Er ahnte nichts Böses, als er am 30. April zum Abteilungsleiter gerufen wurde. «Doch im Büro stürzten sich zwei Beamte auf mich, stellten mich an die Wand, legten mir Handschellen an und überführten mich in Sicherheitshaft ins Gefängnis nach Solothurn.» Dave B. (Namen aller Betroffenen der Redaktion bekannt) befand sich bis zu diesem Tag im Massnahmenzentrum für junge Erwachsene im zürcherischen Uitikon (MZU), weil er zahlreiche bewaffnete Raubüberfälle verübt hatte. Im MZU hatte der 24-Jährige eine Schreinerlehre begonnen und benahm sich so vorbildlich, dass er schon bald an jedem Wochenende nach Hause durfte - anderthalb Jahre lang, bis zum 30. April. Denn zu diesem Zeitpunkt lag der Zwischenbericht vor, den die Psychiater des MZU auf Wunsch der Vollzugsbehörde verfasst hatten und der Dave B. plötzlich als flucht- und gemeingefährlich einstufte.

Nun drohte ihm die lebenslange Verwahrung. Zwar wurde er nach Monaten der Ungewissheit in U-Haft «nur» zu knapp sechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Wenn es aber nach dem Willen der Staatsanwältin gegangen wäre, hätte man ihn auf unabsehbare Zeit in eine psychiatrische Anstalt weggesperrt. Denn psychiatrische Gutachten spielen heute eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, Gefährlichkeit und Rückfallgefahr eines Täters zu beurteilen. Die Justiz übernimmt meist die Einschätzung des Forensikers, der so zum Richter in Weiss wird. Oberrichterin Marianne Heer hält das für problematisch: «Die Gefährlichkeitsprognose ist nicht nur eine psychiatrische Angelegenheit. Es handelt sich ebenso sehr um eine rechtliche Frage - die stark gesellschaftspolitisch geprägt ist.»
Eine heikle Machtverlagerung, zumal es beim Ausloten menschlicher Grenzbereiche oft auch bei den Psychiatern nur allzu menschlich zugeht, wie Rudolf I. erleben musste. Vor sechs Jahren befand er sich wegen Depressionen in Behandlung. Eines Tages versetzte ihn der Arzt mit intimen Fragen so in Rage, dass er ausrastete und den Psychiater leicht verletzte - was zu einer Anklage wegen «versuchter schwerer Körperverletzung» führte. Der bis dahin unbescholtene junge Mann wäre wohl mit einer bedingten Strafe davongekommen. Doch vor Gericht behauptete Rudolf I., er könne sich an nichts erinnern. Dieser Trick sei ihm eingefallen, «weil ich mal gehört hatte, dass man sicher nicht ins Gefängnis kommt, wenn man sich nicht mehr erinnern kann».

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Expertise «völlig aus der Luft gegriffen»
Wegen dieser «Gedächtnislücke» stempelte ihn ein Gutachten als schizophren ab. Rudolf I. kam nun tatsächlich nicht ins Gefängnis - stattdessen steckte man ihn in die geschlossene Psychiatrie der Universitätsklinik Basel (PUK). Zwei Jahre lang wurde Rudolf I. mit Medikamenten «behandelt». Bis es seiner Anwältin Sandra Sutter-Jeker gelang, mit einem privat in Auftrag gegebenen Gutachten die Diagnose zu widerlegen: Gutachter Piet Westdijk kritisierte die erste Expertise als «unwissenschaftlich, forciert und von den Testresultaten her völlig aus der Luft gegriffen». Rudolf I. wurde in die Freiheit entlassen - «unter Warnrufen der PUK», wie die Anwältin sagt. Kürzlich hat er die Abschlussprüfung als Detailhandelsfachmann bestanden.

Der Fall Hauert
Herbst 1993: Der zweifache Mörder Erich Hauert tötet im Hafturlaub eine 20-Jährige. Der Mord führt zu einer restriktiveren Entlassungspraxis in der ganzen Schweiz. Das Urteil von Forensikern wie dem Zürcher Psychiater Frank Urbaniok (M.) hat seither in immer mehr Fällen grosses Gewicht.

Dass Täter heute eher psychiatrisch weggesperrt als mit einer Freiheitsstrafe belangt werden, hat seinen Grund: Seit der Mörder Erich Hauert 1993 aufgrund eines Gutachtens in den Hafturlaub entlassen wurde und eine Pfadfinderin umbrachte, stehen Gerichtspsychiater unter Druck. Also schätzen Forensiker die Risiken in ihren Gutachten eher zu hoch ein. «Ob sie damit allenfalls falschliegen, lässt sich nicht verifizieren - der Täter sitzt ja im Gefängnis», sagt der Zürcher Strafverteidiger Matthias Brunner. Auffallend ist: Die Zahl der Verwahrten nahm seit dem Mord um das Zweieinhalbfache zu. Brunner präzisiert: «In der Branche unbestritten ist mittlerweile die Erkenntnis, dass zwei von drei Tätern zu Unrecht verwahrt sind.» Das heisst: Rund 150 Personen sind derzeit in der Schweiz «irrtümlich» in Verwahrung.

Der Psychiater sei heute «der Systemvollstrecker, der sich an den Delinquenten heranpirscht und die Gemeingefährlichkeit ortet», folgert denn auch Justizkritiker und Rechtsanwalt Peter Zihlmann - und erinnert sich: «Früher waren wir Strafverteidiger froh über Gutachter, die Tätern eine verminderte Zurechnungsfähigkeit attestierten. Das wirkte strafmindernd.» Heute müsse er warnen: «Bloss nicht in die Fänge der Psychiatrie geraten - das endet nie.» Eine verminderte Zurechnungsfähigkeit wirkt sich also praktisch strafverschärfend aus.

Wahnkrankheit vergeht, Verwahrung bleibt
Wie im Fall von Rita K.: Sie glaubte, ihr Mann vergifte sie und ihren Sohn sukzessive. Als eine Haaranalyse vom toxikologischen Institut in Basel bei beiden erhöhte Werte für Thallium (Rattengift) und Lithium ergab, fühlte sie sich bestätigt. Am 2. April 1996 versuchte die damals knapp 40-Jährige, ihren Mann zum Geständnis zu zwingen. Sie betäubte ihn mit Schlaftabletten im Curry, fesselte ihn ans Bett, schaltete eine Videokamera ein und begann das «Verhör». Schliesslich drückte sie ihm mehrmals ein Kissen aufs Gesicht, «um seine Beschimpfungen nicht mehr zu hören». Die Inquisition endete tödlich.

Das Gericht folgte dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf sechs Jahre Zuchthaus nicht, sondern sah von einer Bestrafung ab. Rita K. wurde dafür auf unbestimmte Zeit verwahrt. Seit Jahren will sie ihre geistige Normalität beweisen: «Ich bestreite gar nicht, dass ich mich in einem schweren psychischen Ausnahmezustand befunden habe. Aber das ist vorbei, und ich habe keine Wahnkrankheit mehr.» Fünf Gutachter versuchten, die Persönlichkeit der Rita K. zu enträtseln. Der erste fand: nicht gemeingefährlich. Der zweite wurde nach dem Hauptverfahren aufgeboten und hielt fest, sie sei gemeingefährlich. Das dritte Gutachten kam wieder zum Schluss «nicht gemeingefährlich», das vierte ortete «mittelgradige Gefährlichkeit», und im fünften bestätigte Martin Kiesewetter weder Gemeingefährlichkeit noch schwere Persönlichkeitsstörung. Rita K. sei in einem Wohnheim mit sozialtherapeutischer Stütze unterzubringen. Doch sie sitzt noch immer in Hindelbank. Es ergeht ihr dort wie fast allen Verwahrten: Der Richter ordnet die stationäre psychiatrische Behandlung an, doch die Behörden vollziehen sie am falschen Ort: in der geschlossenen Strafanstalt.

Wenns eng wird, ruft man den Hardliner
Auch das Denken des Sexualstraftäters Markus W. wurde schon von vielen Psychiatern seziert. Als schliesslich die als äusserst streng geltende Innerschweizer Fachkommission «Gemeingefährliche Straftäter» seine schrittweise Freilassung befürwortete, riefen die Luzerner Vollzugsbehörden einen Hardliner des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes des Kantons Bern auf den Plan: Oberarzt Ralph Aschwanden empfahl nach einem einzigen, knapp fünfminütigen Gespräch in seinem «Therapiebericht» die chemische Kastration (Beobachter Nr. 3). Aschwanden ist überzeugter Verfechter der Kastrationstherapie: «Der Sexualstraftäter - Mann - ist dann nur noch Mensch ohne aggressives männliches Paarungsverhalten.» Deutlich wird im Fall Markus W., dass die Strafvollzugsbehörden genau wissen, an wen sie sich wenden müssen, um ein gewünschtes Ergebnis zu bekommen - geprägt von der Angst vor gewissen Medienkampagnen, wenn ein Vergewaltiger freikommt: «Und Gutachter, die Karriere machen wollen, dienen sich den Behörden an», so Peter Zihlmann.

Wes Brot ich ess, des Lied ich sing? «Ja, die Gefahr besteht. Vor allem bei privat praktizierenden Psychiatern, die auf Aufträge durch die Gerichte, Strafverfolgungsbehörden oder Anwälte angewiesen sind», räumt Volker Dittmann, leitender Arzt der forensischen Abteilung der Universitätsklinik Basel, ein. Immerhin kostet ein Gutachten schnell einmal 15'000 Franken. Und als Folge des neuen Strafrechts, das die Forensik ins Zentrum der Justiz gerückt hat, boomt das Business. «Wer es aber seriös macht, für den bedeutet es viel Aufwand», meint Dittmann.

Der Basler Strafrechtsprofessor Peter Aebersold durchleuchtete schon 1970 die Qualität forensischer Gutachten: «Verglichen mit damals ist natürlich eine bedeutende Verbesserung festzustellen», meint der heute 65-Jährige. Anwalt Matthias Brunner lässt dies allerdings nur bedingt gelten: «Primär wurden die formalen Anforderungen an Gutachten gehoben. Die Substanz wird damit jedoch nicht besser.» Er vermisse immer wieder eine konkrete Analyse der Risikobereiche - wann ein Täter unter welchen Umständen wie reagieren könnte. «Stattdessen finde ich immer mehr vom Computer berechnete Gefährlichkeits-Scores. Wenn der Computer an die Stelle des Psychiaters tritt, führt das zu fatalen Simplifizierungen.»

Checkliste mit sehr subjektiver Wertung
Die Scores sind meist Fragebögen mit Punkteskala. Weltweit durchgesetzt hat sich die Checkliste nach R. D. Hare, die Personen mit 20 Merkmalen auf «übersteigertes Selbstwertgefühl», «pathologisches Lügen» oder «oberflächlichen Charme» hin abklopft. Wer mehr als 30 Punkte hat, gilt als Psychopath. Die Krux: Es entscheiden sehr subjektive Urteile. So gaben die vier Psychiater, die Dave B. teils gar nicht kannten, einen Punkt für «oberflächlichen» Charme. Und die «Lust am Gruppenführen» - was jedem Pfadi, Offizier oder Manager zum Vorteil gereicht - wurde ihm als «manipulatives Verhalten» angelastet. Resultat: 31 Punkte. Fazit: Psychopath.

Ähnlich funktioniert das Programm «Fotres», das von Frank Urbaniok, Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes im Zürcher Amt für Justizvollzug, entwickelt wurde. Die Software errechnet anhand von 700 Kriterien einen Gefährlichkeitsquotienten - «pseudowissenschaftliches prophetisches Getue», meint der Psychiater Mario Gmür: «‹Fotres› beeindruckt durch die grosse Menge an Merkmalen und erweckt so den irreführenden Eindruck, es handle sich um ein Prognoseinstrument von hoher Treffsicherheit.»

Das Bundesgericht hat hinter solche Punktebewertungen denn auch ein grosses Fragezeichen gesetzt: Die Behörden dürften sich bei ihren Beurteilungen nicht ausschliesslich auf standardisierte Computerprogramme abstützen und auf eine individuelle Begutachtung verzichten.

Klar ist, dass eine PC-Software aus schlechten keine guten Gutachter macht. Ein Versuch, deren Fähigkeiten zu heben, wurde nun mit der Zertifizierung anerkannter Gerichtsgutachter durch die Gesellschaft für forensische Psychiatrie gestartet. Die Aufnahme-, Aus- und Weiterbildungskriterien wurden international abgeglichen. 22 Deutschschweizer und zwölf Westschweizer dürfen den Titel bereits tragen. Sie mussten, weil sie die Rolle der Pioniere einnehmen und die Lehrmeister künftiger Anwärter sind, weder Ausbildung noch Prüfung absolvieren.

Ob sie alle nun über jeden Zweifel erhaben sind, sei dahingestellt. So oder so gibt es schlicht zu wenig qualifizierte Gutachter - und sie sind hoffnungslos überlastet. «Die Rechnung ist einfach», sagt Volker Dittmann: In der Schweiz würden pro Jahr mehrere tausend Gutachten anfallen, und pro Gutachten brauche es mindestens eine Woche Arbeit. Dittmanns Fazit: «Ein grosser Teil der Gutachten wird nicht von qualifizierten Spezialisten erstellt.»