Ende Juni fährt die Polizei zum ersten Mal bei Jolanda Egger* vor. Während der folgenden Wochen wird die dreifache alleinerziehende Mutter mehrmals Besuch von Uniformierten bekommen. Sie durchsuchen das Haus nach ihrem ältesten Sohn Damian*. Doch der 15-Jährige ist verschwunden. Oder besser: untergetaucht. Die Mutter hält ihn an einem unbekannten Ort versteckt. Bis zu drei Jahre Gefängnis drohen ihr dafür. Am Küchentisch bricht sie in Tränen aus. Sie kann nicht fassen, was gerade geschieht. «Die machen unsere Familie kaputt», sagt sie.

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«Die», das sind die Behörden von Bad Zurzach, dem früheren Wohnort der Familie. Die Polizeibesuche sind der vorläufige Höhepunkt einer Geschichte, die harmlos begann. Am Ende stehen ein Obhutsentzug, ein fürsorgerischer Freiheitsentzug und die Einweisung Damians in ein Heim, geschlossene Abteilung.

Der Junge hat seit der Geburt ADS

Vor etwa zwei Jahren beginnt Damian in der Schule immer öfter die Mitarbeit zu verweigern. Der Teenager leidet seit der Geburt an ADS. Er nimmt dagegen Medikamente, seit er sechs Jahre alt ist. Doch in der Pubertät scheinen diese nicht mehr so gut zu wirken. Überfordert den Sekundarschüler eine Aufgabe, stellt er sich quer.

Die Lehrerin schaltet in Absprache mit der Mutter die Schulpsychologin ein. Diese empfiehlt vorerst eine Psychotherapie. Falls sich Damians Verhalten mittelfristig nicht bessere, müsse er in eine Sonderschule. Weil Plätze rar sind, setzt man ihn vorsorglich auf Wartelisten. Die Mutter ist einverstanden.

Nach nur fünf Sitzungen beim Psychiater lädt man Mutter und Sohn ein, sich das Schulheim Röserental im Nachbarkanton Baselland anzusehen. «Man sagte mir, es gehe darum, einen Einblick zu erhalten», sagt Egger. Beim Besuch teilt man ihr und Damian jedoch mit, es sei gerade ein Platz frei, man müsse rasch entscheiden.

Damian will nicht ins Heim. Doch Jolanda Egger lässt sich vom Heimleiter und von der Familienberaterin, die ihr seit längerem in finanziellen Fragen hilft, überzeugen, es wäre das Beste für ihren Sohn.

Ohne die Gemeinde Bad Zurzach vorher zu informieren, weist die Schule den Jungen im Februar 2011 ins «Röseren» ein. Froh, den Störenfried los zu sein, wie es scheint. Überstürzt, wie sich herausstellt. Denn um eine Kostengutsprache zu erhalten, müsste Damian sonderschulbedürftig sein. Das aber hat bisher keiner festgestellt. Also ruft der Schulleiter die Schulpsychologin an. Fünf Monate nach ihrem ersten schreibt diese einen zweiten, folgenschweren Bericht – ohne den Jungen nochmals zu sehen. Sie stützt sich auf Aussagen von Schulleiter, Lehrerin und Familienberaterin. Die geben an, die Lage habe sich verschlechtert, die Mutter habe nur noch begrenzten erzieherischen Einfluss auf ihren Sohn. Von drohender Computerspielsucht ist die Rede und von sozialer Isolation. Fazit: Damian ist nun sonderschulbedürftig.

Der Junge läuft vor ein Auto

Im Heim geht es Damian nicht besser: Um die Therapie zu evaluieren, wird beim Eintritt das ADS-Medikament versuchsweise abgesetzt und die Psychotherapie abgebrochen. Damian wird Zeuge einer Messerstecherei, ist in eine Auseinandersetzung mit einem anderen Heimbewohner verwickelt und wird dabei verletzt. Er haut mehrmals über Nacht ab und flüchtet nach Hause zur Mutter. Diese muss ihn zweimal mit Hilfe der Polizei ins Heim zurückbringen.

In Standortberichten halten die Verantwortlichen des «Röseren» fest, Damian werde von seiner Mutter beeinflusst. Sie plane mit ihm den Austritt, obwohl er sich im Grunde wohl fühle und sich immer besser integriere. Die Mutter stehe seiner Entwicklung im Weg.

Das Risiko für Streit und Messerstechereien bestehe in einem Heim mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen immer, erklärt Heimleiter Wolfgang Lanz dem Beobachter auf die Frage, wie ein Kind sich in so einem Umfeld wohl fühlen könne und wieso in den Berichten nichts von den Vorfällen erwähnt wird. Damian sei wie immer bei solchen Ereignissen von einem Care-Team betreut worden.

Wegen der Berichte aus dem «Röseren» lädt die Vormundschaftsbehörde Damians Mutter zum Gespräch. Man erwäge einen Obhutsentzug, teilt man ihr mit. Der Junge müsse im Heim bleiben. In die Regelschule kann er nicht mehr zurück, denn seit dem zweiten schulpsychologischen Bericht gilt er ja als sonderschulbedürftig.

An einem Sonntag, als Jolanda Egger ihren Sohn nach dem Wochenende zurückbringen will, droht er mit Selbstmord und läuft vor ein Auto, das im letzten Moment bremsen kann. Nachdem Damian ein weiteres Mal nicht zurückwill und das Heim nach mehrmaligem Intervenieren der Mutter nicht bereit ist, seine Psychotherapie fortzusetzen, holt sie seine Sachen ab und kündigt den Heimplatz. «Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie mein Kind leidet.»

Die Vormundschaftsbehörde reagiert prompt. Sie entzieht der Mutter Anfang Februar 2012 die Obhut. Eine harte Massnahme, die nur getroffen wird, wenn das Kindswohl massiv gefährdet ist (siehe «Info»). «Uns blieb leider nichts anderes übrig, wir haben die Pflicht, den Jungen zu beschulen», erklärt Daniel Baumgartner, Delegierter der Zurzacher Vormundschaft.

Weshalb Damians Wohl zu Hause konkret gefährdet ist, geht aus dem Entscheid nicht hervor. Der Gemeinderat stützt sich auf die Berichte der Schulpsychologin und des Sonderschulheims, auf Stellungnahmen des Schulleiters in Bad Zurzach und auf Aussagen der Familienberaterin. Diese bekräftigen ihre Ansicht, Damian sei sozial isoliert, die Mutter überfordert. «Ich habe gesagt, dass ich manchmal an meine Grenzen stosse, das stimmt. Aber welche Mutter tut das nicht?», sagt Jolanda Egger. Man dramatisiere die Situation, um das eigene unverhältnismässige Vorgehen zu rechtfertigen. Sie fordert eine neue, unabhängige Begutachtung ihres Sohnes – vergeblich.

Die Polizei sucht den 15-Jährigen

Nach dem Obhutsentzug geht das Drama weiter. Egger engagiert einen Anwalt, reicht Beschwerde beim Bezirksamt ein. Es folgt ein Hickhack um Alternativen zum Heim. Eggers Vorschläge für Tagesschulen in der Nähe lehnen die Behörden aus organisatorischen oder finanziellen Gründen ab. Stattdessen verfügt das Bezirksamt, Damian solle bei einer Grosstante in der Ostschweiz wohnen und dort die öffentliche Schule besuchen. Ob dies möglich ist, klärt niemand ab. Prompt stellt sich heraus, dass die Schule ihn wegen seines Sonderschulstatus nicht aufnehmen will. Die Mutter hält an ihren Vorschlägen fest. Doch je verbissener sie kämpft, je ungerechter sie sich behandelt fühlt, je emotionaler sie agiert, desto weniger erreicht sie.

Es kommt, wie es kommen muss: Mitte Juni 2012 segnet das Bezirksamt den Obhutsentzug ab, verfügt Damians Einweisung in ein Jugendheim im Kanton Bern und ordnet einen fürsorgerischen Freiheitsentzug an – weil das Heim einen solchen zwingend voraussetzt. Dass im selben Heim ausgerechnet jener Jugendliche sitzt, der im Schulheim Röserental die Messerstecherei angezettelt hatte und gegen den Damian aussagen musste, erachten die Behörden nicht als problematisch. «Die Sicherheit von Damian ist zu 100 Prozent gewährleistet. Er wird nicht in derselben Wohngruppe sein wie der andere Jugendliche», sagt Daniel Baumgartner von der Vormundschaftsbehörde.

Die Mutter ficht den Entscheid an. Von ihrem Anwalt erfährt sie, dass sie Damian bis Ende Juni, kurz vor den Sommerferien, ins Heim bringen müsse. Seither wird er polizeilich gesucht. Obwohl während der Ferien auch im Heim kein Unterricht stattfindet, setzt die Gemeinde die Fahndung fort. «Uns sind die Hände gebunden», sagt Daniel Baumgartner. Die Mutter sei nicht bereit, ihren Sohn freiwillig ins Heim zu bringen, der Platz drohe verlorenzugehen.

Vielleicht wäre Damian dort sogar gut aufgehoben. Ob man aber dem Kindswohl gerecht wird, wenn man ihn mit Polizeigewalt dorthinschafft, sei dahingestellt. Ein 15-Jähriger taucht wochenlang unter, seiner Mutter droht ein Strafverfahren wegen Entziehens von Unmündigen – und alles bloss, weil er den Unterricht störte und im Umgang schwierig war.

 

*Namen geändert

Obhutsentzug nur im Ausnahmefall


Unter der Obhut versteht man das Recht der Eltern, über den Aufenthaltsort ihrer Kinder zu bestimmen. Dieses Recht ist Teil der elterlichen Sorge.

Vormundschaftsbehörden können und müssen Eltern die Obhut entziehen und das Kind in einer Pflegefamilie oder einem Heim platzieren, wenn das Kindswohl zu Hause gefährdet ist. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn das Kind nicht genügend versorgt oder gar misshandelt wird oder wenn der Verdacht darauf besteht. Auch Zweifel an der Erziehungsfähigkeit der Eltern können einen Obhutsentzug rechtfertigen. Es handelt sich um einen massiven Eingriff, und er muss deshalb verhältnismässig sein. Ab dem sechsten Altersjahr muss das Kind angehört werden. Jährlich entziehen die Ämter Eltern von 1000 Kindern die Obhut, insgesamt betroffen sind 3500 Kinder.