Der Alptraum jedes Autofahrers
Bei einem Unfall wird ein Fussgänger schwer verletzt. Der Autofahrer hat nichts falsch gemacht. Trotzdem wird er bestraft. Was das mit einem macht.
aktualisiert am 6. Juni 2017 - 16:23 Uhr
Ein Schatten von links, ein lauter Chlapf. Karl Mosimann (Name geändert) bremst reflexartig und hält an. Er ist auf dem Heimweg, es ist sein erster Arbeitstag nach den Weihnachtsferien. Ein regnerischer Mittwochabend, 2015, es dunkelt bereits, Schnee liegt nicht. Mosimann schlägt mit den Händen aufs Steuer und flucht. «Ich habe einen aufgeladen, oh mein Gott!», durchfährt es ihn. Der 64-jährige kaufmännische Angestellte steigt aus: Tatsächlich, vor ihm liegt ein älterer Mann in einer Blutlache und schreit vor Schmerz, sein rechtes Bein ist merkwürdig abgewinkelt.
«Gestern um zirka 17.30 Uhr ist ein Fussgänger beim Überqueren einer Strasse von einem Auto erfasst und schwer verletzt worden. Der Fussgänger wollte die Strasse auf der Höhe eines Restaurants überqueren. Die Strafverfolgungsbehörden sagten, die Lichtverhältnisse zum Zeitpunkt des Unfalls seien nicht sehr gut gewesen. Zudem befindet sich in diesem Bereich der Strasse kein Fussgängerstreifen.»
Medienmitteilung der Polizei, 8. Januar 2015
Mosimann legt seine Jacke über den Schwerverletzten. Er hält die Hand des Mannes, sagt, Ambulanz und Polizei kämen gleich, redet beruhigend auf ihn ein. Der Verletzte stöhnt, ist aber bei Bewusstsein. Er blutet an Kopf und Beinen. Mosimann schaudert es. Er handelt wie in Trance, kann sich im Nachhinein an keine Details erinnern. «Es kam mir wie Stunden vor, bis der Krankenwagen endlich kam», erzählt er. Tatsächlich waren es sieben Minuten. Es sei ein kleines Wunder, dass der Fussgänger überlebt habe, sagen die Ärzte später. Das Opfer hat fast alles gebrochen, was man brechen kann: Arme, Schulter, Becken, Kiefer, Unterschenkel.
«Beim Zusammenprall erlitt der 67-jährige Fussgänger lebensbedrohliche Verletzungen und wurde vom Rettungsdienst sogleich ins Spital überführt. Über den Zustand des 64-jährigen Lenkers des Personenwagens konnte nichts Genaueres in Erfahrung gebracht werden.»
Als die Polizei eintrifft, führt ein Beamter Mosimann von der Unfallstelle weg und beginnt in einer nahen Scheune sofort mit der Einvernahme. Der später erstellte Situationsplan zeigt, was die Polizisten vorfanden: kaputte Brille, Knochensplitter, Blut und Schleifspuren. Mosimann muss den Rentner mit dem Kotflügel erfasst haben, dann prallte er in die Windschutzscheibe und rutschte die Motorhaube hinunter. Die Scheibe von Karl Mosimanns Geschäftswagen hat ein grosses Loch.
«Was da für Kräfte eingewirkt haben müssen – das kann man sich gar nicht vorstellen», sagt Mosimann. Er sei langsamer als die erlaubten 80 Kilometer pro Stunde gefahren, und dennoch… Zum Glück hatte sein Auto ein ABS-System, das verkürzte den Bremsweg. Die spätere Untersuchung bestätigte, dass er tatsächlich nicht zu schnell unterwegs war. Der Fussgänger war aus dem nahen Restaurant gekommen, wo er einen Kaffee getrunken hatte. Er wollte nach Hause, ins Nachbardorf. Beim Überqueren der Strasse muss er Mosimanns Auto übersehen haben, obwohl die Scheinwerfer an waren.
«Derzeit unklar ist, wie sich der Zusammenstoss genau abgespielt hat, der kriminaltechnische Dienst wurde beigezogen. Die Beweissicherung und die Aufräumarbeiten brachten es mit sich, dass die Strasse bis gestern Abend spät in beiden Fahrtrichtungen komplett gesperrt werden musste. Eine Umleitung wurde eingerichtet. Insgesamt standen rund 25 Personen im Einsatz.»
Mosimann ist «neben den Schuhen». Er muss in ein Röhrchen blasen – null Promille. Zwei Polizisten bringen ihn ins nächste Spital, wo ihm Blut- und Urinproben genommen werden. Am nächsten Tag steht fest: Mosimann hat weder getrunken noch andere Drogen konsumiert. Und doch muss er den Führerschein abgeben, das Auto wird zur kriminaltechnischen Untersuchung eingezogen. Nach einem Monat steht fest: Der Geschäftswagen war in einwandfreiem Zustand. Ein Polizist sagt ihm, Opferhilfe könne er vergessen, er sei ja der Täter. Mosimann empfindet dies als Vorverurteilung, das schmerzt ihn.
Als er am Unfallabend spät nach Hause kommt – sein Sohn fährt ihn –, ist er total aufgewühlt. «So habe ich ihn in 40 Jahren Ehe noch nie gesehen», sagt seine Frau. Mosimann, gross, schlank und sportlich, ist eigentlich ein ruhiger Typ. Doch so etwas geht nicht spurlos an einem vorbei. Er sagt, er habe seit diesem Abend monatelang unter Alpträumen gelitten, immer wieder den Chlapf gehört, das viele Blut vor sich gesehen. «Ich bin jeweils schweissgebadet aufgewacht.» Er habe sich doch an alle Verkehrsregeln gehalten, und dennoch sei so etwas Schlimmes passiert. Er kämpft mit Schuldgefühlen.
Zwei Tage nach dem Unfall möchte Mosimann den schwerverletzten Rentner im Kantonsspital besuchen. Aber nur Angehörige haben Zutritt. Die Frau des Opfers will ihn nicht sehen, Mosimann kann das verstehen. Er gibt der Tochter des Rentners seine Telefonnummer und sagt, sie sollen sich melden, wenn sie doch noch Kontakt wünschten.
Gut zwei Wochen später ist es so weit. Mosimann besucht das Opfer – der Mann liegt immer noch auf der Intensivstation. Seine Gattin und eine Tochter sind bei ihm. «Er hat nicht geklagt, aber es war ihm anzusehen, dass er starke Schmerzen hatte», sagt Mosimann. Dann plötzlich entschuldigt sich der Schwerverletzte bei ihm: «Es tut mir leid, dass ich Ihnen vors Auto gelaufen bin.»
Mosimann ist überrascht und nimmt die Entschuldigung an. Er ist erleichtert, empfindet die Worte als «eine Entlastung von meinen Schuldgefühlen». Schliesslich fühle man sich einfach schuldig, wenn jemand zu Schaden komme, auch wenn man sich nichts vorzuwerfen habe.
Er besucht den Rentner in der monatelangen Reha einige Male, auch mit seiner Frau, die Männer schreiben sich Weihnachtskarten.
Als Mosimann seinen Führerausweis wieder bekommt, setzt er sich sofort ans Steuer und fährt seinen Arbeitsweg ab. «Ich musste mich dieser Herausforderung stellen, sonst hätte ich wohl nie mehr Auto fahren können», meint er. Aber jedes Mal, wenn er an der Unfallstelle vorbeifahre, komme es ihm wieder hoch. Wieso war er genau zu diesem Zeitpunkt dort? Wieso überquerte der Rentner ausgerechnet dann die Strasse? Wieso gibt es dort keinen Fussgängerstreifen? Und: Wieso gilt er als schuldig?
Zehn lange Monate nach dem Unfall bekommt Mosimann den Strafbefehl zugestellt. Er wird wegen «fahrlässiger schwerer Körperverletzung» verurteilt und mit einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 180 Franken bestraft. Das macht 16'200 Franken. Dazu kommt eine Busse von 2000 Franken.
Die Geldstrafe wird aufgeschoben, unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren. Mosimanns Anwalt drängt ihn, den Strafbefehl zu akzeptieren. Die Strafe sei relativ gering angesetzt und hätte viel höher ausfallen können, argumentiert er. Mosimann willigt ein, er ist einfach froh, dass es vorbei ist.
Doch mit der Zeit setzt ihm die Strafe immer mehr zu. Er darf sich zwei Jahre lang keinen einzigen Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz zuschulden kommen lassen – sonst muss er die 16'200 Franken zahlen. Und er hat jetzt einen Strafregistereintrag.
Mosimann ändert seine Gewohnheiten radikal. Obwohl beim Unfall kein Alkohol im Spiel war, trinkt er nie mehr auch nur einen Tropfen, wenn er danach noch fahren muss. Er ist Verkäufer, da sind Mittagessen mit Kunden üblich, der Weisswein dazu auch. Er hält sich zurück, nimmt lieber ein Taxi. Seit er pensioniert ist, fährt er noch weniger Auto. «Es ist wie ein Damoklesschwert, das da über mir hängt», sagt er. Und das, obwohl er schon seit 46 Jahren Auto fährt – unfallfrei bis zu dem verhängnisvollen Abend im Januar 2015.
«Ich bin mir keines Fehlverhaltens bewusst», sagt er. «Dennoch bin ich aus Sicht der Strafbehörden der Schuldige.» Natürlich tue ihm der angefahrene Fussgänger leid. Aber er könne nicht verstehen, warum er bestraft werde für etwas, was jedem Autofahrer passieren könne. «Der gängige Spruch stimmt wohl, dass der Stärkere im Verkehr immer schuld ist.»
Die Zürcher Verkehrspsychologin Jacqueline Bächli-Biétry sagt dazu: «Es ist gut verständlich, dass der Fahrer das als ungerecht empfindet.» Haftungsrechtlich sei es aber so, dass ein Motorfahrzeug eine «Betriebsgefahr» darstelle und per se als gefährlich beurteilt werde. «Deshalb ist der Fahrer eines Autos immer haftbar, wenn ein Fussgänger verletzt wird, auch wenn er eigentlich nichts falsch gemacht hat.» Dieser Grundsatz ist im Strassenverkehrsgesetz festgehalten. Der Halter haftet für den Schaden gegenüber einem schwächeren Verkehrsteilnehmer, auch ohne Verschulden.
Karl Mosimann fühlt sich dennoch unfair behandelt von den Behörden. Im Nachhinein findet er, dass er hätte kämpfen sollen gegen das bedingte Urteil, Berufung einlegen. «Es kann doch nicht sein, dass der Autofahrer immer schuld ist», sagt er.
Mosimann bleibt nichts anderes übrig, als auf das Ende der Probezeit zu warten – diesen November wird es so weit sein. «So eine Geschichte prägt einen schon», sagt er, «das vergeht wohl nicht ganz.»
3 Kommentare
Liebe Beobachters, ich bin bekennender Gegner der "neuen" deutschen Rschtschreibung. Aber: "Alptraum" heist, von einer Alp zu träumen. Bitte nehmt als letzte deutsch publizierende Zeitschrift zur Kenntniss, dass es ALBtraum heisst. Danke. Alternativ nehme ich natürlich eine Erklärung gerne entgegen. Freundliche Grüsse