Schöner wohnen in der «Talsperre»
Mitten im Grünen ragen sie einsam in die Höhe, umgeben von Bauernhäusern und Kühen: drei Hochhäuser als Zeugen einer Zeit, als das Toggenburg als Wirtschaftsstandort hoch hinauswollte. Es lebt sich ganz gut in ihnen.
Veröffentlicht am 15. Oktober 2008 - 11:05 Uhr
Kommt man über den Hemberg runter nach Wattwil, glaubt man zu träumen: Monumental erheben sich drei Hochhäuser aus der grünen Ebene, zeichnen sich scharf gegen die sanften Hügelketten ab. Futuristisch muten sie an; als hätten Ausserirdische auf einem Zwischenhalt durch die Galaxie sich ein Mal gesetzt. «Talsperre» oder «Schandfleck» werden die drei Wohnkolosse auch schon mal genannt. Allerdings nur von Aussenstehenden - Hässlichkeit scheint einmal mehr eine Frage der Perspektive zu sein. Wer drin ist, ist gern drin.
Zum Beispiel Jutta Zoll und ihr Mann Rudolf. Seit 1973 leben sie an der Waisenhausstrasse 17 im zweiten Stock. «Damals betrug die Miete gerade mal 600 Franken, das war für 120 Quadratmeter sehr günstig», erinnert sich Jutta Zoll. «Zudem gab es praktisch keine so grossen Wohnungen.» 35 Jahre im Wohnsilo? «Wo hat man sonst so einen Ausblick mit unverbauter Sicht auf die Churfirsten und nur Grün rundum?», fragt die alte Dame mit einem Lächeln zurück. «Und stellen Sie sich mal vor, die Wiese da unten wäre mit 100 Einfamilienhäuschen zugepflastert. Das wäre doch jammerschade.»
Gute Aussichten auch im zweiten Stock: Jutta und Rudolf Zoll, seit 1973 in Wattwil
Nirgends im Kanton St. Gallen gibt es heute weniger Arbeitsplätze pro Kopf, ist die Produktivität niedriger, das Einkommen der Privathaushalte kleiner und die Steuerkraft geringer als im Toggenburg. Was also machen drei 15 Stockwerke hohe Wohnsilos ausgerechnet hier in dieser ländlichen Region, wo seit je die Streusiedlung Programm ist?
Ein Stoff, der grosse Träume weckte
Die Existenz der «drei Eidgenossen», wie die Blöcke im Volksmund auch genannt werden, verdankt die Gemeinde Wattwil einer Textilfaser: 1931 erwarb der Industrielle Georg Heberlein ein Verfahren zur Herstellung einer krausen, hochelastischen Polyamidfaser. Er nannte sie Helanca und liess das Verfahren patentieren. Ab 1932 wurde produziert. Als während des Zweiten Weltkriegs die Grenzen dichtgemacht wurden und die Baumwolle knapp war, gelang Helanca der Durchbruch: Aus dem strapazierfähigen, dehnbaren Garn wurde von Skihosen, Trainerjacken, Strumpfhosen über Badeanzüge, Nacht- und Unterwäsche bis hin zur Abendgarderobe vier Jahrzehnte lang alles Mögliche produziert. Sogar Barbie-Puppen und Citroën DS trugen Helanca - Erstere als Badeanzug, Zweitere in Form von Sitzbezügen. Bis in die sechziger Jahre hatte Heberlein weltweit 131 Lizenzverträge für die Faser.
1969 ist das Geburtsjahr der drei Wohnkolosse. Noch floriert das Geschäft mit der Kunstfaser, die Heberlein-Fabrik wächst unglaublich schnell und mit ihr der Bedarf an Wohnraum für die Mitarbeiter. 2400 Angestellte stehen mittlerweile auf der Lohnliste von Heberlein, viele stammen nicht aus der Region, sondern aus Deutschland, Österreich und Norditalien. Sie benötigen, wie das aus Süddeutschland stammende Ehepaar Zoll, dringend Unterkünfte. Ergo muss gebaut werden. Georg Heberlein wusste auch ohne Optionspläne, wie man Angestellte zu Dankbarkeit und Firmentreue verpflichtet: Mitarbeiter in leitender Position durften zu Vorzugspreisen Land für den Bau eines Hauses kaufen. Doch angesichts des rasanten Wachstums des Werks drohte der Firma das Land auszugehen. So wurde beschlossen, als Ersatz grosszügige Wohnungen für Kadermitarbeiter zu erstellen.
Flugplatz und Atomkraftwerk
Mit den drei Hochhäusern ist nur ein Bruchteil dessen realisiert worden, was sich der Visionär mit Tendenz zur Grossmannssucht - Heberlein hatte in den Sechzigern sogar Planskizzen für ein Atomkraftwerk und einen Flugplatz anfertigen lassen - erträumt hatte: «Die Hochhäuser sollten sozusagen den Gipfel eines Berges aus Gebäuden bilden, während die darum herum liegenden Häuser nach aussen hin immer niedriger werden sollten», erzählt Benno Zoller, der 1969 als Sachbearbeiter in Heberleins Liegenschaftenverwaltung anfing und die Projektierung sowie den Bau der Hochhäuser begleitete. Heute verwaltet er die Wohntürme für die aktuellen Besitzer.
Heberlein schwebte offenbar nichts Geringeres vor als eine Trabantenstadt vor den Toren Wattwils. Die Baubewilligung für die ersten beiden Hochhäuser mit je 36 Wohnungen erhielt er problemlos, «was heute nicht mehr denkbar wäre», wie Zoller betont. Doch die Wattwiler waren gerne willig. Schliesslich verdankten die Einwohner der Familie Heberlein viel: das Schwimmbad, das erste Krankenauto fürs Spital, das Volkshaus, die Begradigung der Thur. Und natürlich Arbeit. «Man konnte sich kaum in einer Wirtschaft an einen Tisch setzen, ohne auf einen Heberlein-Angestellten zu treffen», erinnert sich Zoller. 1974 nahm Heberleins Traum von der Toggenburger Retortenstadt ein jähes Ende. Die Ölkrise von 1973 verteuerte den Rohstoff Erdöl, aus dem Helanca hergestellt wurde, enorm.
Der Stellenabbau erfolgte erst schleichend, dann offensichtlicher. Bereits 1981 konnte die Firma, die ihren Lehrlingen immer die Übernahme nach der «Stifti» garantiert hatte, dieses Versprechen nicht mehr einhalten. Nicht nur die Fabrikhallen, auch die Hochhäuser begannen sich zu leeren. «Weil wir immer weniger Angestellte hatten, mussten wir schliesslich an ‹Fremde› vermieten», erzählt Zoller.
Vreni Gantenbein war eine solche Fremde. Nach dem Tod ihres Mannes 1986 konnte sie eine Dreieinhalbzimmerwohnung in einem der Blöcke ergattern - als die Vormieter, das deutsche Ehepaar Lämmermeier, zurück in die Heimat fuhren. Jetzt wohnt die 83-Jährige bereits 22 Jahre hier. «Mir gefällts, vor allem der Balkon. Der hat den ganzen Tag Sonne», sagt sie und strahlt über beide gebräunten Wangen. In den 40 Jahren ihrer Ehe sei sie siebenmal umgezogen, hier wolle sie nicht mehr weg, es reiche jetzt. «Und wenn man ganz viel Pech hätte und später doch noch einen Rollstuhl bräuchte, ginge sogar das», sagt die ausgesprochen rüstige alte Dame und zeigt auf die schwellenlosen Türen. Die alte Wanduhr schlägt vier.
Zufrieden in den eigenen vier Wänden: Vreni Gantenbein wohnt seit 22 Jahren hier.
Kletterstangen vor dem AlterssitzDas Gros der Bewohner ist älter bis alt und schon seit Urzeiten dabei. Wer irgendwie konnte, blieb. Viele nahmen nach der Entlassung weite Arbeitswege in Kauf, pendelten jahrelang bis nach Winterthur oder St. Gallen.
Auch Neuzuzüger sind oft nicht mehr die Jüngsten - ein Lift, ein Bus vor der Haustür und die grüne Umgebung sind stichhaltige Argumente für einen Alterssitz. Die Überalterung sei teilweise ein wenig problematisch, meint Benno Zoller. Und wie um der Realität ein wenig auf die Sprünge zu helfen, wurde vor kurzem der Umschwung der Siedlung kind- und familiengerecht aufgepeppt. Hand-, Volley- und Basketball, Sandkasten, Kletterstangen, ein Grillplatz von Pfadiausmassen - alles vorhanden. «Es war aber nicht immer einfach, die älteren Stockwerkeigentümer dazu zu bewegen, den Ausgaben zuzustimmen. Von einem Spielplatz haben sie selber ja nichts», sagt Zoller.
In vier verschiedenen Wohnungen gelebt
1991 wurden die drei Häuser verkauft, die Wohnungen der vorderen beiden Blöcke den bisherigen Mietern als Stockwerkeigentum angeboten. Damals kaufte die Mutter von Carolina Macario ihre Wohnung im Haus Nummer 17. Als sie 1999 starb, vererbte sie sie der Tochter, die heute mit ihrem sechsjährigen Sohn Anthony und der Zwerghäsin Hoppeli hier wohnt. «Mich nennen sie hier ‹Frau Wiederkehr›, weil ich immer wieder in die Hochhäuser zurückgekommen bin», sagt die alleinerziehende 46-Jährige mit einem Grinsen.
Kam als Zehnjährige von Bergamo nach Wattwil: Carolina Macario mit Anthony
Tatsächlich ist Macarios Leben eng mit Heberlein und den Hochhäusern verbunden. Sie ist 1972 mit ihren Eltern aus der norditalienischen Stadt Bergamo hergezogen, Vater und Mutter arbeiteten bei Heberlein, ihr Bruder und sie machten dort die Lehre. Sie hat in vier verschiedenen Wohnungen in zwei der Häuser gelebt. 30 Jahre ihres Lebens hat die 46-Jährige an der Waisenhausstrasse gewohnt.
Gleich hinterm Zaun fliesst gemächlich die Thur, Kühe und Ponys grasen auf den Weiden. Zeitlose Idylle, an der der Niedergang der Schweizer Textilwirtschaft und des Heberlein-Konzerns im Besonderen spurlos vorübergegangen ist.
2001 hat die Firma Heberlein & Co. die Tore ihrer Fabrikhallen endgültig geschlossen, die letzten 223 Mitarbeiter entlassen. Zurück blieben eine riesige Industriebrache von 55'000 Quadratmetern und die drei Zeitzeugen an der Waisenhausstrasse. An den Folgen leidet die Region nach wie vor. Wer arbeiten muss, zieht weg - die Gemeinde Wattwil, die sich auf ihrer Website «Metropole des Toggenburgs» nennt, zählt mit ihren 14 eingemeindeten Dörfern auf 44 Quadratkilometern gerade mal 8300 Einwohner.
Auch Peter Westermann ist ein Wiederholungsbewohner. Er ist ebenfalls hier aufgewachsen, wohnt bereits in der vierten Wohnung innerhalb der Siedlung. Die hat er 2002 gemeinsam mit seiner Frau Manuela für 400'000 Franken gekauft. Heute belebt die sechsköpfige Familie mit zwei Katzen die 140 Quadratmeter im zehnten Stock, die unvermeidbare Aussicht auf die Churfirsten inbegriffen. Westermann hat das Glück, hier in Wattwil ein Auskommen gefunden zu haben: Er ist Aussenabwart für das Haus, in dem er wohnt.
Arbeit gleich vor der Haustür: Aussenabwart Peter Westermann mit Familie