Andreas Weber* ist 19, als sein Vater ohnmächtig vor ihm zusammenbricht. Während er den Notruf wählt, ahnt er nicht, dass er in den nächsten Wochen eine der schwierigsten Entscheidungen seines Lebens treffen muss: seinen Vater am Leben erhalten – oder loslassen.

Wenn jemand bewusstlos ins Spital eingeliefert wird, müssen andere über Leben oder Tod entscheiden. Da hilft es Ärzten und Angehörigen, wenn eine Patientenverfügung vorhanden ist. Darin kann der Patient festhalten, welche medizinischen Behandlungen er ablehnt – und welchen er zustimmt. Aber auch, wer diese Wünsche gegenüber Ärzten geltend machen soll.

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Patientenverfügungen sind in der Schweiz seit Januar 2013 rechtlich verbindlich. Sobald jemand urteilsunfähig auf der Notfallstation eintrifft, müssen die behandelnden Ärzte darum zwingend klären, ob der Patient die Entscheidungen über sein Leben oder seinen Tod in einer Patientenverfügung festgehalten hat.

Gerade mal 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung haben ihre letzten, wichtigsten Entscheidungen so schriftlich geregelt, zeigt eine Umfrage.

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Ein Mann mit einer Sauerstoffmaske liegt in einem Bett und wird von einer Person mit Handschuhen betreut.
Quelle: Getty Images

Andreas Webers Vater Urs ist einer von ihnen. Mit einem Aortariss wird der 60-Jährige in ein Schweizer Universitätsspital eingeliefert. Und dort notfallmässig operiert – erfolgreich. Doch er kommt nach der Operation nicht mehr zu Bewusstsein. Er wird künstlich ernährt und beatmet – und später in diesem Zustand in ein kleineres Spital überwiesen.

Es gibt zwar Hoffnung, dass Urs Weber wieder zu Bewusstsein kommt. Doch inzwischen ist die Patientenverfügung aufgetaucht. Sie stellt die Familie vor ein Dilemma. Urs Weber verzichtet darin auf lebensverlängernde Massnahmen, wünscht aber gleichzeitig, künstlich ernährt zu werden – eine typische lebenserhaltende Massnahme. Ist es nun in Urs Webers Sinn, ihn mit Maschinen und Schläuchen weiter am Leben zur halten?

«Leider können Patientenverfügungen oft nicht eins zu eins umgesetzt werden.»

 

Patrizia Kalbermatte, Institut Dialog Ethik

Wenn der Wille des Patienten in der Verfügung unklar formuliert ist, spielen plötzlich die angegebenen Vertrauenspersonen eine zentrale Rolle. Sie müssen anstelle des Patienten zusammen mit den Ärzten über medizinische Massnahmen entscheiden. Im Fall von Urs Weber sind es die Söhne. Wochen nach dem Zusammenbruch müssen sie entscheiden, ob lebenserhaltende Maschinen ausgeschaltet werden oder nicht. Ein Entscheid, den niemand gern fällt.

«Leider zeigt die Praxis, dass Verfügungen oft nicht eins zu eins umgesetzt werden können», sagt Patrizia Kalbermatten vom Institut Dialog Ethik. Ihr Team hat Urs Webers Söhne und seine getrennt lebende Frau durch die schwierige Entscheidung begleitet.

Zu ungenaue Formulierungen und Vorstellungen

Das Team von Dialog Ethik vermittelt nicht selten zwischen Ärzten und Angehörigen, wenn Formulierungen in Verfügungen zu wenig konkret sind, sich widersprechen oder nicht zur aktuellen Situation passen. Wenn Patienten beispielsweise ankreuzen, dass sie nicht an die Beatmungsmaschine gehängt werden wollen, aber trotzdem lebenserhaltende Massnahmen wünschen. Oder wenn sie festhalten, dass sie bei schwerer Krankheit nicht ins Spital eingewiesen werden wollen und zugleich die Reanimation nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wünschen – eine Massnahme, die oft nur im Spital durchgeführt werden kann.

«Wer als Gesunder eine Patientenverfügung ausfüllt, hat halt oft nur diffuse Vorstellungen von medizinischen Massnahmen», sagt Patrizia Kalbermatten. «Viele wollen zum Beispiel ‹nicht über längere Zeit an Schläuchen hängen›. Sie wissen aber nicht, dass solche Schläuche auch nach gewöhnlichen Operationen eingesetzt werden, um den Patienten zu stabilisieren.»

Plötzlich geht es um Leben oder Tod

In der Schweiz hat sich die sogenannte geteilte Entscheidungsfindung durchgesetzt. Der Arzt ist zwar Experte, stellt die Diagnose und kennt die möglichen medizinischen Behandlungen. Aber er ist nicht mehr der «Gott in Weiss», der nicht hinterfragt wird.

Ausser in dringenden Notfällen dürfen Ärzte ohne Einwilligung des Patienten heute keine Eingriffe mehr vornehmen und keine Therapie beginnen. Bei widersprüchlichen Verfügungen müssen sie daher die Stellvertreter des Patienten kontaktieren, die dann an dessen Stelle und in seinem Sinne entscheiden müssen. Wie im Fall von Urs Weber tritt dann aber genau das ein, was die Verfügung hätte verhindern sollen: Angehörige müssen über Leben oder Tod entscheiden.

Eine Verfügung entlastet die Angehörigen nur, wenn der Wille des Patienten klar und differenziert formuliert ist. «Dafür braucht es aber eine gewisse Vorstellung der medizinischen Möglichkeiten. Man sollte wissen, wie es in einer Intensivstation zugeht und was eine palliative Begleitung umfasst», sagt Patrizia Kalbermatten.

«Für eine Patientenverfügung braucht es eine gewisse Vorstellung der medizinischen Möglichkeiten.»

 

Patrizia Kalbermatte, Institut Dialog Ethik

Das Institut Dialog Ethik empfiehlt darum, sich für das Ausfüllen der Patientenverfügung Zeit zu nehmen und sich vom Hausarzt oder behandelnden Arzt erklären zu lassen, wie eine maschinelle Beatmung oder eine künstliche Ernährung konkret abläuft. Idealerweise prüft der Arzt dann auch, ob es in der Verfügung Widersprüche gibt.

Wer eine Verfügung plant, sollte mit Angehörigen und designierten Stellvertretern darüber sprechen – und auch gleich über Werte und Ängste im Zusammenhang mit schwierigen Krankheitssituationen. Ein Stellvertreter sollte verstehen, wie jemand über medizinische Massnahmen denkt. Denn bei Entscheidungen müssen Erfahrungen, Emotionen, Glaubens- und Wertevorstellungen des Patienten mitberücksichtigt werden.

Andreas Weber und sein Bruder haben sich entschieden. Nach einigen Wochen intensiver Gespräche mit Familie, behandelnden Ärzten und dem Team von Dialog Ethik sind bei Urs Weber alle lebenserhaltenden Massnahmen eingestellt worden.

* Name geändert

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