«Noch mehr als um Geld geht es um Macht»
Antonio De Bernardo, Anti-Mafia-Staatsanwalt im italienischen Reggio Calabria, kämpft seit zehn Jahren gegen die ’Ndrangheta. Ohne Personenschutz kann er nicht auf die Strasse.
Veröffentlicht am 24. Mai 2016 - 10:39 Uhr
Beobachter: Ihre Anklageschrift gegen die 15 mutmasslichen ’Ndrangheta-Mitglieder aus Frauenfeld umfasst 730 Seiten. Die Verteidiger meinen, es werde nicht klar, was Sie den Beschuldigten vorwerfen.
Antonio De Bernardo: Es handelt sich um ein laufendes Verfahren. Im Einzelnen möchte ich dazu nicht Stellung nehmen. Ich kann keine Delikte anklagen, die in der Schweiz begangen wurden. Das ist Sache der Schweizer Behörden. Meine Anklage stützt sich auf den Artikel 416bis des italienischen Strafgesetzbuchs. Ich werfe den Angeklagten vor, Mitglieder einer gerichtsnotorisch als kriminell geltenden Organisation zu sein, die ihren Kopf in Kalabrien hat und international agiert.
Beobachter: Welche Hinweise auf die Mitgliedschaft der Beschuldigten haben Sie genau?
De Bernardo: Zur laufenden Untersuchung kann ich mich wie gesagt nicht äussern. Von einem italienischen Gericht bestätigt ist: 2010 wurde heimlich ein Überwachungsvideo der Zelle in Frauenfeld aufgenommen. Die Angeklagten benutzen darin Wörter und Formeln, die typisch sind für Versammlungen der ’Ndrangheta. Sie besprechen, wer welche Funktionen übernehmen soll und wer zu den Verbündeten gehört. Einer der Angeklagten erwähnt ausdrücklich die Verbindungen zur Zelle im kalabrischen Fabrizia. Es handelt sich nicht um Personen, die einfach eigenartige Sachen sagen. Für zwei der Angeklagten haben wir eine erstinstanzliche Verurteilung erwirkt, wobei die Unschuldsvermutung gilt, solange kein rechtsgültiges Urteil vorliegt. Im Fall der Zelle im deutschen Singen, die enge Verbindungen zu Frauenfeld hat, sind die Verurteilungen rechtskräftig.
«Die Erklärungen bei Verhaftungen von Mitgliedern der 'Ndrangheta sind immer dieselben: Wir haben bloss gescherzt, wir waren betrunken, wir haben uns wichtiggemacht.»
Antonio De Bernardo, Anti-Mafia-Staatsanwalt
Beobachter: Die Angeklagten behaupten, es habe sich bloss um Theater gehandelt. Sie hätten sich wichtigmachen wollen.
De Bernardo: Schauen Sie, wenn es hier in Italien zu Verhaftungen von Mitgliedern der ’Ndrangheta kommt, sind die Erklärungen immer dieselben: Wir haben bloss gescherzt, wir waren betrunken, wir haben uns wichtiggemacht. Das sind die Standardantworten.
Beobachter: Die Angeklagten leben in bescheidenen Verhältnissen. Teil der ’Ndrangheta zu sein scheint sich nicht zu lohnen. Spricht das nicht gegen die Mitgliedschaft?
De Bernardo: Es ist für Mitglieder typisch, dass sie nicht zeigen, wie viel sie besitzen. Sie wollen vermeiden, dass die Fahnder auf sie aufmerksam werden. Wer seinen Reichtum allzu offen zeigt, etwa indem er ein teures Auto fährt, wird zurechtgewiesen. Die ’Ndrangheta investiert das kriminell erworbene Geld in Regionen ausserhalb ihres Einflussgebiets und im Ausland.
Beobachter: Was ist der Vorteil der Mitgliedschaft?
De Bernardo: Wie gesagt: Dass man den Reichtum nicht sieht, heisst nicht, dass er nicht vorhanden ist. Noch mehr als um Geld geht es aber um Macht. Die ’Ndrangheta ist streng hierarchisch organisiert. Wer die Anerkennung der Chefs bekommt, erhält die Befehlsgewalt über ein bestimmtes Gebiet und damit die Möglichkeit, sich zu bereichern. Es gibt innerhalb der Organisation einen rigiden moralischen Kodex.
Beobachter: Was heisst das?
De Bernardo: Der Kodex gibt detaillierte Regeln vor und auch die Sanktionen, wenn diese verletzt werden. Damit soll sichergestellt werden, dass die kriminelle Tätigkeit in einem bestimmten Gebiet möglichst reibungslos vonstattengehen kann. Der Eintritt in die Organisation oder eine Beförderung wird mit einer gewissen rituellen Feierlichkeit gestaltet. Dazu gehören der Treueschwur, die Verpflichtung zu Gehorsam und zu Verschwiegenheit – Omertà. Die Mitglieder müssen sich dazu bekennen, jedes auftretende Problem intern, also innerhalb der Organisation, zu lösen. Es gibt auch eine Meldepflicht. Wenn etwa ein Mitglied aus der Schweiz nach Kalabrien kommt, muss es sich bei seinem Kontakt melden. So wird der Informationsaustausch gesichert, ohne dass man das Telefon benutzt.
Beobachter: Wie haben Sie die mutmassliche Frauenfelder Zelle ausgehoben?
De Bernardo: Wir hatten schon länger Hinweise auf Zellen im Ausland. 2006 haben wir mit der Operation «Crimine» begonnen. Im Rahmen dieser Ermittlungen konnten wir die Funktionsweise der ’Ndrangheta und ihre Verbindungen ins Ausland sehr genau rekonstruieren. Das hat eine gute Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden der jeweiligen Länder ermöglicht.
Beobachter: Gibt es in der Schweiz weitere Zellen?
De Bernardo: Ja, davon gehe ich aufgrund unseres derzeitigen Kenntnisstands aus. Gegen die ’Ndrangheta zu ermitteln ist sehr schwierig. Es braucht die Fähigkeit, den richtigen Moment abzuwarten. Wenn wir gut arbeiten, wird es weitere Anklagen geben.
Mafia in der Schweiz: Die Paten sind unter uns
Die ’Ndrangheta arbeitet sich in die Schweiz vor. Doch die hiesige Justiz tut sich schwer im Kampf gegen die mächtigste Mafiaorganisation der Welt.
Beobachter: Sollte die blosse Mitgliedschaft bei der ’Ndrangheta in der Schweiz unter Strafe stehen, wie es in Italien der Fall ist?
De Bernardo: Mit den bestehenden Schweizer Gesetzen ist eine gute Zusammenarbeit möglich. Es ist unsere Aufgabe, den ausländischen Justizbehörden das Wesen der ’Ndrangheta möglichst gut zu erklären und zu zeigen, wie gefährlich sie ist. Das haben wir in den letzten Jahren noch zu wenig gut gemacht. Natürlich würde eine einheitliche Gesetzgebung auf europäischer Ebene unsere Aufgabe erleichtern.
Beobachter: Sind Sie oft in der Schweiz?
De Bernardo: Ja, in letzter Zeit schon. Genaueres möchte ich nicht sagen.
Beobachter: Ist die ’Ndrangheta am Kokainhandel in der Schweiz beteiligt?
De Bernardo: Sie ist die mächtigste kriminelle Organisation der Welt. Es ist deshalb widersinnig, zu glauben, sie mische im Schweizer Kokaingeschäft nicht mit.