«Lass es gut sein, Papa»
Eine junge Frau kommt am Open Air Frauenfeld ums Leben. Niemand sei dafür verantwortlich, urteilen die Gerichte. Damit kann sich ihr Vater nicht abfinden.
Veröffentlicht am 28. Februar 2017 - 10:21 Uhr
Draussen am Grab zeigt Fredi Keller seine milde Seite. Ein selbstvergessenes Lächeln schleicht sich auf sein Gesicht, und sein Blinzeln ist kaum nur auf den beissend kalten Wind zurückzuführen. «Sie war eine ganz spezielle Frau. So fröhlich, so kreativ, so talentiert!»
Der hagere Mann steht dort, wo er seiner Tochter am nächsten ist: neben einem Steinkreis im Rosengarten hinter dem Haus. In jeden der acht Brocken ist ein Buchstabe eingemeisselt. D-E-L-P-H-I-N-E. Die Urne liegt unter dem D.
Delphine Keller war 24, als sie bei Aufräumarbeiten nach dem Open Air Frauenfeld ihr Leben verlor. Sie hatte mit anderen Helfern das Festivalgelände gesäubert und in einem offen stehenden Zelt Schutz vor einem Unwetter gesucht. Doch heftige Böen, Downbursts genannt, rissen den Unterstand aus der Verankerung und machten ihn zur Todesfalle. Die junge Frau wurde von umherfliegenden Teilen getroffen und schwer verletzt. Sie überlebte die Nacht im Spital nicht.
Das war im Sommer 2012. Seither kämpft Fredi Keller dafür, dass jemand für Delphines Tod zur Verantwortung gezogen wird. Das sei doch seine Aufgabe als Vater, ruft der pensionierte Landwirt gegen die Bise – so eindringlich, dass man vermutet: Das musste er schon oft sagen, um sich zu rechtfertigen. «Ich weiss, die anderen denken: Der Bauer da oben, der soll mal Ruhe geben, das macht sein Kind auch nicht wieder lebendig. Aber ich kenne einfach zu viele Hintergründe, deshalb bin ich so geladen.»
Die Milde ist gewichen, jetzt ist Fredi Keller im Feuer.
«Ich kann mich nicht damit abfinden, dass für den Tod meiner Tochter niemand verantwortlich sein soll.»
Fredi Keller, Vater der verunglückten Helferin
Drinnen in der Stube des Bauernhauses im thurgauischen Schweizersholz hat er ausgebreitet, was er zusammengetragen hat über die Umstände, unter denen seine Tochter gestorben ist. Keller tigert von einem Bundesordner zum anderen, sucht Dokumente aus einer Ablagelogik, die nur er kennt. «Das müssen Sie sehen», sagt er, und schon machen seine Gedanken den nächsten Sprung. Keller gräbt ein neues Papier aus. Er überfliegt es über die feine Brille hinweg, bevor er die handgeschriebene Liste mit 13 Stichwörtern zeigt. Mit Leuchtstift hat er die besonders wichtigen markiert – es sind alle. «Kein Sicherheitskonzept!», steht da etwa. «Keine Instruktionen!», «Kein Wetteralarm!».
Auf diesen Punkten gründete die Strafklage wegen fahrlässiger Tötung, die die Staatsanwaltschaft Frauenfeld – mit dem Ehepaar Keller als privaten Nebenklägern – 2014 gegen den Bauchef des Open Airs erhob. Ebenfalls angeklagt war der Betreuer der ohne Vertrag angestellten, im Stundenlohn bezahlten «Fetzler». Urteilen sollten die Richter letztlich darüber, ob der schwere Sturm vorhersehbar gewesen war und die Helfer vom Gelände hätten abgezogen werden müssen.
«Nicht schuldig», entschied im Dezember 2014 das Bezirksgericht Frauenfeld in erster Instanz. Es war der Argumentation des Verteidigers des Hauptangeklagten gefolgt: «Ein hoffnungsvolles Leben ist durch ein tragisches Unglück ausgelöscht worden, für das niemand verantwortlich ist.»
«Nicht schuldig», bestätigte im Herbst 2015 das Thurgauer Obergericht nach der Berufungsverhandlung. «Das Unwetter ist als derart aussergewöhnliches Ereignis zu qualifizieren, mit dem schlechthin nicht zu rechnen war. Es kann dem Angeklagten deshalb nicht vorgeworfen werden, dass er die Helfer vor dem Abbau nicht über allfällige lokal auftretende Fallböen und unerwartet starke Gewitter instruierte. Es fehlt somit an einer Sorgfaltspflichtverletzung.»
«Nicht schuldig», befand letzten September das Bundesgericht, an das Privatkläger Fredi Keller das Urteil der Vorinstanz weitergezogen hatte. «Trotz den bestehenden Unwetterwarnungen konnte und musste der Bauchef aufgrund seiner Lebenserfahrung und Kenntnisse nicht damit rechnen, dass ein solch aussergewöhnlich heftiger Sturm aufkäme und durch seine Wucht ein Zelt aus der Verankerung heben sowie Bodenplatten mit einem Gewicht von mindestens 500 kg durch die Luft schleudern würde.» Der Todesfall sei «Folge einer äusserst unglücklichen Verkettung von Umständen, die so nicht voraussehbar waren».
Gewundenes Juristendeutsch mit einer unmissverständlichen Botschaft: keine Chance, Fredi Keller.
Der 66-Jährige mit den kurzen grauen Haaren sagt über sich, er sei ein friedliebender Mensch. Dennoch will er nicht klein beigeben, trotz der dreifachen Abfuhr durch die Gerichte. «Ich habe meine Tochter verloren. Und ich soll jetzt einfach alles vergessen und schweigen? Das ist ein Hohn!»
Also zählt er auf, mit wem er alles gesprochen hat, um Indizien dafür zu finden, dass die Richter irren. Mit Leuten, die etwas vom Wetter verstünden, zum Beispiel Ballonfahrern oder Segelfliegern. Mit dem Zeltbauer. Mit Experten für Sicherheit an Grossanlässen. Mit Leuten vom Flughafen Zürich, die an jenem fatalen Nachmittag den Flugbetrieb kaum grundlos unterbrochen hätten.
Sein stärkstes Argument ist ein 20-seitiges Gutachten des Wetterdienstes Meteo Group. Das Papier dokumentiert mit Zahlen und Radarbildern die Witterungsverhältnisse am 10. Juli 2012 zwischen 15 und 16 Uhr im Raum Frauenfeld.
Fredi Keller hat den Bericht erst letztes Jahr für die Verhandlung vor Bundesgericht anfertigen lassen. Doch die höchsten Richter gingen auf das nachträglich eingebrachte Privatgutachten nicht ein, genauso wie die Vorinstanzen eine Kurzfassung davon nicht gewürdigt hatten. Aber zumindest für sich hat Keller nun gleichsam schwarz auf weiss Gewissheit: «Das Unwetter hat sich abgezeichnet, man hätte Delphine schützen können.»
Laut Bericht der Meteo Group steuerte ab 15.15 Uhr eine Gewitterfront auf die Region zu – in Form einer Superzelle, «einer sehr kräftigen, langlebigen Zelle mit grossem Unwetterpotenzial». Um 15.25 Uhr setzte der Wetterdienst die akute Gewitterwarnung von Orange auf Rot, die vierte von fünf Warnstufen. Zwischen 15.40 und 16.00 Uhr entwickelten sich «ziemlich plötzlich intensive Böen der Windstärke 10, das ist schwerer Sturm».
Fotos und Videos auf der Internetseite Sturmarchiv Schweiz zeigen die Wucht des Unwetters auf dem Festivalgelände. Eine der Aufnahmen soll im Zelt entstanden sein, das Delphine Keller zum Verhängnis wurde. Ihr Vater hat den Film bis heute im Handy gespeichert. Er führt ihn wortlos vor.
Irgendwoher taucht aus dem Fundus in Fredi Kellers Ordnern eine Ausgabe des «Schweizerischen Pflanzenfreunds» auf. Ein Bericht darin erzählt die Geschichte, wie an der Bischofszeller Rosenwoche 2013 eine neue Sorte auf den Namen Delphine getauft wurde – in blumigen Worten: «Eine wunderschöne Rose, die einer bezaubernden jungen Frau gewidmet ist.» 400 Stück davon sind im Garten hinter dem Riegelhaus in Schweizersholz gepflanzt. Sie zu hegen und zu pflegen ist Fredi Kellers Leidenschaft, seit er mit dem Bauern aufgehört hat. Der Rosengarten sei Delphines liebster Ort gewesen, erzählt der Vater, nun wieder im verträumten Modus. Und deshalb der beste Ort für ihr Grab.
Oft hat er seine Tochter und die beiden anderen Kinder, die ältere Schwester und den jüngeren Bruder, im Rosengarten gefilmt. Kiloweise Material habe er. Sich einen Film mit Delphine anschauen, das bringt er seit ihrem Tod indes nicht übers Herz. «Das plagt mich zu fest.» Dafür müsse er zuerst seine Ruhe wiederfinden.
«Ich habe meine Tochter verloren. Und ich soll jetzt einfach alles vergessen und schweigen? Ein Hohn!»
Fredi Keller, Vater der verunglückten Helferin
Das geht vielleicht erst, wenn Fredi Keller seinen Kampf um Gerechtigkeit zu Ende geführt hat. Dabei habe er die Konfrontation gar nicht gesucht, versichert er. Die Abdankungsfeier sei ein trauriger, aber auch tröstlicher Anlass gewesen. Viele Leute kamen damals auf den Hof, um Abschied von Delphine zu nehmen, Familie, Freunde, auch eine Delegation der Festivalorganisation. Ehrliche Anteilnahme hätten sie gespürt, sagt Keller. Und dabei hätte man es bewenden lassen können.
Doch drei Monate nach dem Unglück teilte ihm die Staatsanwaltschaft unerwartet mit, er könne Einsicht in die Akten nehmen. Das lässt im trauernden Vater einen Schalter kippen. Er beginnt mit seinen Nachforschungen, und was sich ihm nach und nach erschliesst, macht den Thurgauer bis heute «richtig verruggt».
Wütend gemacht hat ihn etwa, wie nonchalant der Bauchef, der spätere Angeklagte, bei der polizeilichen Einvernahme auf wichtige Fragen zur Sicherheit geantwortet hat. Ob es einen Plan für das Vorgehen bei einem Unwetter gegeben habe? «In diesem Sinn nicht.» Ob er eine Sturmwarnung erhalten habe? «Nein. Ich habe auch kein modernes Natel.» Im Umfeld eines Anlasses, der jährlich 140'000 Besucher anzieht und elf Millionen Franken Umsatz generiert, noch so zu arbeiten, findet Fredi Keller «unprofessionell und verantwortungslos».
Es gehe ihm nicht um Vergeltung. Aber wenn er jetzt aufgebe, werde einfach weitergemacht wie bisher. Mit seiner Hartnäckigkeit eckt Keller an, das Open Air ist in der Region eine heilige Kuh. «Sie wollen nicht hören, dass jemand schuld ist», sagt er. Und leiser: «Ich kann aber nicht damit leben, dass für den Tod meiner Tochter niemand verantwortlich sein soll.»
Nachdem der Fall strafrechtlich bis zum Bundesgericht erledigt ist, könnte Fredi Keller noch ein Zivilverfahren anstossen. Doch er sei müde, sagt er. Manchmal, in schwachen Stunden, melden sich Zweifel. Dann denkt er: «Die Sache frisst mich noch auf, ich hätte gescheiter gar nichts gemacht.»
Viele würden ihm wohl zustimmen. Aber bei einem Vater, dem das Kind genommen wurde, siegt manchmal das Herz über den Verstand. Noch kann Keller nicht loslassen. Wenige Tage nach dem Treffen auf dem Hof schickt er dem Beobachter weitere Unterlagen, darauf ein Post-it: «Ich hoffe immer noch auf die Zivilklage.»
Was ihm wohl Delphine raten würde? Fredi Keller überlegt lange, dann scheint wieder dieses selbstvergessene Lächeln auf: «Vielleicht würde sie sagen: ‹Lass es gut sein, Papa.›»
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