Susanna Niederer, 35, IBM-Accountmanagerin (Bild), kennt weder geregelte Arbeitszeiten noch einen festen Arbeitsplatz. «Ich bin nie mehr als anderthalb Tage pro Woche im Büro», sagt die Verkaufsberaterin. Drei Tage arbeitet sie in der Regel bei Kunden, den Rest der Woche zu Hause. «Ich komme insgesamt auf deutlich mehr als 40 Stunden», sagt sie. Eine wichtige E-Mail beantwortet sie schon mal nachts um zwölf; morgens beginnt sie ab und zu noch im Pyjama mit der Arbeit. «Dafür gehe ich am Nachmittag kurz joggen. Wichtig ist, eine Balance zwischen Arbeit und Freizeit zu finden», erklärt sie.

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Dank Natel und Organizer ist Susanna Niederer stets erreichbar. An ihrem Arbeitsplatz gilt Desk-Sharing: Sie hat ihre Arbeitsutensilien in einem Rollwagen verstaut, mit dem sie zu einem freien Pult kurvt, wo sie sich einloggt. So wie Niederer arbeiten rund 1000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von IBM Schweiz.

Allerdings hat solche Flexibilität im Schweizer Arbeitsalltag Seltenheitswert. Zwar ist unbestritten, dass viele Jobs sich nicht zu Hause im Pyjama erledigen lassen. Aber die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen auch gar nicht aus dem gewohnten Trott ausbrechen.

Das zeigen die Mitarbeiter der Bundesverwaltung. Ihre volle Arbeitszeit beträgt 42 Stunden, doch sie können unter zwölf Varianten wählen: von 40 Stunden und 96 Prozent Lohn bis zu 44 Stunden mit 104 Prozent Lohn (oder mehr Ferientagen). Fast 14000 der rund 25000 Mitarbeiter bleiben bei der vertrauten 42-Stunden-Woche. Die zweitgrösste Gruppe, rund 6000 Angestellte, arbeitet 43 Stunden und bezieht zusätzliche Freitage.

Arbeitsethos und Alltagstrott

Das schwache Interesse an kürzeren oder auch nur flexibleren Arbeitszeiten deckt sich mit den Erfahrungen von Coop Schweiz. Der Grossverteiler hatte für einen Teil seiner 45000 Mitarbeiter ein Jahresarbeitszeitmodell entwickelt. Es sah eine längere Präsenz vor, wenn das Geschäft läuft, und eine kürzere in flauen Zeiten. Coop hat das Modell wieder fallen lassen – mangels Interesse der Mitarbeiterinnen.

Das überrascht Gudela Grote, Professorin am Institut für Arbeitspsychologie an der ETH Zürich, überhaupt nicht. «Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und weiss die neuen Freiheiten nicht zu geniessen. Man setzt sich halt trotzdem jeden Tag um 7.30 Uhr ins Auto und gerät in den Stau, statt etwas zu ändern.»

In diesen Trott platzt nun der Schweizerische Gewerkschaftsbund mit einer Initiative, die gleich einen Quantensprung anpeilt: Die Jahresarbeitszeit soll um fast 400 Stunden auf 1872 gesenkt werden, was der 36-Stunden-Woche entspricht. Löhne bis zu 7600 Franken würden dabei nicht gekürzt werden.

Gewerkschaftssekretär Rolf Zimmermann gerät ins Schwärmen, wenn er die Vorteile der Initiative hervorhebt: Dadurch würden Jobs geschaffen, und mit neuen Arbeitszeitmodellen könnten die Firmen die Produktivität erhöhen. Gewinner wären die jungen Väter und Mütter: Sie könnten sich mehr um ihre Kinder kümmern. Zimmermann fügt allerdings hinzu: «Realistisch kann man nicht mit einem Erfolg der Initiative rechnen.»

Dabei hinkt die Schweiz bei der Verkürzung der Arbeitszeit seit fünfzig Jahren den anderen europäischen Staaten hinterher. Gegenwärtig arbeiten Schweizerinnen und Schweizer durchschnittlich 41,8 Stunden pro Woche; nur noch die Briten sind fleissiger.

Warum ist die Lust an der Arbeit in der Schweiz stärker ausgeprägt als im Ausland? Die Zürcher Historikerin Christine Luchsinger erklärt das Phänomen zum Teil mit der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Schweizer Wirtschaft erlebte einen noch nie da gewesenen Aufschwung; auch Arbeiter und Angestellte profitierten in Form von rapide steigenden Löhnen. Lange Arbeitszeiten konnten sie verkraften; die Frauen sorgten für Haushalt und Kinder. «In keinem Land wurden die Frauen ähnlich konsequent von der bezahlten Arbeit fern gehalten wie in der Schweiz», sagt Christine Luchsinger.

Wohl ebenfalls eine schweizerische Spezialität ist es, langes Arbeiten zur Tugend zu erklären. Arbeitspsychologin Gudela Grote drückt das so aus: «Einer der Slogans gegen die Initiative lautet ja ‹Müssiggang ist aller Laster Anfang›.»

Doch es gibt Wege, die Arbeitszeit zu verkürzen, ohne das Image des fleissigen Schweizers anzutasten. So diskutiert die Gewerkschaft Bau und Industrie mit dem Baumeisterverband über ein Pensionsalter von 60 Jahren. Auch Credit Suisse und UBS mit je über 20000 Beschäftigten haben die Lebensarbeitszeit mittels früherer Pensionierung gesenkt. Credit Suisse schickt das Personal mit 63 in Pension, die UBS mit 62. Beide richten Zusatzrenten bis zum AHV-Alter aus. Die Mitarbeiter von ABB Schweiz hingegen können Zeitguthaben ansparen. Um Produktionsspitzen abzufedern, wurde die Jahresarbeitszeit eingeführt. Ziel ist hier, den Saldo bis Jahresende auszugleichen. Ist dies aus betrieblichen Gründen nicht möglich, können die Arbeitnehmer ihr Guthaben für Urlaube, Weiterbildung oder die vorzeitige Pensionierung verwenden.

Teilzeit bremst den Aufstieg

Ansonsten stellen sich viele Firmen schon dann ein gutes Zeugnis aus, wenn sie Teilzeitarbeit kennen. Wobei Teilzeitbeschäftigte aber mit der Karriere ihre Mühe haben. Dazu Peter Dachler, Professor für Organisationspsychologie an der Hochschule St. Gallen: «In der Schweiz herrscht immer noch die traditionelle, männliche Vorstellung, nur Ganzzeitjobs seien für Kaderstellen und Karrieren gut.»

Ausgerechnet den als verkrustet verschrienen SBB blieb es vorbehalten, die Schallgrenze von 40 Wochenstunden als Erste zu durchbrechen. Seit Mitte 2000 arbeiten 28000 Bähnler nur noch 39 Stunden. Die Schwierigkeiten blieben nicht aus: Lokführer fehlen an allen Ecken und Enden. Obwohl der Zusatzverkehr während der Expo diesen Engpass noch verschärfen wird, soll an der 39-Stunden-Woche nicht mehr gerüttelt werden. Für die zweite Jahreshälfte steht gar eine Weiterentwicklung an, das so genannte Breitbandmodell. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen ihre Arbeitszeit zwischen 36 und 42 Stunden selbst wählen können, wobei 39 Stunden als 100-Prozent-Pensum gelten.

Die SBB werden in Sachen Arbeitszeitverkürzung wohl bis auf weiteres Spitzenreiter bleiben. Eine generelle Senkung auf 36 Stunden ist derzeit nicht mehrheitsfähig. Denkbar ist, dass über die Einführung der 40-Stunden-Woche in einigen Branchen neu verhandelt wird. Auch Gewerkschafter Zimmermann bleibt bescheiden: «Wir hoffen auf einen Achtungserfolg. Das wäre ein positives Signal für Verhandlungen unter den Sozialpartnern.»