Ugo Maurizio findet keine Ruhe. Die acht Toten des Bergsturzes von Bondo im bündnerischen Bergell beschäftigen ihn auch vier Jahre danach. «Es ist wichtig, dass die ganze Wahrheit herauskommt, auch wenn ich vielleicht mitschuldig bin», sagt der 73-Jährige. Er gehörte dem Bergeller Gemeindevorstand an, als sich am 23. August 2017 gewaltige Felsmassen am Piz Cengalo lösten. «Ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht insistiert habe, den Wanderweg zu verlegen», sagt er. 

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Die Berggänger wurden unter mehr als zehn Meter Fels und Geröll begraben. Sie befanden sich auf dem Wanderweg, der durch das Bondasca-Tal hinauf zur SAC-Hütte Sciora führte. Die Behörden wussten, wie gross die Gefahr war. Sie wollten den Weg eigentlich verlegen.

Erst nach dem fatalen Bergsturz gab die Gemeinde das Projekt in Auftrag. Der neue rot-weisse Wanderweg soll nächstes Jahr über der Gefahrenzone in die steile Bergflanke gebaut werden, mit Hängebrücken und einer spektakulären Aussicht auf die Bergeller Granitberge Badile und Cengalo. Kostenpunkt: rund eine Million Franken. Im Bericht zum Baugesuch heisst es: «Der Wegebau ist bautechnisch durchwegs machbar und stellt keine ausserordentlich hohen Anforderungen.»

Neue Hinweise nach Berichterstattung

Hätte sich also der Tod von acht Menschen verhindern lassen? Der Beobachter hat erstmals diesen Frühling über Ungereimtheiten beim Risikomanagement rund um den Bergsturz berichtet Neue Erkenntnisse zum Bergsturz von Bondo Es war ein Drama mit Ansage . Danach meldeten sich mehrere Leute mit Hinweisen. Darunter war der ehemalige Gemeindepolitiker Maurizio. Seine Schilderungen werfen ein neues Licht auf die Schuldfrage.

Im August 2013, vier Jahre vor dem Unglück, traf sich der siebenköpfige Vorstand der Gemeinde Bergell zu einer Sitzung. Zu Gast waren zwei Fachleute des Bündner Amts für Wald und Naturgefahren (AWN). Das Amt analysierte die Gefahrensituation am Piz Cengalo laufend.

Wenige Tage zuvor hatte ein Treffen mit Wissenschaftlern in Chur stattgefunden, im Rahmen eines Arge-Alp-Projekts. Thema: Wie wirkt sich das Auftauen des Permafrosts auf Berg- und Felsstürze aus? Radarmessungen hatten gezeigt, dass der Piz Cengalo unruhig war. Im Protokoll steht: «In der Nordflanke des Cengalos sind mehrere Millionen Kubikmeter Fels in Bewegung. Die Bewegungsraten deuten auf einen Bergsturz hin.»

Die AWN-Fachleute schlugen in der Folge dem Bergeller Gemeindevorstand erstmals vor, den Weg zur Sciorahütte zu verlegen. So teilte es das Amt später der Justiz mit, so erinnert sich Ugo Maurizio: «Ich habe damals vorgeschlagen, Alternativen zu prüfen.» Entschieden wurde nichts. 

Der Arge-Alp-Projektgruppe war auch aufgefallen, dass der gesperrte «Viale» – die direkte Verbindung zwischen den SAC-Hütten Sciora und Sasc Furä – weiterhin stark steinschlaggefährdet war. Er führte quer durch die Geröllmassen, die sich 2011 bei einem Bergsturz gelöst hatten. «Die Sperrung ist dringend besser zu signalisieren», empfahl die Gruppe. 

SAC ignoriert Sperrung

Der Weg blieb offiziell gesperrt. Doch im folgenden Sommer erfuhren die Bergeller Behörden, dass der über mehrere Hundert Meter verschüttete Viale trotz Verbot neu markiert worden war. Ugo Maurizio, im Gemeindevorstand zuständig für die Wanderwege, fragte bei der regionalen SAC-Sektion nach.

Die Antwort des Alpen-Clubs: Die Gemeinde könne diesen Weg nicht einfach sperren, er sei auch neu markiert worden. Schliesslich griff die Gemeinde durch und sperrte den gefährlichen Weg mit Kette und Vorhängeschloss. Der SAC wollte sich gegenüber dem Beobachter nicht dazu äussern. Man nehme «keine Stellung zu allfällig laufenden und künftigen Verfahren». 

Ende 2014 informierte das AWN den Gemeinderat erneut über die Gefahrensituation. Das Amt empfahl nun «dringend», den Aufstieg zur Sciorahütte zu verlegen. Kurze Zeit später hielt der Gemeindevorstand fest: «Der Weg Bondasca–Sciora muss im unteren Teil verlegt werden. Es ist nötig, eine neue Wegführung zu evaluieren.»

Nach dem Bergsturz untersuchte die Kantonspolizei, warum trotzdem nichts passierte. Die Gemeinde Bergell habe eine Verlegung geprüft, «aufgrund der grossen technischen Schwierigkeiten und der damit verbundenen hohen Kosten aber nicht weiterverfolgt», teilte das AWN der Kantonspolizei mit. Die damalige Gemeindepräsidentin, Anna Giacometti, sagte bei der Befragung: Das AWN habe erklärt, eine Wegverlegung sei gar nicht möglich.

Giacomettis Aussage wird durch den Bericht «Sturzmodellierung Pizzo Cengalo, Reichweiten- und Gefahrenbeurteilung» gestützt. Er wurde im ersten Halbjahr 2015 erarbeitet, im Auftrag des AWN. Ziel war eine detaillierte Gefahrenbeurteilung. Man wollte besser abschätzen können, wie stark die Maiensässe und Wanderwege bei einem Bergsturz gefährdet sind. Im Bericht heisst es nun plötzlich: «Eine Verlegung des Wanderwegs zur Sciorahütte ist aufgrund der bis weit an die Talflanken hinauf brandenden Bergsturzmasse nicht möglich.»

Die Modellierung des Bergsturzes hatte ergeben, dass die Wanderwege hinauf zu den beiden SAC-Hütten «auf längeren Strecken innerhalb des Gefahrenbereichs mit erheblicher Gefahr» lagen und von einem Bergsturz innert weniger Minuten verschüttet würden. In den Maiensässen neben den Wanderwegen sei der Aufenthalt «lebensgefährlich».

Die halbstündige Wanderung durch den Gefahrenbereich taxierte der Bericht trotzdem als nicht lebensgefährlich. Das «Individualrisiko» wurde «als vertretbar beurteilt». Das AWN wollte eine Anfrage des Beobachters nicht beantworten, da «es sich um ein laufendes Verfahren handelt». Im Bericht selber heisst es vage, «dass auf vielen anderen Wegabschnitten des Bündner Wanderwegnetzes wesentlich grössere […] Gefahrensituationen bestehen, ohne dass eine vollständige Sperrung in Frage kommt».

Infotafeln als Empfehlung

Der Kanton empfahl auf die Sommersaison 2015 hin ein anderes Vorgehen. Statt den Weg zu verlegen, sollte die Gemeinde beim Parkplatz und bei den beiden Hütten grosse Tafeln mit Warnhinweisen aufstellen.

Ob das etwas genützt hat, ist fraglich. Am Sonntag vor dem tragischen Bergsturz war ein Beobachter-Leser mit seiner Frau hinten im Bondasca-Tal. Er berichtet: «Die Parkplätze waren übervoll. Nicht auszudenken, welche Folgen der Bergsturz an einem Wochenende gehabt hätte!»

Zwei Wochen vor dem Bergsturz gab es akute Alarmzeichen. Die Radarmessungen hatten ergeben, dass sich die instabile Felsmasse am Piz Cengalo viel schneller bewegte als im Vorjahr. Die Spezialisten des AWN gaben trotzdem Entwarnung. Sie empfahlen, das Tal offen zu lassen, die Gefährdung habe sich «nicht massgebend verändert». An einer Krisensitzung übernahm der Führungsstab der Gemeinde Bergell diese Empfehlung.

«Hier ist ein Fehler passiert. Diesen wichtigen Entscheid hätte laut Gesetz der Gemeindevorstand fällen müssen», findet das damalige Vorstandsmitglied Ugo Maurizio. Die Sache liess ihm keine Ruhe. Im März 2019 kontaktierte er die Staatsanwaltschaft. Im Einschreiben informierte er über das versandete Wegprojekt und seine Zweifel am Entscheid des Führungsstabs.

Eingestellte Ermittlungen

Die Staatsanwaltschaft antwortete erst nach einem halben Jahr und zwei weiteren Briefen. Der zuständige Staatsanwalt, Bruno Ulmi, sagt heute dazu: «Wir sahen keine Veranlassung, umgehend auf die Schreiben von Herrn Maurizio zu reagieren.» Die Staatsanwaltschaft habe das Verfahren einstellen wollen, als sie Maurizios ersten Brief erhalten habe. «Die von Herrn Maurizio in Aussicht gestellten Informationen wären nicht geeignet gewesen, etwas an diesem Ergebnis zu ändern.»

Drei Monate nachdem sich Maurizio gemeldet hatte, stellte die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen wegen möglicher fahrlässiger Tötung ein. Die Begründung: Der Bergsturz sei nicht vorhersehbar gewesen, weil Vorboten in Form von Felsstürzen gefehlt hätten.

Damit übernahm die Staatsanwaltschaft die zentrale Aussage des Berichts, den das AWN für die Justiz verfasst hatte. Unter den sechs Autoren waren auch die Fachleute, die empfohlen hatten, das Tal nicht zu sperren. Das sei problematisch, entschied das Bundesgericht im Februar 2021. Beim AWN-Bericht hätten Personen mitgewirkt, «die als Beschuldigte im vorliegenden Verfahren in Frage kommen». Die Bündner Staatsanwaltschaft müsse den Fall nochmals aufrollen.

Die Behauptung, der Bergsturz sei aus heiterem Himmel gekommen, belegte die Staatsanwaltschaft weiter mit dem Hinweis auf einen fünfseitigen Kurzbericht. Verfasst wurde er von einer Expertengruppe aus Wissenschaftlern und kantonalen Mitarbeitenden, den Auftrag gegeben hatte die Bündner Regierung. Die Expertengruppe war laut Staatsanwaltschaft zum Schluss gekommen, dass es in den Tagen vor dem grossen Bergsturz «keine unmittelbaren Anzeichen gab, die auf den Bergsturz hindeuten».

Auffällig: 8 der 18 Mitglieder dieser Expertengruppe arbeiten beim AWN. Darunter sind alle Verfasser des vom Bundesgericht gerügten AWN-Berichts. Trotzdem schrieb der Kanton in der Einladung zur Präsentation, es handle sich um «eine unabhängige Expertengruppe».

Das Bündner Kantonsgericht war voll des Lobes für den Kurzbericht. Es wischte die Beschwerde von Angehörigen vom Tisch, die sich gegen die Einstellung gewehrt hatten. Dem Kurzbericht komme «beweismässig ein grosses Gewicht» zu.

Mängel im Verfahren

Mehrere der laut Kantonsgericht «namhaften Experten» sehen das anders. Sie bezweifeln, dass der Kurzbericht, an dem sie beteiligt waren, so wichtig ist. Einer davon ist Jürg Schweizer. Der Leiter des WSL-Instituts für Schnee- und Lawinenforschung sagte gegenüber dem Beobachter: Der Kurzbericht sage «nichts aus zur Vorhersehbarkeit des Bergsturzes». Es werde lediglich erwähnt, «dass es keine unmittelbaren Anzeichen in den Tagen vorher gab. Die Geologen erwarteten aber in den nächsten Wochen und Monaten ein grosses Sturzereignis.»

Jetzt sei es die Aufgabe der Justiz, «die offene Frage der Verantwortlichkeit zu beantworten», sagt Schweizer. «Bei so einem komplexen Thema würde ich erwarten, dass die Justizbehörden, wie in solchen Fällen üblich, ein unabhängiges Gutachten einholen.»

Weitere beteiligte Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die Tage vor dem Sturz «praktisch gar nicht behandelt» wurden. Thema seien einzig der überraschende Murgang, die Auslöser des Bergsturzes und künftige Gefahren gewesen.

Beim Kurzbericht federführend gewesen sei das AWN. Die Wissenschaftler hätten Expertisen beigesteuert. Inhaltliche Debatten habe es kaum gegeben, dafür sei die Zeit zu knapp gewesen, kritisiert der Aachener Geologieprofessor Florian Amann. «Der Diskussionsspielraum war klein.» 

Genauso brisant: Die Behauptung, dass der Bergsturz nicht vorhersehbar war, habe das AWN eingebracht. Dies bestätigten weitere Experten, die nicht namentlich genannt werden wollen.

«Mich hat das nicht überzeugt», sagt ein Beteiligter. Damals habe niemand gross opponiert, weil andere Themen wichtiger waren. Das sei ein Fehler gewesen. «Das Hauptproblem am Kurzbericht ist, dass ihn Leute verfasst haben, die möglicherweise eine Schuld tragen.»

Fragen wirft auch der Abgang eines Experten des Bundesamts für Umwelt auf. Er gehörte Mitte November 2017 noch der Expertengruppe an. Einen Monat später – bei der Präsentation – fehlte sein Name, ohne dass darauf verwiesen wurde. Das Bundesamt äussert sich nicht dazu.

Diese Woche jährte sich der Bergsturz zum vierten Mal. Seit dem Urteil des Bundesgerichts ist ein weiteres halbes Jahr verstrichen. Seither klärte das Bündner Kantonsgericht die finanziellen Belange des bisherigen Verfahrens. Bis «spätestens Ende August» sollen die Akten wieder bei der Staatsanwaltschaft sein.

Chronologie der Ereignisse
August 2013 bis Juni 2015
10. August 2017 bis August 2021

Karte: Die aktuelle Situation zwischen Bondo und dem Piz Cengalo

Karte der Region um Bondo GR mit gesperrten und geplanten Wanderwegen
Quelle: Anne Seeger

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