Vom Junior zum NLA-Handballer, vom Spitzensportler zum Vereinstrainer. Die Sportlerkarriere des 38-jährigen Rolf Haussener ist lückenlos. Der Berner Lehrer liebt Sport, ein Blatt vor den Mund nimmt er deswegen nicht: «Das Problem des sexuellen Missbrauchs wird in den Vereinen unter den Teppich gekehrt, weil man es scheut, sich damit auseinander zu setzen.» Erst wenn etwas passiert sei, setze das grosse Wehklagen ein. Dem dürfe man nicht länger tatenlos zusehen.

Die wenigsten Fälle werden angezeigt
Der Handlungsbedarf ist akut. Die Präventionsfachstelle Mira geht in einer vorsichtigen Schätzung davon aus, dass in der Schweiz jährlich bis zu 5000 Übergriffe auf Kinder und Jugendliche im Sport- und Freizeitbereich begangen werden. Nur die wenigsten Fälle werden zur Anzeige gebracht, noch seltener gelangen sie an die Öffentlichkeit.

So sind denn auch die Vorfälle, die in den letzten Monaten Schlagzeilen machten, nur die Spitze des Eisbergs:

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  • Ein 26-jähriger Trainer des FC Juventus Binningen organisierte in Eigenregie ein Trainingslager in Kroatien, wo er sich an Knaben im Alter von 12 bis 14 Jahren vergangen haben soll.
  • Ein 58-jähriger Trainer des Velo-Moto-Clubs Erstfeld hat zugegeben, an neun ihm anvertrauten Knaben zwischen 8 und 16 Jahren wiederholt sexuelle Handlungen begangen zu haben.
  • Ein 53-jähriger Trainer der LV Horw teilte sich im Trainingslager das Zimmer mit einem jungen Sportler und verging sich während dreier Nächte an ihm.


Der Horwer Fall, der im März mit einer milden Strafe für den Täter vor Gericht abgeschlossen wurde, steht exemplarisch für die Hilflosigkeit der Klubs im Umgang mit der Problematik. Der fragliche Trainer ist ein Wiederholungstäter: Bereits 1995 war er verurteilt worden, weil er bei seinem damaligen Verein, dem Leichtathletik-Club Luzern, Buben ungebührlich «massiert» hatte. In Horw, wo er kurz darauf wieder unterkam, wurde ihm erneut eine Knabengruppe anvertraut – obwohl die Vereinsverantwortlichen über seine Vorgeschichte informiert waren. Kaspar Zemp, der als damaliger Präsident des LC Luzern den Kollegen in Horw den Hinweis gegeben hatte, erinnert sich bitter: «Sie ignorierten die Warnung einfach, zogen sie sogar ins Lächerliche.»

Derartige Abwehrreflexe kennt Rolf Haussener nur zu gut. «Wenn man mit einem Tabu konfrontiert wird, ist es am bequemsten, es zu verharmlosen», sagt der handballspielende Lehrer. Er verfolgt das Thema des sexuellen Missbrauchs, das er ursprünglich für ein Filmprojekt seiner Klasse aufgegriffen hat, seit drei Jahren hartnäckig. Aber erst als Haussener eine überparteiliche Parlamentariergruppe als Lobby einspannte, erreichte er, dass nun – nach anfänglichem Widerstand – auch die höchsten Schweizer Sportbehörden den Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern auf die Traktandenliste gesetzt haben.

Seit Anfang Jahr werden unter der Ägide des Bundesamts für Sport (Baspo) und des Dachverbands Swiss Olympic konkrete Aktionen vorbereitet. Die gross angelegte Kampagne gegen sexuelle Ausbeutung im Sport, die auf Hausseners Initiative entstanden ist, soll ab Herbst umgesetzt werden.

Es werden ungern Fragen gestellt
In Sportklubs finden Menschen mit pädosexuellen Neigungen besonders einfach Kontakt zu Kindern. Die Hierarchie von Trainer und Jugendsportlern schafft Abhängigkeiten, zugleich sorgt der Teamgedanke für enge Verbundenheit. Und in Übungssituationen ist Körperkontakt normal. Hinzu kommt der chronische Trainermangel: Man ist froh um jeden Freiwilligen und will sein Engagement nicht mit unangenehmen Fragen aufs Spiel setzen.

Für Jacqueline Fehr – eine der Politikerinnen, die hinter den Kulissen für die Kampagnenoffensive geweibelt sind – äussert sich in diesem Wegschauen der Kern des Problems. «Die Vereine haben Angst davor, als Schuldige angesehen zu werden», sagt die Zürcher SP-Nationalrätin. «Sexuelle Ausbeutung offen zu thematisieren wird als Makel angesehen. Dabei wäre es ein Zeichen von Qualität.»

Auch Barbara Boucherin, zuständig für die Jugend+Sport-Ausbildung beim Bundesamt für Sport, spürt die Zurückhaltung an der Basis. Die Baspo-Kampagne will deshalb behutsam aufklären, statt die Vereine anzuklagen: «Wir müssen schrittweise und auf breiter Ebene Sensibilisierungsarbeit leisten, damit die Leute an der Front mehr Sicherheit im Umgang mit dem heiklen Thema gewinnen.»

Klubinterne Kontrolle greift schlecht
Das tut Not. Die Realität im Vereinsalltag besteht eher darin, Broschüren zu verteilen oder allenfalls einen Vortrag zum Thema zu organisieren – um es dann abhaken zu können. Das deckt sich mit den Erfahrungen von Urs Hofmann, Leiter der Fachstelle Mira: Er hat bereits 60 Vereine beraten, in denen sich Vorfälle ereignet haben; ganze zwei Klubs haben sich danach durch eine Mitgliedschaft bei Mira dazu bekannt, das heisse Eisen entschlossen anzufassen. «Die ehrenamtlichen Leute in den Vereinen sind mit Arbeit derart zugedeckt, dass sie sich das nicht auch noch aufhalsen möchten», erklärt sich Hofmann das allgemeine Zaudern.

So muss in aller Regel die vereinsinterne Kontrolle genügen. Ein Mittel, um diese zu unterstützen, sind Grundsatzerklärungen, in denen sich Trainer verpflichten, ihre Machtposition den Kindern gegenüber in keiner Weise auszunützen. Ein entsprechendes Angebot des 2001 gegründeten Zürcher Vereins zur Verhinderung sexueller Ausbeutung von Kindern im Sport (Versa) nutzen mittlerweile immerhin 110 Vereine (siehe «Links zum Artikel»). Versa-Präsident Hermann Schumacher sieht in den rechtlich unverbindlichen Ethikerklärungen «einen Beitrag zur Enttabuisierung, aber sicher keine Garantie, dass nichts mehr passieren kann».

Griffigere Instrumente gibt es nicht – auch keine «schwarzen Listen», wie sie seit kurzem die Erziehungsdirektorenkonferenz über verurteilte pädophile Lehrer führt. Die Pläne des Bundesamts für Sport, eine nationale Datenbank mit J+S-Leitern anzulegen, die nach Übergriffen ihre Lizenz abgeben mussten, wurden aus Datenschutzgründen gestoppt. Dass der Sport das Problem allein lösen soll, stösst bei Baspo-Frau Boucherin auf wenig Verständnis: «Solange auf politischer Seite kein Wille da ist, kommen wir nur langsam vorwärts.»

Kaum Schützenhilfe können die juristischen Instanzen bieten. Untersuchungsverfahren gegen Personen, bei denen etwa kinderpornografisches Material gefunden wurde, sind geheim. Nur wenn das öffentliche das private Interesse überwiegt, erfolgt bei erhärtetem Verdacht eine Meldung an den Arbeitgeber oder eben den Verein. Im Kanton Luzern etwa entscheidet darüber Amtsstatthalter Georges Frey. Als «extrem heikel» empfindet er diese Abwägungen: «Es besteht die Gefahr, jemanden ungerechtfertigterweise zu stigmatisieren.»

Mutiger Einsatz kann sich lohnen
Damit das Verdeckte ans Licht kommt, braucht es auch künftig mutige Menschen, die handeln. So wie die letztjährige Prix-Courage-Kandidatin Margrit Pesenti aus Frauenfeld. Sie prangerte so lange die fragwürdigen Praktiken eines renommierten Eislauftrainers an, bis dieser wegen sexueller Handlungen an Kindern zur Rechenschaft gezogen wurde. Zuvor war Pesenti vereinsintern während Jahren «gegen eine Mauer des Abwiegelns und Vertuschens gerannt», wie sie sagt. Jetzt hat sie die späte Genugtuung erfahren, dass ihr Engagement nicht umsonst war: Der Täter hat das Urteil des Thurgauer Obergerichts anerkannt und muss für dreieinhalb Jahre ins Zuchthaus.