Alle Arbeiten in der Landwirtschaft führe ich allein aus, bin ja schliesslich auf einem Bauernhof aufgewachsen», erklärt Gerhard Hochstrasser mit dröhnender Stimme. Mit seiner untersetzten Statur, den breiten Schultern, kräftigen Armen und dem von Wind und Wetter geröteten Gesicht könnte er für jeden Landmaschinenkatalog Modell stehen. Nur das feine Modebärtchen will nicht recht zur vierschrötigen Erscheinung passen. Mit ruhiger Routine bringt er «seinen» Kühen das Heu. Er merke sofort, wenn da so ein Junger einen Seich anordne, erzählt er, während er mit der Heugabel ein paar verlorene Gräser zusammenkratzt. Natürlich führe er es trotzdem aus, denn im Knast hätten halt die Vorgesetzten das Sagen.

Den Gefängnisalltag kennt Gerhard Hochstrasser bestens. Sein halbes Leben hat er in Heimen und Strafanstalten verbracht. Die letzten zehn Jahre in der Verwahrung. Auf die andere Hälfte seines Lebens angesprochen, sprudelts aus Hochstrasser nur so heraus. Er erzählt vom elterlichen Hof in Hägglingen AG und geht dann unvermittelt über zum Knast in Rom. Er berichtet von seiner Zeit in Frankreich, hastet über den Algerienkrieg schliesslich zu seinem Aufenthalt in Australien.

Einst ein berühmter Ausbrecher
Hochstrassers Sprachkenntnisse bürgen dafür, dass er weit herumgekommen ist. Martin-Lucas Pfrunder, Direktor der Strafanstalt Lenzburg, weiss von Hochstrassers Sprachkünsten: «Englisch, Französisch und Italienisch spricht er besser als der Durchschnittsschweizer.» Auch die Nichte, die den gefallenen Onkel regelmässig besucht, attestiert ihm eine hohe Intelligenz: «Die Fremdsprachen hat er sich ohne Lehrer und Schule angeeignet.» Seine «Netto»-Schulzeit beträgt im besten Fall sieben Jahre. Zu oft ist er aus Heimen ausgerissen, zu lange war er jeweils auf der Kurve.

In Lenzburg lässt der einst berühmte Ausbrecher Tag für Tag die Möglichkeiten zur Flucht verstreichen. Er arbeitete jahrelang in der Landwirtschaft der Strafanstalt, ausserhalb der Mauer. «Ich mag diese Aufregung nicht mehr, ich möchte in Frieden leben», sagt der inzwischen 49-Jährige. Nicht, dass er am Gefängnis Gefallen gefunden hätte. Im Gegenteil: Seine Verwahrungen, die ihn insgesamt rund 13 Jahre seines Lebens gekostet haben, empfindet er als zutiefst ungerecht.

Wenn einer etwas «boosge», sei es nur recht, wenn er dafür eine Strafe erhalte. «In Italien habe ich einen Gefangenen kennen gelernt, der drei Morde begangen hatte. Er verbüsst nun drei lebenslängliche Strafen. Das geht in Ordnung», poltert er. Bei ihm hingegen heisst es einfach jedes Jahr: «Du musst noch bleiben.» Und dann erzählten diese Leute irgendetwas von gefährlich und Schizophrenie. Das verstosse doch gegen die Menschenrechte.

Keine Gefahr für die Öffentlichkeit
Tatsächlich kannten die Gerichte bei ihm keine Gnade. Die meisten verwahrten Straftäter sind höchst gefährliche Gewalt- und Sexualstraftäter. Hochstrasser hat sich letztlich die drakonische Massnahme der Verwahrung mit einer einfachen Körperverletzung eingebrockt. Für diese brummte ihm das Berner Obergericht neun Monate auf. Doch sie brachte Justitias Fass zum Überlaufen: Als Massnahme zum Schutz der Gesellschaft wurde seine Verwahrung angeordnet.

Dabei war die Öffentlichkeit nie ernsthaft gefährdet. Mehrfach schuldig machte er sich des Diebstahls, des Einbruchs, des Raubes, der Drohung gegen Beamte, des Fahrens ohne Führerschein sowie des Haschisch- und Kokainkonsums. Martin-Lucas Pfrunder sagt heute offen, dass Hochstrassers Verwahrung, besonders nach seiner positiven Entwicklung in den letzten Jahren, nicht mehr gerechtfertigt sei. «Hochstrasser hat vor langer Zeit viel angestellt, aber er ist heute für die Öffentlichkeit nicht gefährlicher als jeder andere Bürger.»

Als Bauernbub habe er im Hof mitarbeiten müssen; die Hausaufgaben seien zu kurz gekommen. Hochstrasser muss ausholen, um seinen Weg in die Kriminalität zu erklären. Ab der vierten Klasse habe sein Lehrer auf die Pflichterfüllung insistiert, die er aber nicht habe einhalten können. Die sturen Behörden von Hägglingen hätten wesentlich zu seinem frühen Niedergang beigetragen. Plötzlich sei er im Heim versorgt gewesen.

Die Akten widersprechen dieser simplen Erklärung in einigen Punkten. So beschwerte sich die Lehrerschaft, dass mit Störenfried Gerhard ein normaler Unterricht nicht möglich sei. Falls der Bauernbub mit seinen Schlägereien andere Kinder ernsthaft schädigen sollte, lehne sie jede Verantwortung ab. Doch hat Gerhard Hochstrasser heftiger dreingeschlagen als andere Rabauken seines Alters? «Da wurde stark übertrieben», sagt sein Bruder, Urs Hochstrasser. «Später hat es andere, ähnliche Fälle gegeben, doch niemand hat die Heimeinweisung verlangt.»

Die Bauernfamilie Hochstrasser wird in den Akten mehrfach als «rechtschaffen» bezeichnet. Urs Hochstrasser ist nie negativ aufgefallen, geschweige denn mit dem Strafrecht in Konflikt gekommen. Dasselbe gilt für die beiden anderen Geschwister.

Beginn einer elfjährigen Odyssee
Warum die Eltern der Heimeinweisung zustimmten, ist unklar. Urs Hochstrasser dazu: «Der Pfarrer hat ihnen empfohlen einzuwilligen, und wenn der etwas sagte, waren die Eltern immer einverstanden.»

Gerhard wurde in die Kinderstation Rüfenach verfrachtet. Was eine Phase der Ruhe und Geborgenheit hätte einläuten sollen, war der Beginn einer elfjährigen Odyssee. Viermal riss Gerhard allein von Rüfenach aus, bis ihn die entnervten Pädagogen ins Erziehungsheim St. Georg in Bad Knutwil weiterreichten. Bis zum 14. Altersjahr wurde er noch in zwei weitere Heime verschoben.

Die Berichte der Heime unterscheiden sich kaum: Gerhard sei aggressiv, er störe den Unterricht und benehme sich schlecht. In einem Heim habe er die Lehrer gar als «Schafseckel» bezeichnet. Auch Gerhards «Kurven» wiesen stets das gleiche Strickmuster auf. Unmittelbar nach den Ausbruchsversuchen beging er jeweils kleinere Diebstahlsdelikte und Entwendungen, klaute Mofas, mit denen er auf den elterlichen Bauernhof zurückkehrte. Sein Vater lieferte ihn wieder im Heim ab.

Ab dem 15. Altersjahr beging er auf der Flucht auch schwerere und immer zahlreichere Delikte. Er stahl Autos, um sich Richtung Tessin und Italien abzusetzen. «Als Bauernbub war ich schon früh mit dem Traktor vertraut, Autofahren war kein Problem für mich», erzählt er lachend. Seinen Lebensunterhalt auf der Flucht sicherte er sich mit Einbrüchen in Wochenendhäuser. Seiner Knastkarriere stand nichts mehr im Wege.

Eine «Trotzneurose» diagnostiziert
Als 16-Jähriger wurde er erstmals in die Strafanstalt Lenzburg eingeliefert. Noch vor der Volljährigkeit lernte er auch die Strafanstalten Regensdorf ZH, Oberschöngrün SO und Thorberg BE von innen kennen – neben einer ganzen Reihe von Bezirksgefängnissen, Erziehungsheimen, Kliniken und Polizeistationen.

Zu einem Neustart verhalf ihm 1976 ein Psychiater, der bei ihm eine «neurotische Fehlentwicklung in Form einer Trotzneurose» diagnostizierte. Er riet von einer weiteren Inhaftierung ab, empfahl aber eine Therapie. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit kam der inzwischen 21-jährige Hochstrasser auf freien Fuss.

Er hatte nie gelernt, für sich selbst zu sorgen, geschweige denn für andere. Die Gründung einer Familie verlieh ihm keine Stabilität. Um seine Kinder kümmerte er sich kaum. Er arbeitete nur zeitweise; die Zahl seiner Delikte im In- und Ausland erreichte ungeahnte Höhen. Inhaftierungen und Freilassungen lösten sich ab.

Nach Brandstiftung erstmals verwahrt
In der Nacht vom 19. Oktober 1986 beging Hochstrasser eine Brandstiftung in der Kinderstation Rüfenach. Es war ein Racheakt. Hier hatte seiner Meinung nach das Unheil in seinem Leben begonnen. Er drang ins Heim ein, weckte den Erzieher und befahl ihm, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Mit zwei Litern Benzin wollte er den verhasstesten Teil seiner Vergangenheit in Flammen aufgehen lassen. Das Feuer konnte rasch gelöscht werden. Der Sachschaden war gering.

Der Schaden an Hochstrassers Leben war hingegen beträchtlich. Für die Brandstiftung und 16 weitere Delikte gabs eine Gefängnisstrafe von 18 Monaten. Die hätte der Tunichtgut auf einer Backe abgesessen. Doch daneben sprach das Bezirksgericht Brugg die Verwahrung Hochstrassers auf unbestimmte Zeit aus.

Ausschlaggebend für die Verwahrung war das psychiatrische Gutachten. «Der Täter ist aus seinem Geisteszustand heraus für Dritte gefährlich», schrieb die Psychiaterin in ihrer Begründung. Dies aufgrund seiner Schizophrenie, die bereits in seiner Jugend begonnen habe. Mit Medikamenten könnte sein Zustand stabil gehalten werden – doch seit geraumer Zeit verweigere Hochstrasser die Einnahme.

Die Verwahrung dauerte allerdings nur zwei Jahre und drei Monate. Es erfolgte eine probeweise Entlassung. Zwei Jahre lang hielt sich Hochstrasser überraschend gut. Dann schlug er an seinem Wohnort bei einem Streit einen Mann spitalreif. Die Polizei brachte Hochstrasser in die Berner Universitätsklinik Waldau.

Arzt mit Klappmesser verletzt
Dort teilte ihm der Oberarzt mit, er müsse in der Klinik bleiben und sich medikamentös behandeln lassen. Hochstrasser lehnte entschieden ab. Er hatte längst einen wahren Hass auf Psychiater entwickelt. Der Streit eskalierte – Hochstrasser verlor die Fassung. Er stiess dem Arzt sein Klappmesser zweimal in den Bauch.

Das Berner Strafamtsgericht hielt ihm zugute, dass er mit Absicht nicht die volle Kraft angewendet habe, um den Arzt nicht lebensgefährlich zu verletzen. Mit neun Monaten Gefängnis fiel das Gerichtsurteil milde aus.

Von der erneuten Verwahrung sah das Gericht ab. Der Berner Psychiater kam nämlich zum Schluss, zwar gefährde der Täter die öffentliche Sicherheit – «es scheint dies aber nicht in derart schwerwiegender Weise der Fall zu sein, dass er in einer Anstalt verwahrt werden muss».

Der Staatsanwalt aber wollte die Verwahrung durchsetzen und appellierte ans Obergericht. In der zweiten Instanz wurde Hochstrasser zum Verhängnis, dass er erklärt hatte, unter den gleichen Umständen würde er den Psychiater nochmals angreifen. Zudem hatte er seine Gefängniszelle demoliert und sich bei der Verhaftung nach einer versuchten Flucht aus dem Gefängnis zur Wehr gesetzt. All dies veranlasste das Obergericht, Hochstrasser als «unberechenbar und gefährlich» einzustufen und bis auf weiteres zu verwahren. Das war vor zehn Jahren.

Die Sozialisation sei möglich
«Er hät gruiget», sagt ein Sicherheitsmann heute. Auch die Bildhauerin Gaby Derendinger, die in der Anstalt mit den Gefangenen töpfert, stellt eine positive Änderung fest: «Er ruft seit zwei, drei Jahren nur noch sehr selten aus.»

Gefängnisdirektor Pfrunder, der Hochstrasser inzwischen seit über 20 Jahren kennt, weist darauf hin, dass der Delinquent in all den Gefängnisjahren nie tätlich aggressiv geworden sei. Die Sozialisation erachtet Pfrunder als möglich: «Je mehr man Hochstrasser an die Realität des Normalalltags heranführt, desto umgänglicher und entspannter ist er für seine Umwelt.» Die günstigen Prognosen des Gefängnisdirektors haben einen Erfolg bewirkt: Hochstrasser ist kürzlich in eine halboffene Anstalt im Kanton Freiburg verlegt worden. Ein halber Erfolg – denn die Verwahrung ist damit nicht aufgehoben. Die nächste Zukunft ist mit einiger Unbill verbunden. Gerhard Hochstrasser muss in der ersten Zeit die Zelle mit zwei Insassen teilen. Drei Monate lang erhält er keinen Urlaub, und sein Hanfkonsum wird am neuen Ort nicht toleriert.

Für den schizophrenen Hochstrasser, der über zehn Jahre eine Einzelzelle belegte und gemäss den Aussagen seiner Betreuer diese Rückzugsmöglichkeit auch braucht, ist diese Dreierzelle ein harter Prüfstein. Als ebenso bedrückend empfindet er die Urlaubssperre. Denn er hat seit kurzem den Kontakt zu seiner Familie wieder aufgenommen und mit ihr etliche Urlaube verbracht.

Doch erfüllt er die Bedingungen nicht vollständig, kann ihn die neue Anstaltsleitung in eine geschlossene Anstalt zurückversetzen. Hochstrasser stünde wieder ganz am Anfang.

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