«Man rennt, bis man keine Kraft mehr hat»
Kateryna Potapenko (28) ist aus Kiew nach Winterthur zu Verwandten geflüchtet. In dieser Tagebuch-Serie erzählt sie über ihr Leben als Geflüchtete in der Schweiz. Teil 1: Die Flucht.
Veröffentlicht am 12. April 2022 - 16:03 Uhr
Mein elfjähriger Bruder bedeckt seinen Kopf mit den Armen, wenn ein Zug mit zunehmendem Lärm vorbeifährt. Die jüngste Angewohnheit von Millionen von Ukrainern. Ich habe Züge nie gemocht. In der Ukraine bedeutete eine Zugfahrt mindestens fünf Stunden deines Lebens. Wir haben einen Zug von Mariupol nach Rachiw, der 1806 Kilometer zurücklegt und 27 Stunden fährt. Ich meine: Wir hatten ihn.
Der Weg von Kiew nach Zürich, in der Vorkriegszeit etwa 14 Stunden, verwandelte sich in volle drei Tage und sechs Züge. Der erste Zug war der beängstigendste. Man forderte uns auf, das Licht und die Geolokalisierung auf unseren Telefonen auszuschalten, während wir in der Nähe Artilleriebeschuss und das Dröhnen der Luftabwehr hörten. Wenn es ein Spiel «Errate das Waffengeräusch» gäbe, wäre ich recht zuversichtlich, was meine Chancen angeht.
Und dann spielte auf der Strasse in Schaffhausen eine kleine Blaskapelle Billie Eilishs «Bad Guy», um Geld für die Ukraine zu sammeln. Bad guy, hm. Ich blieb, um zuzuhören.
Die Schweiz ist nicht das erste Land, das einem in den Sinn kommt, wenn man vor dem Krieg flieht. Alle wissen, dass es weit weg ist, dass das Leben hier teuer ist, dass die ukrainische Gemeinde hier nicht so zahlreich ist wie anderswo. Aber um ehrlich zu sein, fällt einem in dieser Situation eigentlich kein Land ein. Man rennt, bis man stoppt, weil man nicht mehr die Kraft hat, weiterzugehen.
Es ist schon seltsam, in einer Welt, in der man vor dem Einkaufen Zettel schreibt, keinen Plan zu haben. Die Ungewissheit hält dich davon ab, das sogenannte normale Leben weiterzuführen. Jeden Tag wartet man naiv auf die Nachricht, dass der Krieg einfach so vorbei ist und man sicher nach Hause zurückkehren kann. Was bringt es, sich niederzulassen, einen Job zu suchen, die ganze Bürokratie zu durchlaufen, wenn man schon morgen wieder abreist? Doch dann versteht man, wie giftig dieser Ansatz ist. Ich denke, die wichtigste Lehre des 24. Februar ist, dass es nicht funktioniert, sein Leben aufzuschieben. Warum sollte man es also hier tun?
Meine Familie hat Glück. Wir haben eine Bleibe in der Schweiz. Bei Verwandten, die uns vor dem Krieg anriefen, als die Medien über die wahrscheinliche Bedrohung sprachen. Sie baten uns, das Land zumindest für eine Weile zu verlassen. Wir haben uns bedankt und gescherzt. Wir haben nicht wirklich daran geglaubt, oder wir wollten es einfach nicht.
Meine Mutter, ich und mein Bruder durchquerten fünf Länder mit drei Rucksäcken. Pro Person ein Satz Kleidung, notwendige Dokumente, ein Laptop, Hygieneartikel, eine Flasche Wasser und Trockenrationen. Wir hatten die Rucksäcke einige Wochen vor dem Krieg gepackt, als Presse und Nichtregierungsorganisationen in der Ukraine darüber zu sprechen begannen, dass ein «Alarmkoffer» nötig sein könnte (nur für den Fall, natürlich würde man ihn nicht brauchen). Leute, die mit grossen Koffern loszogen, liessen diese meist auf der Strasse liegen – manche mussten anfangs tagelang an der Grenze stehen. Und auf die Frage «Wo wollen Sie hin?» antworteten die meisten Menschen in den Zügen einfach: «In die entgegengesetzte Richtung von Russland».
«Wir mussten wegen der Ausgangssperre die Nacht in einem Bahnhof verbringen.»
Erstaunlicherweise hatten wir in den ersten Tagen in der Schweiz bereits alles, was wir brauchten. Freunde und Nachbarinnen unserer Verwandten schickten uns Kleidung und unterstützten uns. In den sozialen Medien suchen und finden Flüchtlinge die verschiedensten Dinge, von Schuhen bis zu Akkordeons.
In der ersten Woche hier trafen wir auf der Strasse eine Mutter mit zwei Kindern aus Kiew. Der Familienvater, bei dem sie wohnten, ging höflich ein paar Schritte zurück, damit wir uns frei unterhalten konnten. Wenn man jemanden kennenlernt, vor allem wenn es eine Sprachbarriere gibt, versucht die Person normalerweise, mehr zu lächeln, um ihre positive Einstellung zu zeigen. Aber jetzt lächeln die Leute ein wenig unbeholfen und vorsichtig, als hätten sie Angst, deinen Kummer zu berühren oder dich mit ihrem Lächeln irgendwie zu beleidigen, was es eigentlich sogar schlimmer macht. Denn zuerst weint man über Gefühle und Erinnerungen, und dann weint man vor Rührung, wenn man sieht, wie die Menschen hier sich organisieren, um dem Land zu helfen, über das sie so wenig wissen, und wie sehr es sie wirklich berührt. Wie die ukrainischen Fahnen in Winterthur und Zürich, die so feierlich und festlich aussehen, bis man sich an den Grund erinnert, warum sie hier hängen.
Ich würde sehr gern unter anderen Umständen hierherkommen. Museen, Wandern, Essen. Und Postkartenlandschaften vor dem Fenster. Aber jetzt sehe ich, wohin ich auch schaue, Kiewer Vorstädte. Oder ich frage mich, ob die nächste Rakete in unser Haus fliegen wird, wo mein Vater noch immer lebt.
Langsam gewöhne ich mich an die Züge in der Schweiz und beginne sogar, sie zu mögen. Ich versuche, immer am Fenster mit Blick nach Osten zu sitzen und so weit wie möglich in den Horizont zu schauen und mir vorzustellen, ich würde nach Hause fahren.
«Unsere ersten Bilder aus der Schweiz, die wir unserem Vater sandten, um zu zeigen, dass wir sicher sind».
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