Neuer Verdächtiger
Hat Kindermörder Werner Ferrari auch die zwölfjährige Ruth Steinmann umgebracht? Eine Fülle von Indizien legt den Schluss nahe, dass er mit dem wirklichen Täter verwechselt wurde. Ein Revisionsverfahren soll jetzt endlich Klarheit schaffen.
Veröffentlicht am 4. März 2003 - 00:00 Uhr
Heinz Kamm (Name geändert) ist ein überaus besonnener Mensch. Wenn er von den schwerwiegenden Ereignissen aus seinem Leben erzählt, tut er dies nicht leichtfertig, sondern wie einer, der sich der Konsequenzen seiner Aussagen bewusst ist. Der 51-jährige Elektromonteur aus Würenlos AG weiss auch, dass man über eine verstorbene Person nicht nachteilig reden sollte schon gar nicht, wenn es sich um einen Familienangehörigen handelt.
Doch mit dieser Anstandsformel kämpft Heinz Kamm seit über 20 Jahren. Denn der Verstorbene, über den er nichts Erfreuliches erzählt, war nicht nur sein Schwager, sondern nach Kamms Vermutung auch in den Mord an der zwölfjährigen Ruth Steinmann verwickelt, deren Leiche am 16. Mai 1980 im Waldstück «Chefihau» bei Würenlos gefunden wurde (siehe Artilkel zum Thema: «Werner Ferrari: Der Mord an Ruth in neuem Licht»).
Das Verbrechen an Ruth war der Auftakt zu einer Reihe von elf rätselhaften Kindsentführungen und Kindermorden, die eine der grössten Fahndungsaktionen in der schweizerischen Kriminalgeschichte auslöste. Die Serie endete erst, als am 30. August 1989 in Solothurn der damals 43-jährige Hilfsarbeiter Werner Ferrari verhaftet werden konnte. Nachdem dieser in vier Fällen Geständnisse abgelegt hatte, die er später widerrief, wurde er Anfang Juni 1995 vom Bezirksgericht Baden wegen fünffachen Kindsmords zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.
Zu den Morden, für die Ferrari verurteilt wurde, zählte auch das Verbrechen an Ruth. Eine Tat, die er seit seiner Verhaftung vehement bestreitet und von der er auch heute noch sagt: «Für den Tod dieses Mädchens war jemand anderer verantwortlich.»
Zweifelhafte Zeugenaussagen
Gegen Ferrari sprachen im Fall Ruth ausschliesslich Indizien, und die bedeutsamsten beruhten nur auf Aussagen von Augenzeugen. Zu diesen gehörten auch die Eltern des Opfers. Als sie sich an jenem 16. Mai 1980 nach 18 Uhr auf die Suche nach ihrer Tochter machten, die nicht wie vereinbart zu Hause eingetroffen war, entdeckten sie im Waldstück «Chefihau» bei Würenlos ein Moped der Marke Caravelle, das ein gelbes Kennzeichen mit der Aufschrift «AG 80» hatte.
Ferrari war Mopedfahrer. Allerdings behauptete er, immer nur Fahrzeuge der Marke Puch besessen zu haben. Zudem wohnte er in Regensdorf, so dass das Kennzeichen seines Mopeds keine Aargauer, sondern eine «ZH»-Nummer aufwies. Das Caravelle-Moped, das die Eltern Steinmann gesehen hatten, konnte trotz einer gross angelegten polizeilichen Suchaktion nie gefunden werden. Derweil fuhr Ferrari jedoch mit seinem Moped nachweislich jeden Tag zur Arbeit.
Als Felix Steinmann bei der Suche nach seiner Tochter erneut zum «Chefihau» gelangte, sah er aus einer Entfernung von rund 50 Metern, wie ein Mann mit dem Moped aus dem Wald kam. «Es handelte sich um einen schlanken, etwa 20-jährigen Burschen», gab er der Polizei zu Protokoll, «mit braunen, vorne etwas abstehenden Haaren. Er trug eine Brille und eine braune Lederjacke. Weil ich unschlüssig war, wie ich mich dem Unbekannten gegenüber verhalten sollte, hielt ich für einen Augenblick an. Als ich wieder zu laufen begann, wendete er sein Fahrzeug, richtete mit der Hand die Haare und fuhr in entgegengesetzter Richtung davon.»
Als der «Blick» am 20. September 1989 erstmals ein Foto des verhafteten Werner Ferrari veröffentlichte, glaubte Steinmann den Mann wiederzuerkennen, den er neun Jahre zuvor beim «Chefihau» wegfahren sah. Auf dem Bild trug Ferrari einen markanten Schnauzbart. Einen solchen trägt er seit seinem 20. Lebensjahr, doch in der Beschreibung des Vaters fehlte dieser unübersehbare Hinweis. Im Prozess gegen Ferrari schloss Steinmann denn auch nicht aus, dass er hinsichtlich der Wiedererkennung Ferraris vielleicht «einer Projektion» unterlegen sei.
Beim zweiten Augenzeugen handelte es sich um den Nachtwächter Emil Zuber (Name geändert). Dieser sah gegen 21 Uhr des Tattages, wie ein Unbekannter an der Riedthofstrasse in Regensdorf eine braune Lederjacke wegwarf. Zuber beschrieb den Unbekannten «als 20- bis 23-jährigen, schlanken Mann, der eine Brille trug». Einen Schnauzbart hatte er beim Unbekannten jedoch ebenso wenig ausmachen können wie Steinmann.
Ferrari bestritt hartnäckig, jemals eine braune Lederjacke besessen zu haben. Ob ihm die sichergestellte Jacke gehörte, konnte vor Gericht nicht bewiesen werden. «Als Ferrari im Gerichtssaal die gefundene Lederjacke probeweise anziehen musste», sagt sein damaliger Verteidiger Martin Ramisberger, «stellte sich heraus, dass sie ihm viel zu gross war.»
Mofa «wie ein Irrer gereinigt»
Fiel Werner Ferrari einer Verwechslung zum Opfer? Hatte er einen Doppelgänger? Heinz Kamm ist nicht erst seit heute überzeugt, dass dem so war. Denn sein Verdacht, dass sein damals 28-jähriger Schwager Jürg Bär (Name geändert) mit dem Mord etwas zu tun haben könnte, wurde nach dem Verbrechen nicht nur durch zahlreiche Indizien genährt, sondern auch durch den Umstand, dass Bär Ferrari zum Verwechseln ähnlich sah. Einziger Unterschied: Er war grösser als Ferrari, und er trug keinen Schnauzbart.
Gemäss Aussagen von Heinz Kamm fuhr Bär, der 1980 nur drei Kilometer vom Waldstück «Chefihau» entfernt wohnte, ein Moped der Marke Caravelle. Sowohl Kamm wie Bärs damalige Ehefrau Heidi sagen übereinstimmend, dass Bär das Moped nach Bekanntwerden des Verbrechens «wie ein Irrer gereinigt hat, wobei er sogar die Reifen mit einer Stahlbürste säuberte».
Bär soll gemäss Kamm auch eine braune Lederjacke besessen sowie eine ähnliche Frisur wie Ferrari und praktisch dieselbe Brille getragen haben. Zudem sei es «ein Tick von Jürg gewesen, sich jeweils mit der Hand die Frisur zu richten».
«Am Abend des Tattages», erinnert sich Kamm, «kam Jürg verspätet nach Hause und wirkte völlig aufgebracht. An seinem Arm wies er eine frische Bisswunde auf, die ihm von meiner Schwester verbunden werden musste. In den folgenden Wochen wirkte er nervös, unzugänglich und depressiv und nahm häufig Beruhigungstabletten. Als ich ihn in unserem Hobbyfotolabor, das wir in meiner Wohnung eingerichtet hatten, einmal auf den Fall Ruth ansprach, brummelte er vor sich hin Das habe ich nicht gewollt und Weshalb müssen die Weiber auch nur immer schreien?. Ich wusste, dass Jürg eine Vorliebe für junge Mädchen hatte, und es war mir auch bekannt, dass er sich an meiner minderjährigen Schwester sexuell vergriffen hatte. Anfang 1980 erzählte mir Jürg, wie er auf dem Schulhausplatz in Baden ein Mädchen kennen lernte und dieses unter dem Vorwand, ihm zahme Rehe zeigen zu wollen, mit in den Wald genommen habe.»
«In unserem Fotolabor», führt Heinz Kamm weiter aus, «entdeckte ich eines Tages Pornohefte, die Jürg dort versteckt hatte, und es fiel mir auch auf, dass er seltsame Fotomontagen mit Kinderfotos anfertigte. Als ich ihn einmal auf die Pornohefte ansprach, erklärte er mir, er habe Schwierigkeiten mit Frauen.»
Kamms Familie brachte den Mord an Ruth bald mit Jürg Bär in Verbindung. «Wir beschlossen», so Kamm, «dem Vater des Opfers einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben.» Ein Familienmitglied habe sich deshalb zum Bezirksschulhaus von Wettingen aufgemacht, um Felix Steinmann, der dort als Rektor amtierte, einen Umschlag mit Fotos von Jürg Bär zu überbringen. Mit den Worten «Der könnte es gewesen sein» händigte die Person den Umschlag aus und liess den verdutzten Vater stehen.
Über Bär existiert keine Akte
Weil er nachhaltig unter dem Tod seiner Tochter litt und seine Familie immer wieder von Pendlern, Hellsehern, anonymen Anrufern und «Trittbrettfahrern» behelligt wurde, schenkte Steinmann dem Zwischenfall keine Beachtung. Eine Unterlassung, die er heute sehr bedauert.
Erst nachdem am 20. März 1982 im luzernischen Gettnau die achtjährige Rebecca Bieri entführt und ermordet worden war, meldete sich Kamm auf dem Polizeiposten in Baden.
«In der Folge liess man uns wissen, dass Jürg aufgrund der Hinweise meines Bruders polizeilich überprüft worden sei», sagt die damalige Ehefrau von Jürg Bär. Und Heinz Kamm erinnert sich: «Das abgegebene Foto wurde, mit einem Eingangsstempel der Polizei auf der Rückseite versehen, wenig später per Post meiner Schwester zugestellt.»
Seltsamerweise findet sich in den Polizei- und Gerichtsakten zum Fall Ruth kein einziger Hinweis darauf, dass Jürg Bär tatsächlich polizeilich überprüft worden war. Sein Name taucht weder unter den Verdächtigten auf, noch gibt es eine Aktennotiz oder ein Einvernahmeprotokoll, die auf Kamms brisante Aussagen hindeuten. Seine Hinweise wurden offenbar auch nicht dem für den Mordfall Steinmann zuständigen Aargauer Kripo-Chef Urs Winzenried weitergeleitet. Angesichts des landesweiten Aufsehens, das die Morde an Ruth Steinmann und Rebecca Bieri ausgelöst hatten, ist es schlicht undenkbar, dass Winzenried Kamms Aussagen nicht hätte überprüfen lassen.
Trotz dem angeblich negativen Bescheid der Polizei hielten sich die Mutmassungen in der Familie Kamm hartnäckig. «Jürg wurde ganz offen der Tat bezichtigt», erinnert sich seine damalige Ehefrau Heidi. «Dazu gab auch sein Verhalten Anlass. Er war ein eigenartiger, komischer Kerl, der psychische Probleme hatte, zeitweilig unter Depressionen litt und oft kritische Phasen durchlebte.»
Freitod aus Schuldgefühlen?
1983 zügelte Bär in den Kanton Appenzell und beging Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief verweist er explizit auf das Verbrechen an Ruth, lässt aber offen, ob er der Täter war oder nicht. Seinen Freitod begründet er damit, dass er den auf ihm lastenden Verdacht nicht mehr aushalte.
Obwohl die Summe der Indizien im Mordfall Ruth Steinmann eher auf Jürg Bär hinweist als auf Werner Ferrari, gilt auch für den Verstorbenen die Unschuldsvermutung. Ob der von seiner Familie Verdächtigte etwas mit dem Verbrechen zu tun hatte, liesse sich mit einer DNA-Analyse nachweisen. Denn auf Ruths Leiche war ein Schamhaar sichergestellt worden, das gemäss dem Wissenschaftlichen Dienst der Stadtpolizei Zürich «dem Täter zugeordnet werden muss».
Fest steht, dass dieses Haar nicht von Ferrari stammt. Voraussetzung für einen Test wäre, dass sich Bärs Bruder für eine Vergleichsprobe zur Verfügung stellen würde. Doch Herbert Bär (Name geändert) weigerte sich bislang hartnäckig. Eigenartigerweise scheint er kein Interesse daran zu haben, seinen Bruder mit einem DNA-Test zu entlasten.
Sollte das Obergericht des Kantons Aargau, das über das im August 2002 von Werner Ferrari angestrengte Wiederaufnahmeverfahren im Fall Steinmann zu befinden hat, eine Revision gutheissen, wer-den sich die Strafverfolgungsbehörden mit den Aussagen Kamms befassen müssen. Dies umso mehr, als seine Hinweise auch die Aussagen einer Augenzeugin untermauern, die sich Anfang 2000 bei der Opferhilfe Aarau gemeldet und behauptet hatte, als damals zwölfjähriges Mädchen beim Mord an Ruth Steinmann als Lockvogel für die Täterschaft gedient zu haben.
Die heute 35-jährige Hanna Utz (Name geändert), eine ehemalige Schulkameradin von Ruth, sagte damals aus, dass zwei Männer an der Tat beteiligt gewesen seien, wovon es sich beim einen um Ferrari gehandelt habe. Dem hält Ferraris Verteidiger Patrick A. Schaerz entgegen: «Ein Täter stellt sich bei seinem Opfer oder anderen bei der Tat anwesenden Drittpersonen, die als Belastungszeugen wirken könnten, wohl kaum mit seinem eigenen Namen vor. Viel wahrscheinlicher ist, dass Hanna Utz den Namen Ferrari gar nicht wusste, sondern ihn auf einer in den Medien veröffentlichten Fotografie erkannte beziehungsweise wegen der frappanten Ähnlichkeit mit dem Täter verwechselte.»
Herauszufinden, ob Ferrari von Hanna Utz allenfalls mit Bär verwechselt worden war, wäre Aufgabe neuer Ermittlungen durch die Aargauer Kripo. Doch bis zum ausstehenden Revisionsentscheid des Obergerichts sind ihr die Hände gebunden. Denn Anfang Mai 2000 verfügte Erich Kuhn, der Erste Staatsanwalt des Kantons Aargau, dass aufgrund des rechtskräftigen Urteils gegen Ferrari nicht neu ermittelt werden dürfe.
Weitere ungelöste Mordfälle
Nichtsdestotrotz machte die Aargauer Kripo Hintergrundabklärungen. So wurde Hanna Utz am 9. Mai 2000 von einer Polizeiassistentin befragt, und am 15. Juni 2000 rief sie von sich aus einen Kripo-Sachbearbeiter an. In beiden Gesprächen dementierte Utz ihre gegenüber der Opferhilfe gemachte Aussage nicht. Vielmehr erklärte sie dem Sachbearbeiter, dass sie sich an Ruths Tod mitschuldig fühle und noch immer Angst vor der Reaktion von Ruths Eltern habe. Im Übrigen habe sie sich «definitiv entschlossen, gegenüber der Polizei keine weiteren Aussagen zu machen».
Im Gegensatz zu den Aargauer Behörden haben diejenigen der Kantone Zürich und Luzern ein Interesse daran, neue Ermittlungen einzuleiten. Denn in beiden Kantonen liegen ungelöste Kindermordfälle aus der Ferrari zugeschriebenen Serie vor: das Verbrechen an Rebecca Bieri im Jahr 1982 in Gettnau LU sowie die Entführung der siebenjährigen Loredana Mancini in Spreitenbach AG, deren sterbliche Überreste im Herbst 1983 im zürcherischen Rümlang gefunden wurden.
Zunächst soll nachgeholt werden, was die Aargauer Kripo verpasste: Das DNA-Profil des auf der Leiche von Ruth gefundenen Schamhaars soll nicht nur mit jenem von Jürg Bär verglichen werden, sondern zusätzlich mit allen anderen Profilen, die bislang auf der zentralen Polizeidatenbank gespeichert wurden. «Wir bleiben es den Eltern schuldig, alles zu unternehmen, um herauszufinden, wer der Mörder ihrer Tochter war», sagt der Luzerner Kripo-Sachbearbeiter Josef Emmenegger.
Und auch der Zürcher Staatsanwalt Ulrich Weder, der für den ungeklärten Mordfall Loredana Mancini zuständig ist, macht klar: «Diese Akte wird erst geschlossen, wenn die Täterschaft ermittelt ist.»
Buchtipp
Peter Holenstein:
«Der Unfassbare. Das mörderische Leben des Werner Ferrari.»
Oesch-Verlag, Zürich 2002, 36 Franken