Das Geschäft mit den Genen
Forscher wollen immer mehr Erbinformationen über uns, die Pharmaindustrie verspricht massgeschneiderte Medikamente: Der Gentest wird unser Leben verändern. Auch wenn wir ihn nicht machen.
Veröffentlicht am 1. Juni 2012 - 15:53 Uhr
Vier Jahre später ist die Angst wieder da. Thomas Erb* rechnet mit dem Schlimmsten, als er sich beim Arzt anmeldet. Er hat es ja schwarz auf weiss. Ein Gentest der kalifornischen Firma 23andme bescheinigt ihm ein erhöhtes Risiko für Darmkrebs – 15 Prozent höher als der Durchschnitt. 2008 hatte er eine Speichelprobe eingeschickt, um seine Gene – wenigstens einen Teil davon – analysieren zu lassen.
Er war fasziniert davon, etwas wirklich Neues über sich zu erfahren, und schrieb einen Artikel über den Selbsttest im «Magazin». Nach einigen Monaten legte er die Testergebnisse weg. Dass er gleich an rheumatoide Arthritis denken musste – 36 Prozent erhöhtes Risiko –, wenn er ein Ziehen im Finger auf der Computermaus spürte, begann ihn zu nerven.
Doch mit den Verdauungsbeschwerden vor einem Jahr kehrte auch die Erinnerung an das Darmrisiko zurück. Krebs? Erb klärte seinen Arzt über die 15 Prozent auf. Den kümmerte das nicht. Er fand auch keinen Krebs, dafür etwas ganz anderes: Laktoseintoleranz, die Unverträglichkeit von Milchzucker. Erb war erleichtert und verblüfft zugleich. Denn auch das kleinere Übel ist in seinem Gentest erwähnt. «Ich hatte es nur vergessen, weil ich meinen Kaffee jeden Tag mit Milch trank.»
Bis heute erhält Erb regelmässig Updates von 23andme. Auf Parkinson oder die unheilbare Hirnkrankheit Chorea Huntington zum Beispiel war er vor vier Jahren nicht getestet worden. Heute könnte er sein Risiko nachlesen. Doch er ignoriert die Mails. «Ich bereue den Test nicht, aber ich habe kein Bedürfnis, noch mehr über Krankheitsrisiken zu erfahren.»
Erb stellte auch eigene, beruhigende Berechnungen an. So liegen seine Chancen, nie an Darmkrebs zu erkranken, statistisch bei 94,25 Prozent, nur 0,75 Prozentpunkte tiefer als der Durchschnitt. «Zudem ist klar, dass Lebensweise und Umwelteinflüsse für das Entstehen der Krankheit letztlich entscheidender sind als das genetische Risiko.» Erb will anonym bleiben. «Wir wissen ja nicht, wie Pensionskassen oder Versicherungen in Zukunft reagieren, wenn sie von solchen Risiken erfahren.»
Heute darf zwar niemand wegen seiner Gene diskriminiert werden. Das ist gesetzlich festgehalten und gilt zumindest für die Grundversicherung der Krankenkassen. Anders ist es bei Zusatzversicherungen oder bei Lebensversicherungen ab einer Summe von 400'000 Franken. Auf Anfrage muss man hier belastende Erkenntnisse offenlegen.
Das Erbgut eines Menschen ist, ausser bei eineiigen Zwillingen, einzigartig wie sein Fingerabdruck.
Ein Test, wie ihn Thomas Erb in Kalifornien machen liess, ist in der Schweiz verboten. Genuntersuchungen sind nur erlaubt, wenn sie medizinischen Zwecken dienen und von einem Arzt verordnet werden. Doch Firmen wie das von Google finanzierte 23andme, deCODEme oder Navigenics bieten ihre Dienste im Internet an. Und die Preise zerfallen schneller als jene für Computer. Bezahlte Erb vor vier Jahren noch 1000 Dollar, kosten umfangreichere Auswertungen heute weniger als 300 Dollar. Der Kunde muss dafür in ein Röhrchen spucken, das er mit einem Testset zugeschickt erhält. Die Spucke schickt er nach Amerika, nach einigen Tagen erhält er seine grafisch aufbereiteten Resultate.
Trotz Verbot mischen auch Schweizer Unternehmer im privaten Gengeschäft mit. Sie vermitteln ihre Kunden einfach direkt an die ausländischen Analysefirmen und riskieren so keine Strafen. Hinter Seiten wie Gentest.ch, Igenea.com und Genepartner.com stecken an derselben Zürcher Adresse domizilierte Firmen. Neben gesundheitlichen Untersuchungen bieten sie auch anonyme Vaterschafts- und Mutterschaftstests, genealogische Herkunftstests und einen eher skurrilen Partnerschaftstest an. Geprüft wird auch die «biologische Kompatibilität» zwischen Partnern, konkret: ob die Frau auf den Schweissgeruch des Mannes eher anspricht oder nicht.
Schweizer Gene werden also getestet, ob direkt im Ausland oder über Schweizer Anbieter vermittelt. Gemäss einer im März veröffentlichten repräsentativen Umfrage des Internet-Vergleichsdienstes Comparis sehen 45 Prozent der Bevölkerung solche Gentests eher als Chance, 42 Prozent als Risiko. Jeder 25. hat sein Erbgut bereits untersuchen lassen. Wären DNA-Analysen in der Schweiz leichter möglich, können sich 16 Prozent der Befragten vorstellen, eine solche Analyse durchzuführen. 64 Prozent wollen dies nicht.
Der Waadtländer Nationalrat Jacques Neirynck verlangte Ende 2010 mit einer parlamentarischen Initiative die Liberalisierung des Schweizer Gentestmarktes, weil das Geschäft sonst einfach im Ausland gemacht werde. Die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur reagierte mit einer eigenen Motion, die den unkontrollierten Online-Markt für genetische Untersuchungen an Menschen zwar liberalisieren, aber auch regulieren soll. Der sensible Bereich dürfe nicht einfach dem freien Markt überlassen werden. Der Nationalrat stimmte der Motion im März zu.
Auch die Expertenkommission für genetische Untersuchungen (Gumek) des Bundesamts für Gesundheit arbeitet an Vorschlägen für eine neue Regelung, die sie bis Ende Jahr vorlegen will. Bisher hatte die Gumek Internet-Tests als unseriös kritisiert und auf den mangelhaften Datenschutz verwiesen. Gleichzeitig musste sie aber erkennen, wie einfach das Schweizer Verbot umgangen werden kann.
Kurz: Was immer die Politik entscheiden wird, alle haben es bereits heute in der Hand, ihre Gene testen zu lassen. Sie müssen aber auch die Konsequenzen tragen, alleingelassen mit belastenden Ergebnissen. Doch was bedeutet es, mit grosser Wahrscheinlichkeit oder gar mit Sicherheit an einem schweren Leiden zu erkranken? Nocebo-Forscher warnen längst vor krank machenden Effekten, die allein das Wissen um eine Veranlagung auslösen kann (siehe Beobachter Nr. 3; Gesundheit: Wir denken uns krank). So könnte die Kenntnis von einem erhöhten Darmkrebsrisiko zum Beispiel chronische Verdauungsbeschwerden auslösen.
Ein Gentest kann allerdings auch entlastend wirken. Das zeigen US-Untersuchungen über erwachsene Kinder von Alzheimer-Patienten. Träger einer bestimmten Genvariante haben ein erhöhtes Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Die Forscher haben die psychische Belastung der Kinder gemessen, nachdem ihnen das Testergebnis mitgeteilt worden war. Bei Kindern mit positivem genetischem Befund verstärkten sich zwar Angstgefühle, nach sechs Monaten waren sie aber nicht mehr nachweisbar. Wenn die Genvariante fehlte, verringerte sich das Angstempfinden sofort.
Einer, der Gentests für alle propagiert hat, ist ETH-Professor Ernst Hafen. Damit holte er sich im Februar eine blutige Nase. Kritiker entgegneten, der Nutzen sei gering, die Gesellschaft dazu nicht bereit, und überhaupt stecke hinter solchen Forderungen die Pharmaindustrie. Kurz darauf musste der Biologe sein bereits bewilligtes Nationalfonds-Projekt «Mein Genom und wir» zurückziehen. Nicht alle als Beiräte des Projekts genannten Personen waren diesbezüglich überhaupt angefragt worden. Zudem stellte sich die Frage, ob das mit 135'000 Franken Forschungsgeldern ausgestattete Projekt nicht zu einer Werbekampagne für Gentests verkommen würde.
Eines hat der umtriebige Professor dennoch erreicht: Er löste eine Debatte über Gentests aus. Genau dies sei sein Anliegen, versicherte er Mitte Mai an einer Veranstaltung der Uni Zürich. Am «Workshop» zum Thema «Personalisierte Medizin» räumte Hafen zwar ein, die Reaktionen auf seine Forderung unterschätzt zu haben. Dennoch sei er nach wie vor überzeugt, dass «eine möglichst grosse Zahl» von Gentests die Basis für wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse sein werde.
Genforscher gehen davon aus, dass Auffälligkeiten in den Genen die Veranlagung zu Krankheiten bestimmen. So funktionieren auch die heute kommerziell angebotenen Gentests. Bei erkrankten Personen wird nach auffälligen Gensequenzen, sogenannten SNPs (Single Nucleotide Polymorphism), gesucht. Finden sich bei nicht erkrankten Personen die gleichen Abweichungen, wird ihnen ein erhöhtes Risiko für die entsprechende Krankheit zugeschrieben. Allerdings gibt es nur sehr wenige Krankheiten, die allein genetisch bedingt sind (siehe Grafik unten). Meist spielen persönliches Verhalten und Umwelteinflüsse eine bedeutendere Rolle. Genforscher glauben, auch neue Zusammenhänge zwischen genetischen Ausprägungen und Krankheiten herausfinden zu können, wenn nun möglichst viele Menschen ihre Genproben der Wissenschaft zur Verfügung stellen.
Ernst Hafen hat nicht nur sein eigenes Genom bei 23andme analysieren lassen. Er schenkte den Gentest gleich seiner Familie zu Weihnachten. Er glaubt, dass eine «Ethik des Teilens», die sich in Projekten wie Wikipedia manifestiere, oder neue Vorstellungen von Privatsphäre, die auf Internetplattformen wie Facebook gelebt würden, letztlich auch die Bereitschaft erhöhten, sich persönlich – mit den Genen – in die medizinische Forschung einzubringen.
Es sind aber nicht die Gene allein, an denen Wissenschaftler und Medikamentenhersteller interessiert sind. Sie brauchen auch Krankheiten. Die US-Firma PatientsLikeMe hat deshalb eine Art Facebook für Kranke geschaffen. Hier beschreiben Betroffene ihre Leiden tagebuchartig, indem sie ihre aktuelle Befindlichkeit und ihre medizinische Betreuung protokollieren. Die oft unheilbar Erkrankten wollen so neue medizinische Erkenntnisse ermöglichen. Und sie können sich mit Leidensgenossen austauschen.
Solche Firmen verkaufen ihre Daten dann an Wissenschaftler und Pharmafirmen, die nach neuen Erkenntnissen über Krankheiten suchen oder neue Arzneien entwickeln. Wissenschaftlich und kommerziell interessant wird es aber erst, wenn man Daten von Krankheitsbildern und genetischen Erkenntnissen zusammenführt. PatientsLikeMe und 23andme sind für die Erforschung der Parkinson-Krankheit bereits eine Kooperation eingegangen.
Dem Geschäft mit den Gen- und Krankheitsdaten setzen zwei deutsche Studenten eine nichtkommerzielle Alternative entgegen. «Warum soll nicht jeder, der interessiert ist und sich befähigt fühlt, mit den Daten forschen können?», fragt Bastian Greshake, einer der Gründer von openSNP. Auf der Internetplattform kann jeder seine Gendaten veröffentlichen, die er bei einem kommerziellen Anbieter wie 23andme oder deCODEme erworben hat. Zudem ist es möglich, Angaben über den Phänotyp, also das tatsächliche Erscheinungsbild der Getesteten, zu machen. Dazu können auch Angaben zu Krankheiten gehören. «Es ist jedem freigestellt, wie viel er über sich veröffentlichen will. Und er kann dafür ein Pseudonym verwenden», so Greshake. Die Betreiber der Plattform räumen aber ein, dass sie keine Verantwortung für die Verwendung der Daten übernehmen. Da sie jeder herunterladen darf, können sie auch kaum mehr gelöscht werden. Derzeit haben erst rund 200 Personen ihren Gentest hochgeladen, zu wenige, um relevante Forschung zu betreiben. Doch Greshake ist zuversichtlich, dass es bald mehr sein werden.
Gezielt, aber aufwendig: Die personalisierte Medizin berücksichtigt genetische und andere Merkmale, auf die die breitenwirksame konventionelle Medizin (links) nicht eingeht.
Das Veröffentlichen von Gentests ist dann problematisch, wenn die Informationen nicht anonymisiert werden. «Ein Gentest enthält ja immer auch Hinweise auf mögliche Veranlagungen der Verwandten», sagt die Zürcher Rechtsprofessorin Brigitte Tag. Auch diese hätten ein Recht auf Nichtwissen. Und für die Veröffentlichung der Daten sei deren Einwilligung unerlässlich. Für Tag gibt es noch einige juristische Baustellen auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin. So seien die Datenschutzregelungen für die Forschung viel zu vage. Und wer sich testen lassen wolle, werde über die Tragweite der Resultate zu wenig aufgeklärt.
«Wir sind nicht alle gleich», versichert Peter Meier-Abt, Präsident der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften. Die personalisierte Medizin, die Anpassung medizinischer Massnahmen an einzelne Patientengruppen, werde die gesamte Medizin und das Gesundheitswesen grundsätzlich verändern. Dafür spielen genetische Erkenntnisse eine wichtige, aber nicht die einzige Rolle. Meier-Abt verweist auf die jährlich rund 200'000 Patienten, die an falsch dosierten, nicht auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Mitteln sterben. Durch eine personalisierte Medikamentenabgabe könnten viele gerettet werden, sagt der Pharmakologe.
Ein anderes Beispiel sind Krebspatienten, von denen nur etwa 20 Prozent auf bestimmte Medikamente ansprechen. Es sei nicht sinnvoll, sie an allen Patienten auszuprobieren. Für Meier-Abt ist personalisierte Medizin darum kein Hype, sondern Hope. Für manche kann sie allerdings in die Hoffnungslosigkeit führen – wenn aufgrund eines Gentests klar wird, dass für sie kein wirksames Medikament existiert.
Nur wenige Krankheiten wie Chorea Huntington haben einen klar definierten genetischen Ursprung. Meist sind Krankheiten das Ergebnis aus Umwelt- und genetischen Einflüssen.
Der Begriff «personalisierte Medizin» wird oft missverstanden als eine Medizin, die auf den einzelnen Patienten besonders eingeht, gar einfühlsam sein sollte. Tatsächlich geht es darum, spezifische Eigenschaften von Patienten aufgrund von genetischen oder anderen biologischen Besonderheiten in Untergruppen zu fassen und dann auf sie abgestimmte Therapien zu entwickeln.
Kritiker wie Pedro Koch von der Schweizer Patientenorganisation sehen dahinter ein wesentlich von der Pharmaindustrie geprägtes Konzept. «Der Verdacht liegt nahe, dass es einfach einer besseren Preisgestaltung der Arzneimittelindustrie dient.» Tatsächlich führen Pharmafirmen zurzeit etliche Medikamente ein, die nur bei einer kleinen Patientengruppe wirken, aber sehr teuer sind. Meist sind dies Krebsmedikamente, die keine Heilung bringen, das Leben aber um Monate verlängern. Darüber hinaus eröffnet sich ein neues Geschäftsfeld: Pharmafirmen können auch den Test verkaufen, mit dem geprüft wird, ob ihr Mittel beim Patienten überhaupt wirkt.
Besonders stark auf personalisierte Medizin setzt der Pharmariese Roche. Gleich mehrere Arzneien stehen vor der Markteinführung, so Sprecherin Claudia Schmitt. «Solche Medikamente sind nicht einfach teuer, sie helfen, finanzielle Ressourcen der Gesundheitssysteme gezielt einzusetzen.» Zurzeit arbeitet Roche an diversen personalisierten Medikamenten: einem gegen Lungenkrebs, zwei gegen Brustkrebs und einem gegen Hepatitis C. «Auch das Beispiel Hepatitis C zeigt, wie durch personalisierte Therapien Kosten gespart werden können. Aufgrund eines genetischen Tests sehen wir, wie lange ein Patient das Medikament einnehmen muss.» Mittelfristig wird laut Schmitt etwa die Hälfte der Roche-Medikamente als personalisierte Produkte auf den Markt kommen.
Ist es also die Pharmaindustrie selber, die ein Interesse an möglichst vielen Gentests hat? Claudia Schmitt verneint: «Wir haben für unsere Forschung ein Interesse an Patienten. Wir müssen uns mit den Krankheiten auseinandersetzen. Die privaten Gentests, die nur Voraussagen über Krankheitsrisiken umfassen, sind für die Entwicklung von Medikamenten dagegen kaum hilfreich.»
Neue, immer spezifischere Medikamente sind aber nur ein möglicher Kostentreiber für das Gesundheitswesen und für jeden Einzelnen. Wer ein erhöhtes Risiko für eine Krankheit hat oder bei seinen Kindern eine Genschwäche feststellt, wird sich früher oder später Gedanken über präventive Massnahmen machen. Zweifellos werden Therapeuten mit mehr oder weniger sinnvollen Angeboten um das Geld der Betroffenen werben.
Gene werden in Zukunft auch durch den Magen gehen. Denn nicht nur die Pharmaindustrie, sondern auch der Nahrungskonzern Nestlé setzt auf Personalisierung. Seit Anfang Jahr forscht Nestlé in Lausanne nach Nahrungsmitteln, die das Ausbrechen von Krankheiten verhindern sollen. Dafür wird die Wechselwirkung zwischen Erbgut und Nahrung untersucht. Der personalisierte Einkaufszettel ist also nur noch eine Frage der Zeit.
*Name geändert