Opfer der Anklage
Weil sich viele Männer gegen den falschen Vorwurf der Vergewaltigung wehren müssen, will Jörg Kachelmann eine Stiftung für sie gründen. In der Sache hat er recht.
Veröffentlicht am 23. Oktober 2012 - 09:20 Uhr
Ein halbes Jahr schmorte Stjepan Kovac*, 29, in Untersuchungshaft. Seine Frau hatte bei der Polizei ausgesagt, er habe sie geohrfeigt und «wahrscheinlich vergewaltigt». «Daraus wurde dank kräftigem suggestivem Mitwirken der einvernehmenden Polizisten eine richtige Vergewaltigung», sagt Kovacs Anwalt Hugo Werren. Doch Stjepan Kovac war unschuldig. Vor Gericht zerfiel die «sehr, sehr dünne und dürftige Anklage» der Staatsanwältin, die vier Jahre Gefängnis verlangt hatte. Das Bezirksgericht sprach ihn frei. Das Urteil ist rechtskräftig. Wegen der erlittenen Haft erhielt Kovac eine Genugtuung und Entschädigung von rund 30 000 Franken.
Für Männer wie Stjepan Kovac will Jörg Kachelmann eine Stiftung gründen. Der ehemalige Wettermoderator wurde vergangenes Jahr in einem spektakulären Prozess ebenfalls vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Seither hat er eine Mission. Er will Männer im Kampf gegen Frauen unterstützen, die zu Unrecht den Vorwurf der Vergewaltigung erheben. Das komme immer häufiger vor.
Bei der Opferhilfeorganisation Weisser Ring stösst das Vorhaben auf wenig Verständnis. In den vergangenen 25 Jahren sei es bei den vom Weissen Ring betreuten Fällen nur einmal vorgekommen, dass eine Vergewaltigung erfunden gewesen sei, sagt Präsident Carlo Häfeli. «Aus Sicht der Opferhilfe ist eine solche Stiftung absurd.» Die «Basler Zeitung» mutmasste jüngst, allerdings ohne eine Quelle anzugeben, die Falschbezichtigungen unter den Anzeigen «dürften sich im niedrigen einstelligen Prozentbereich bewegen».
Doch Häfeli und die «Basler Zeitung» irren. 2005 kam eine Studie in München zum Schluss, dass rund ein Drittel der Anzeigen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung «zweifelhaft» seien. Die Studie stützte sich dabei auf Befragungen von polizeilichen Sachbearbeitern. Fälle eines gezielten Einsatzes von falschen Verdächtigungen, etwa um sich an einem Mann zu rächen, waren dabei jedoch die Ausnahme. Häufigste Motive und Hintergründe der Taten waren psychische und hirnorganische Störungen, Konflikte in Familie und Partnerschaft, das Verschleiern sexueller Beziehungen, Peinlichkeitsgefühle sowie das Bedürfnis, sich wichtigzumachen oder Mitleid beziehungsweise Aufmerksamkeit zu erregen. Die Hälfte der Frauen, die eine Falschbeschuldigung machten, hatten psychische Probleme.
Für die Schweiz fehlen derzeit entsprechende Forschungsergebnisse. Viele Experten bestätigen aber den Befund der Münchner Studie. «Das Phänomen der Falschanschuldigung bei Vergewaltigungen ist sehr verbreitet. Wir rechnen damit, dass etwa die Hälfte der Anzeigen fingiert ist», sagt Thomas Hansjakob, Erster Staatsanwalt des Kantons St. Gallen.
Entgegen landläufiger Meinung seien Falschaussagen von Tätern und vermeintlichen Opfern jedoch relativ leicht zu erkennen. Falschaussagen würden meist aufgedeckt, bevor der Angeschuldigte überhaupt befragt wurde. Kommt ein Fall vor Gericht, kann der Beschuldigte laut Hansjakob auf ein faires Verfahren zählen: «Richter gehen mit der Unschuldsvermutung sehr sorgfältig um.» Bei einer Verurteilung kann die Verteidigung den Fall zweimal weiterziehen. Die Chancen der Verteidigung, einen Schuldspruch in einen Freispruch zu drehen, so Hansjakob, seien statistisch immer noch erheblich besser als die Chancen der Staatsanwaltschaft, einen Freispruch in einen Schuldspruch zu drehen.
Kritischer sieht es Bruno Steiner. Der Jurist war 16 Jahre lang Richter beim Bezirksgericht Zürich, davor vier Jahre Staatsanwalt. Heute arbeitet Steiner als Strafverteidiger, Beziehungsdelikte sind eine seiner Spezialitäten. Steiner sagt: «Bei Vergewaltigungsfällen setze ich grosse Fragezeichen hinter die Rechtsstaatlichkeit der Justiz. Ich habe in all den Jahren einfach zu viel erlebt.»
Aktuell verteidigt Steiner einen Mann vor Obergericht, der erstinstanzlich zu neun Jahren Gefängnis verurteilt wurde – allein aufgrund der Aussagen des Opfers, die laut Steiner «mehr oder weniger Behauptungscharakter» haben. Der Beschuldigte verfügt über einen einwandfreien Leumund, die Klägerin hingegen ist psychisch auffällig. Sach- oder Zeugenbeweise gibt es keine. Für den Strafverteidiger ein symptomatischer Fall: Aussagen von Vergewaltigungsopfern würden heute zu wenig kritisch hinterfragt. Noch bis vor rund 20 Jahren seien Vergewaltigungsverfahren regelmässig eingestellt worden. «Das war genauso falsch. Doch heute hat das Pendel zu stark auf die andere Seite ausgeschlagen. Es ist menschlich verständlich, dass Polizei und Staatsanwälte zurückhaltend einvernehmen. Aber rechtsstaatlich gesehen geht das einfach nicht.»
Nicht nachvollziehen kann diese Einschätzung Maja Fringeli von der Frauenberatung sexuelle Gewalt Zürich. «Die Einvernahmen sind für die Frauen eine grosse Belastung. Sie müssen Auskunft geben zu sehr intimen Details. Es ist überhaupt nicht so, dass sie dabei geschont werden.»
Experten stützen jedoch eher Steiners Darstellung. Die Freispruchquote sei bei Vergewaltigungen durchaus nicht besonders hoch, wie immer wieder behauptet werde, sagt der Zürcher Strafrechtsprofessor Martin Killias. Das liege auch an den Grundeinstellungen unserer Gesellschaft, die auf Richter abfärbe: «Dem Opfer nicht zu glauben verlangt bei Verfahren wegen Vergewaltigung heute sehr viel mehr Mut, als einen bestreitenden Angeklagten schuldig zu sprechen», sagt Killias.
«Unsere Gesellschaft ist heute sehr sensibilisiert für die Situation des Opfers. Diese Tendenz äussert sich auch in der Justiz», bestätigt die Rechtspsychologin Revital Ludewig von der Uni St. Gallen. Diese Tendenz habe positive Seiten wie etwa die Etablierung des Opferhilfegesetzes. Doch in bestimmten Fällen stünden Richter und Staatsanwälte in einem Dilemma zwischen Opferrechten und Rechten der Beschuldigten. «Es ist sehr wichtig, die Aussagen des potentiellen Opfers bezüglich ihrer Glaubwürdigkeit genau zu überprüfen», so Ludewig. Denn in einem Teil der Fälle komme es zum «Missbrauch des Missbrauchs» beziehungsweise zu Falschbezichtigungen durch das vermeintliche Opfer.
Hilfe in diesem Dilemma könnte der Rückgriff auf Glaubhaftigkeitsgutachten bringen, wie sie etwa die Basler Fachpsychologin Tavor erstellt. Anhand sogenannter Realkennzeichen versucht Tavor die Frage zu beantworten, ob eine Person ihre Aussage auch hätte erfinden können. «Sagt jemand die Wahrheit, muss er bloss seine abgespeicherten Gedächtnisinhalte abrufen. Der Lügner steht vor einer vergleichsweise schwierigeren Aufgabe, denn er muss ein komplexes Geschehen erfinden und widerspruchsfrei berichten.» Er neige deshalb dazu, seine Geschichte streng chronologisch zu erzählen. Wer aber die Wahrheit sage, dem bereite es keine Mühe, im Erzählen zeitlich vor und wieder zurück zu springen, ohne gegen die Logik zu verstossen. «Solche Untersuchungen brauchen psychologisches Wissen und viel Zeit – Zeit, die die Gerichte nicht immer haben», gibt Tavor zu bedenken.
Doch Gutachten werden nur in Ausnahmefällen erstellt. Die Richter stützen sich bei ihrer Praxis auf das Bundesgericht, gemäss dem nur bei Vorliegen von «besonderen Umständen» Begutachtungen beigezogen werden sollen. In der Regel wird nur bei Aussagen von Kindern und Jugendlichen, die Opfer von Sexualdelikten wurden, die Meinung eines Experten eingeholt.
«Zu beurteilen, ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht, ist der ureigene Auftrag eines Gerichts. Es kann nicht Aufgabe des Gerichts sein, die Verantwortung an einen Gutachter abzugeben», sagt Peter Hodel, Oberrichter in Zürich und Präsident der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter. Gutachter seien Richtern bei der Beurteilung des Wahrheitsgehalts einer Aussage nicht überlegen.
*Name geändert