alles verändernde Vereinigung von allem mit allem. Das ist eine Auslegung des 1. Korintherbriefs (15,28).»
Die Loungemusik wechselt zu Electro, Ms Füsse wippen leicht. «Mit 14 habe ich von der Erderwärmung erfahren und mein Leben umgekrempelt.» Eine seiner Ideen zur Rettung der Umwelt: das Wandeln auf dem Wasser. «Die Begabung, zur Erleuchtung zu gehen, steckt in jedem.» Dadurch würden alle genügsamer leben. «Ich brauche gar nicht mehr als meine 20 Quadratmeter grosse Wohnung.»
Und die XXXL-Shirts der Marke Switcher: «Eine Katastrophe, dass die Firma bankrott ist», sagt er. Im Winter trägt er Schwarz, im Sommer Grau und in der Übergangszeit das mattschwarze Arsenic. «Meine Nachbarin hat mir erzählt, dass Dunkles das Bäuchlein besser verdeckt.» Nun dringt die Musik lauter aus den Boxen, Menschentrauben bilden sich an der Bar. Die Tanzfläche ist leer.
Sachte setzt Schwäbi die Füsse auf den Boden. Versunken, mit halb geschlossenen Augen, tastet er sich in Figuren vor, führt sie bis in die Fingerspitzen aus. Gäste beobachten ihn amüsiert, zücken Handys, schiessen Fotos. Schwäbi schwebt. Den Spitznamen findet er «sehr herzig». In einer Gesellschaft, in der sich alle ähnlicher werden, brauche es solche, die es anders machen. «Zum Leben gehört eine gewisse Auflockerung», sagt er und hebt das rechte Bein an.
Grün. Das ist das Erste, was Bielern zu Parzival einfällt: Er ist Herr Grün, Monsieur le Vert, vom Hut bis zu den Schuhen einfarbig. «Ein Phänomen mit Spinnerideen», heisst es. «Einmal wollte er in den Himmel fliegen mit Mineralflaschen, die sich alle aufs Mal öffnen», berichtet eine 72-jährige Passantin und kichert.
Herr Grün sei immer fidel. Und ein radikaler Umweltaktivist. «Einer der besten Künstler der Schweiz», findet die Kuratorin Barbara Meyer Cesta, die ihn an Museen vermittelt. «Wenn ich einen schlechten Tag habe und ihn sehe, geht es mir gleich besser», sagt eine junge Frau.
Zur Begrüssung reicht Parzival den kleinen Finger, seine Augen lachen. «So können wir die Debatte zum Händegruss von Muslimen lösen.» «Ministerium der Weltregierung», steht über seinem Zugwärterhaus in Sonceboz-Sombeval. Das Innere: ein Gesamtkunstwerk. Leute mit grünen Sonnenbrillen lächeln auf Fotografien, Models posieren mit aufgeklebten Sprechblasen, Pharaonen hängen gerahmt über Zeitungsartikeln.
Umgeben von den tapezierten Wänden, schreibt Parzival Briefe an die Mächtigen. «Kürzlich habe ich Putin und Obama zu einer Tour auf meinem Velotaxi eingeladen, inklusive Esperanto-Kurs.» Die Antworten blieben aus, was den 74-Jährigen nicht von seiner Mission abhält: globale Abrüstung, Esperanto als Weltsprache und eine Zukunft ohne Abfall und Handy.
Parzival, der Serge Reverdin heisst, verkörpert seine Mission. Dass er jeglichen Abfall verwertet, damit konnte sein Vater, ein Anwalt, gut leben. Über eine Verweigerungshaltung des Sohns regte er sich aber fürchterlich auf: «Warum steigst du Spinner nicht in ein Auto?» Die Mutter glättete die Wogen. Sie schenkte Parzival grüne Schuhe, 100 Paar. Das brachte ihn auf die Idee mit dem Sonnentheater nach altägyptischem Vorbild.
«Das Paradies ist hier, es muss nur noch etwas renoviert werden.»
Serge Reverdin alias Parzival, Biel
Bei Sonnenschein setzt sich Parzival sonntags mit Zepter und Pharaomaske zum Pavillon Felseck, einem Bieler Aussichtspunkt. Wenn ihn Passanten grüssen, heisst er sie im Theater willkommen. Guckt aber einer aufs Handy, wird er ungemütlich. «Hast du den Pharao um eine Natel-Genehmigung gefragt? Natels könnten die Klimaerwärmung beeinflussen!»
Er ein Stadtoriginal? Der Begriff ist ihm zu wenig global. «Aber oft sind es Originale, die der Öffentlichkeit die Stirn bieten. Und das braucht es.» Parzival begann damit schon früh. Die ETH Zürich verliess er ohne Diplom. An der Abschlussprüfung erklärte er seine Fächer Physik und Mathematik für überflüssig, zumal es die logische Sprache Esperanto gebe.
1968 schwenkte er als Rekrut in seiner Heimatstadt Basel die Uno-Fahne, forderte seine Kameraden zur Dienstverweigerung auf. Dafür sass er vier Monate im Gefängnis. Als er rauskam, nannte er sich Parzival.
Dann stellte Garry Davis ihn als Sekretär an. Jener berühmte Pazifist, der den US-Pass ablegte, um eine Weltregierung zu gründen. Zwei Jahre später reiste Parzival per Velo nach Südafrika, um die Apartheid abzuschaffen. «Ich hatte Tausende von Anhängern, aber in Abidjan wurde ich verhaftet.» Vier Jahre verbrachte er in der Psychiatrie, einer der Ärzte beschaffte ihm eine Wohnung in Biel. «Mit der IV-Rente wollen sie mich wohl ruhigstellen.»
An den Ruhestand denkt Parzival noch lange nicht. Bis vor kurzem war er als Performancekünstler im Kulturraum Alte Krone zu sehen. Besuchern verteilte er Esperanto-Übungsblätter, in die sie Waffen und Sexmagazine wickeln sollten. «Sexheftli haben etwa die gleiche Wirkung wie Waffen.» Noch habe er die Frau, die ihn von seiner Mission abhält, nicht getroffen. Mit der Richtigen hätte er eine Familie gegründet. «Aber ich habe ja nicht einmal Zeit, mich um den Garten zu kümmern», sagt er und weist zum Fenster. «Das Paradies ist hier, es muss nur noch etwas renoviert werden.»
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