«Behandelt wie Schwerverbrecher»
Wenn sich Jugendliche draussen treffen, ist die Polizei oft nicht weit. Regelmässiges «Filzen» soll Junge erziehen. Ist das überhaupt rechtens?
Veröffentlicht am 25. November 2014 - 11:11 Uhr
Stellen Sie sich vor, Sie treffen sich mit Freunden am Bahnhof. Sie unterhalten sich angeregt. Plötzlich fährt ein Kastenwagen der Polizei vor, die Beamten kreisen Sie ein und wollen die Ausweise sehen. Sie werden abgetastet und aufgefordert, den Inhalt von Hand- und Manteltaschen auf dem Boden auszubreiten. Auf die Frage nach dem Warum heisst es: «Routinekontrolle.»
Stellen Sie sich vor, das passiert Ihnen regelmässig, wenn Sie in der Stadt unterwegs sind oder am Mittag im Park ein Sandwich essen.
Seit 1999 wird die Zahl der Strafurteile gegen Minderjährige erhoben. Nach einer Spitze im Jahr 2010 sinkt die Anzahl straffälliger Jugendlicher stetig.
unter 15-Jährige
15- bis 17-Jährige
Für viele Jugendliche ist genau das die Realität. «Wir werden jedes Wochenende gefilzt», sagt Albin*. Der 17-jährige Lehrling wohnt in Bülach ZH, ist sportlich und hat einen grossen Freundeskreis. Für die Polizeikontrollen gibt es laut Albin keinen Anlass: «Wir unterhalten uns draussen auf dem Trottoir oder setzen uns irgendwo hin, um zu quatschen. Dann kommen sie.» Gemäss Albin bleibt es nicht immer beim Abtasten. «Es ist schon vorgekommen, dass ich und meine Freunde im Winter in T-Shirt und Unterhosen dastanden, bis die Beamten überzeugt waren, dass wir nichts Illegales bei uns haben.»
Den 16-jährigen Matthias* erwischte es kürzlich am helllichten Tag. Der Zürcher Gymnasiast hatte eine Freistunde und spazierte mit einem Freund durch die Stadt. Zwei Beamte hielten sie auf: «Müsstet ihr nicht in der Schule sein?» Die Erklärung, es sei eine Stunde ausgefallen, genügte den Polizisten nicht. Sie verlangten die Ausweise und durchsuchten die beiden mitten in der Stadt komplett. Matthias ist geschockt und verunsichert. «Dürfen die das überhaupt?», fragt er.
«Grundsätzlich muss jedermann jederzeit damit rechnen, von der Polizei kontrolliert zu werden», sagt Urs Wigger, Mediensprecher der Luzerner Polizei. Erwachsene genauso wie Jugendliche. Weniger das Alter als der Ort des Aufenthaltes entscheide, wer überprüft werde. Die Polizei sei an gewissen Brennpunkten stark präsent; «dass sich dort nicht selten Jugendliche und junge Erwachsene aufhalten, liegt in der Natur der Sache».
Ähnlich klingt es in Bülach: «Innerhalb unseres Einsatzgebietes halten sich Jugendliche oft in Gruppenstärke in Pärken, Spielplätzen oder Bahnhöfen auf», schreibt Roland Engeler, Chef der dortigen Stadtpolizei. Das führe zu Reklamationen der Anwohner. Die Polizei trete dann oft in der Rolle als «Eltern» auf und erkläre den Jugendlichen Botschaften wie Rücksichtnahme oder das richtige Verhalten im öffentlichen Raum.
*Name geändert
Beides, vermutet Engeler, bekämen die Jugendlichen zu Hause vielfach zu wenig vermittelt. Ob es bei einer Personenkontrolle bleibe oder ob auch die «Effekten» kontrolliert würden, entscheide die Polizei vor Ort. Dass Jugendliche die Kontrollen als ungerecht oder zumindest unangenehm empfinden, kann Engeler nachvollziehen. Daher sei es wichtig, dass die Polizei ihnen den Grund für die Kontrolle immer erkläre. Tatsächlich reicht bei Eingriffen in die Privatsphäre wie Abtasten oder Durchsuchen die Erklärung «Routine» nicht. Es müsste ein klarer Verdacht auf Unregelmässigkeiten bestehen (siehe «Verhalten bei der Polizeikontrolle», Seite 54).
Für Schlagzeilen sorgte kürzlich das Vorgehen der Polizei in Bern: Jugendliche Aktivistinnen und Aktivisten, die zuvor gegen die Miss-Schweiz-Wahl protestiert hatten, wurden auf der Wache gezwungen, sich nackt auszuziehen. Die Verhältnismässigkeit der Anordnung wird nun untersucht. Die Jugendlichen sprechen von einer «Machtdemonstration».
«Wenn du zum ersten Mal in eine Polizeikontrolle kommst, erschrickst du extrem», sagt Linus*. Der 20-Jährige studiert in Zürich. Auch er erzählt, er sei wiederholt kontrolliert worden. «Das Schlimme ist die Ohnmacht. Du hast überhaupt keinen Einfluss darauf, ob dir das passiert oder nicht. Wie immer du dich verhältst, sie ziehen das durch.» Das habe etwas Verletzendes, findet Linus. «Ich habe nichts Illegales getan und werde behandelt wie ein Schwerverbrecher. Warum?»
Ähnlich klingt es bei Mario*. Der 17-Jährige aus Luzern erzählt, er werde praktisch jedes Wochenende kontrolliert. Grundlos, wie er sagt. «Ich vermute, das passiert nicht, weil wir konkret etwas getan haben könnten, sondern einfach, weil wir jung sind und schwarze Haare haben.»
Heiner Busch, Politologe und Mitarbeiter von Solidarité sans frontières, zieht ähnliche Schlüsse. Er verweist auf eine Studie aus Frankreich aus dem Jahr 2009, wonach «sichtbare Minderheiten» – insbesondere Dunkelhäutige, aber auch weisse Jugendliche, die sich subkulturell kleiden – überdurchschnittlich oft in Polizeikontrollen geraten.
Seither fordern in Frankreich Menschenrechtsorganisationen, die Polizei dazu zu verpflichten, den Kontrollierten eine Quittung auszustellen. Ziel ist insbesondere, wiederholte Kontrollen zu verringern. In Grossbritannien protokolliert die Polizei sogenannte Stop-and-Search-Aktionen seit längerem. Auch hier stellte man «Racial Profiling» fest: Schwarze oder asiatische Menschen (und dabei besonders männliche Jugendliche) wurden deutlich öfter kontrolliert als andere.
In der Schweiz geht die Jugendkriminalität seit Jahren zurück. Laut der aktuellen Statistik des Bundes wurden 2012 7,1 Prozent weniger Jugendliche verurteilt als im Vorjahr, 2011 waren es sogar minus 11,2 Prozent; zwischen 2010 und 2013 ist die Zahl der verurteilten Jugendlichen um 20 Prozent gesunken, während die Zahl der Urteile gegen Erwachsene im selben Zeitraum um 9 Prozent stieg. Ebenfalls zeigt die Erhebung, dass Jugendliche hauptsächlich wegen geringfügiger Delikte wie Ladendiebstahl oder Sachbeschädigungen angezeigt wurden.
«Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass Personenkontrollen grundsätzlich dazu dienen, Verbrechen aufzuklären», sagt der Bülacher Polizeichef Roland Engeler. Sie seien auch dazu da, Ruhe und Ordnung zu gewährleisten. «Die Kontrollen sorgen zum Beispiel dafür, dass der Pausenplatz am nächsten Tag nicht vom Hauswart gereinigt werden muss und dass die Anwohner ihre wohlverdiente Nachtruhe geniessen können.» Diese Strategie zeigt Wirkung – vielleicht mehr, als es wünschbar ist. «Man beobachtet vielerorts, dass sich die Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum zurückziehen», sagt Ivica Petrusic, Jugendbeauftragter des Kantons Zürich. Die häufigen Kontrollen durch die Polizei und Wegweisungen durch private Sicherheitsfirmen seien ein wesentlicher Faktor für den Rückzug – Petrusic spricht von «Vertreibung» und «fürsorglicher Belagerung» der Jugendlichen.
Zu deren Akteuren zählt er selbstkritisch auch die Jugendarbeit, die an bevorzugten Treffpunkten tätig wird. «Politik und grosse Teile der Gesellschaft nehmen Jugendliche heute hauptsächlich als Sicherheitsrisiko wahr», sagt er. Entsprechend hoch sei die Bereitschaft, Ressourcen für deren Überwachung einzusetzen.
Deren Auswirkungen hält Petrusic für gefährlich: «Jugendliche brauchen Freiräume und die Auseinandersetzung mit Erwachsenen – nicht nur mit der Polizei.» Je weniger Begegnungen zwischen den Generationen stattfänden, umso mehr schwinde beidseits das Verständnis. Petrusic wünscht sich mehr Leute, die den Mut haben, das Gespräch zu suchen, ebenso eine öffentliche Hand, die Begegnungen fördert und nicht nur dafür sorgt, dass alte und junge Menschen nicht miteinander konfrontiert werden. «Warum sollen Jugendliche einer alten Frau helfen, die gestürzt ist, wenn sie Ältere nur noch als jene kennen, die die Polizei rufen?»
Und: «Warum sollen sich diese jungen Menschen später für einen Staat verantwortlich fühlen, der ihnen jahrelang das Gefühl gegeben hat, dass sie unerwünscht sind?»
Grundsätzlich besteht in der Schweiz keine Ausweispflicht. Allerdings lohnt es sich, einen Ausweis immer auf sich zu tragen. Wer ohne unterwegs ist, riskiert, zur Abklärung der Identität auf den Polizeiposten mitgenommen zu werden.
Taschenkontrollen (bei begründetem Verdacht auch Hosentaschen) und Abtasten sind erlaubt. Auch ein Blick in den Mund darf verlangt werden. Allerdings darf dies alles nicht mit «Routine» begründet werden – es muss ein konkreter Tatverdacht vorliegen, etwa Besitz von Waffen oder Drogen. Das Ausziehen in der Öffentlichkeit ist nur dann gestattet, wenn Gefahr für Leib und Leben besteht. Nur medizinisches Personal darf Körperöffnungen durchsuchen. Dabei auf gleichgeschlechtliches Personal bestehen!
Grundsätzlich gilt: Respekt und Anstand wahren. Es empfiehlt sich, auch bei als unangemessen empfundenen Kontrollen zu kooperieren. Wer sich wehren will: ein Erinnerungsprotokoll schreiben. Mittlerweile ist es in vielen Kantonen gesetzlich vorgeschrieben, dass uniformierte Beamte bei Einsätzen ein Namensschild tragen. Wo das nicht der Fall ist, müssen Beamte ihren Namen nennen. Das Protokoll sollte alle wichtigen Daten zum Vorfall enthalten: Namen der Polizisten, Ort, Datum, Zeit der Kontrolle und Adressen von allfälligen Zeugen. Beschwerden sind beim Polizeikommando oder, wo vorhanden, bei der Ombudsstelle einzureichen.