Der Bundesrat setzt das revidierte Sexualstrafrecht per 1. Juli 2024 in Kraft. Béatrice Müller, Opferanwältin aus Basel, kommentiert für den Beobachter sechs zentrale Änderungen.

Vergewaltigung

Bislang musste eine Drohung oder Gewalt vorliegen, um einen Übergriff als Vergewaltigung einzuordnen. Zudem galt nur «vaginale Penetration» gegen den Willen einer Betroffenen als Vergewaltigung. 

Durch die «Nein heisst nein plus»-Regelung ändert sich das. «Neu gelten neben dem ungewollten Beischlaf auch beischlafähnliche Handlungen als Vergewaltigung», erklärt Béatrice Müller. Dabei ist wesentlich, dass die betroffene Person zum Ausdruck bringt, dass sie keinen Beischlaf oder keine beischlafähnlichen Handlungen will.

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Bislang war im Gesetz nur von weiblichen Opfern die Rede. «Doch auch Personen anderen Geschlechts können vergewaltigt werden», sagt Anwältin Müller. «Die Dunkelziffer im homosexuellen Bereich ist wahrscheinlich hoch – und ich hoffe, dass das revidierte Gesetz hier für mehr rechtlichen Schutz sorgen kann.»

Freezing

Das neue Gesetz berücksichtigt, dass sich Opfer von Vergewaltigungen nicht immer körperlich oder mit Worten wehren können, sondern in eine Schockstarre verfallen. Das wird Freezing genannt. Gerichte können künftig einen solchen Schockzustand des Opfers ebenfalls als Ablehnung werten, also als Nein.

«Die Beweislage vor Gericht bleibt schwierig», sagt Müller. Viele Sexualdelikte sind sogenannte Vieraugendelikte. «Es wird interessant zu sehen sein, wie die Gerichte ein Nein und mithin die neue gesetzliche Grenze zu einer Vergewaltigung auslegen. Reicht es zum Beispiel, den Kopf wegzudrehen?» 

Anwältin Müller weist darauf hin, dass mit der neuen Gesetzeslage die Befragungen der Opfer, etwa durch Polizei und Staatsanwaltschaft oder Ärztinnen, noch wichtiger werden. «Auch wenn es schmerzhaft ist: Vor Gericht spielt bei solchen Delikten eine grosse Rolle, wie etwas genau passiert ist. Wie wurde das Nein genau geäussert? Darüber werden wir sprechen müssen.»

Rachepornografie

Eine 13-Jährige will ihrem Freund gefallen und schickt ihm ein Video, in dem sie sich selbst befriedigt. Die Beziehung geht in die Brüche. Der Junge ist verletzt, er schickt das Video der halben Schulklasse weiter. 

Wer ohne Einverständnis private Text-, Ton- und Bildaufnahmen mit sexuellem Inhalt weiterleitet, macht sich neu strafbar. Das regelt der neue Artikel zur Rachepornografie («revenge porn»). Allerdings wird sie nur verfolgt, wenn Strafantrag gestellt wird. 

Wichtig zu wissen, sagt Müller: Der Strafantrag muss innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Kenntnis der Weiterverbreitung gestellt werden.   

Prävention durch verpflichtende Lernprogramme

Bei Delikten gegen die sexuelle Integrität kann jetzt verpflichtend ein Lernprogramm angeordnet werden. Das gilt nicht nur für Vergewaltigung, sondern allgemein für Delikte gegen die sexuelle Integrität. Anwältin Müller: «Leider gibt es immer noch zu wenig Angebote. Die Kantone hinken beim Auf- und Ausbau der Lernprogramme hinterher.» 

Sexuelle Handlungen an Kindern sind immer strafbar

Nach dem revidierten Gesetz werden sexuelle Handlungen an Kindern auch dann strafrechtlich verfolgt, wenn eine Ehe vorliegt. «Ein ganz wichtiger Schritt gegen Kinderehen», sagt Béatrice Müller, «da hat die Schweiz viel zu lange weggesehen.»

Stealthing

Dieser Tatbestand ist neu, er gilt auch bei einvernehmlichem Sex. Stealthing bedeutet, dass eine beteiligte Person heimlich und ohne vorheriges Einverständnis der anderen Person das Kondom entfernt oder gegen den Willen des Sexualpartners von Anfang an keines benutzt.